Das Gericht der guten Gesinnung

oder: Wie man mit einem Urteil den Nationalstaat abschafft

Man muss es den Pariser Richtern lassen: Sie haben einen Coup gelandet, der selbst den wohlmeinendsten Weltbürgeraktivisten die Tränen der Rührung in die Lieder treibt. Nicht nur, weil sie kurz vor dem 14. Juli – also jenem Tag, an dem die Franzosen traditionell Kanonendonner, Marschmusik und republikanische Selbstvergewisserung feiern – ein Stück Asylrechtshistorie geschrieben haben, das sich gewaschen hat. Sondern weil sie es geschafft haben, das Konzept politischer Verfolgung in ein Delirium postnationaler Entrückung zu katapultieren. Die Klägerin, nennen wir sie Madame H., stammt aus Gaza. Das ist jener Landstrich, der zwischen israelischer Blockade, ägyptischem Misstrauen und interner Hamas-Gewaltherrschaft vor sich hinvegetiert – ein Ort, an dem der Alltag selbst dem Stoiker das Rückgrat brechen könnte. Aber das reicht natürlich noch nicht für Asyl in Paris. Man muss schon einen Haken schlagen, einen eleganten, juristischen Pirouettensprung hinlegen, um aus dieser trostlosen Realität ein urfranzösisches Menschenrechtsdrama zu machen.

Und das haben die Richter getan. Sie erklärten, dass Madame H. „zu Recht befürchten“ müsse, im Falle ihrer Rückkehr „von den israelischen Streitkräften persönlich verfolgt zu werden“. Persönlich, wohlgemerkt. Nicht etwa, weil sie Hamas-Kommandeurin wäre, oder Raketen auf Aschkelon abgefeuert hätte – nein, sondern weil sie palästinensisch ist. Ihre Nationalität reicht aus. Voilà! Der Gazaoui ist geboren, ein neues Volk erfunden, das jetzt offiziell Verfolgtenstatus genießt. So wie einst der Tutsi, der Harki oder der Boat People – nur diesmal geht es um jemanden, der möglicherweise beim israelischen Sicherheitscheck unangenehm angeschaut wird. Die französische Justiz schafft damit, was kein UN-Gremium bislang gewagt hat: Sie definiert Israel zum systematischen Verfolger des palästinensischen Kollektivs um, gleichsam qua Existenz. Und das, ohne auch nur einmal in Jerusalem anzurufen.

Das Märchen vom unpolitischen Schutzbefohlenen

Natürlich sagte Madame H. selbst, sie habe mit der Hamas nichts am Hut. Das ist ein gängiger Satz vor europäischen Asylgerichten – wie auch der Hinweis, dass der Ehemann für ein israelisches Unternehmen arbeitet, während die restliche Kinderschar weiter im „offenen Luftgefängnis“ Gaza verbleibt. Offenbar ist es nicht gefährlich genug für den Familienvater, der bei einer israelischen Baufirma im Westjordanland schuftet. Auch nicht für die sechs anderen Kinder, die weiterhin im Nahen Osten leben. Aber weil Madame H. mit einem Sohn den Weg nach Paris gefunden hat, wird dort ein Präzedenzfall geschaffen, der über das Einzelschicksal hinausweist.

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Die französischen Richter denken nicht klein. Sie denken groß, global, gewissermaßen galaktisch. Ihr Urteil ist ein Schlag gegen die Trennung von Zivilist und Terrorist, ein Schlag gegen die Idee des Nationalstaats selbst. Es zählt nicht mehr, wer etwas tut, sondern was er ist. Die Nationalität wird zur Schuld, der Pass zum Schicksal. Das ist die Umkehrung aller Aufklärung – Identität ersetzt Handlung. Die Richtersprüche klingen dabei so zärtlich, so menschenfreundlich, dass niemand merkt, wie radikal sie sind. Die Erfindung des „Gazaoui“ ist die logische Fortsetzung einer Asylpolitik, die längst keine Einzelfälle mehr beurteilt, sondern das Elend der Welt nach Europa importiert – zum Wohle des Selbstbilds, versteht sich.

Kettenmigration als schleichender Staatsumbau

Doch hier geht es nicht nur um das Urteil selbst, sondern um dessen Wirkungsketten. Wer einmal als Verfolgter anerkannt ist, zieht nach und nach den Rest der Familie hinter sich her. Der Begriff „Ankerkinder“ wirkt da schon fast niedlich – es ist eher eine Art juristischer Trojaner, der im Innern der Republik ein völlig neues Einwanderungsrecht etabliert. Erst kommt der Asylbescheid, dann die Nachholung, dann das Dauerbleiberecht. Und alle können sich darauf berufen, dass sie eines Tages womöglich „mit Hamas-Terroristen verwechselt“ werden könnten. Eine Form der Verfolgung, die nur noch ein bisschen von der Paranoia entfernt ist – aber Paranoia reicht ja oft, um politische Wirklichkeit zu schaffen.

Währenddessen streiten sich Islamabad und Berlin darüber, wie man die 2.400 Afghanen, denen Deutschland eine Einreisezusage gegeben hat, endlich nach Mitteleuropa schafft. Pakistan will sie loswerden, Deutschland will sie aufnehmen, und am Ende wundert sich niemand, dass die Grenzen zwischen Flucht, Migration und geopolitischem Verschiebebahnhof immer weiter verschwimmen. Der globale Süden entledigt sich seiner Überbevölkerung, der Westen seiner schlechten Gewissen. Und im Hintergrund klatschen die wohlmeinenden Beobachter Beifall, weil sie glauben, die Welt werde dadurch gerechter.

Die Abschaffung der Verantwortung

Man muss den Richtern zugutehalten, dass sie konsequent sind. Sie handeln nach einer Logik, die sich seit Jahren in den Köpfen der politischen Klasse festgesetzt hat: Einzelfälle sind nie nur Einzelfälle, sondern symbolische Stellvertreter globaler Ungerechtigkeit. Der Palästinenser steht für den Unterdrückten schlechthin, der syrische Flüchtling für das Opfer des Westens, der afghanische Ortskraftnachkomme für die Schuld des Kolonialismus. Dass diese Logik zu absurden Widersprüchen führt – geschenkt. Dass Israel einerseits als Apartheidsstaat gebrandmarkt wird, andererseits aber Millionen arabische Bürger hat, die in der Knesset sitzen, Universitäten besuchen und Sozialhilfe beziehen – Detailfrage. Dass die angeblich Verfolgten oft bessere Überlebensstrategien als die Verfolgten von früher haben – Kollateralschaden.

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In Wahrheit geht es längst nicht mehr um Schutz. Es geht um einen moralischen Freibrief für jene, die den Weltlauf verändern wollen, ohne die Kosten zu tragen. Das Asylrecht wird so zur postkolonialen Wiedergutmachungsmaschine, zur großen Umverteilung von Staatsbürgerrechten. Die Grenze wird zum Relikt, das nationale Gemeinwesen zur Bühne moralischer Selbsterhebung. Und der Rechtsstaat dient als Staffage, damit das Ganze nicht wie politischer Aktivismus wirkt, sondern wie ein Akt der Gerechtigkeit.

Fazit: Die Richter als Erlöser der Welt – oder als Totengräber der Republik?

Vielleicht sollte man sich gar nicht mehr aufregen. Vielleicht sollte man anerkennen, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem das Wohlwollen wichtiger ist als die Wirklichkeit, die Gesinnung mehr zählt als das Gesetz, und der Einzelfall immer sofort das ganze System umwerfen darf. Madame H. ist nicht mehr nur eine Palästinenserin aus Gaza. Sie ist eine Ikone, ein Fall fürs Panoptikum der moralischen Weltordnung. Ihr Urteil wird Kreise ziehen, so wie einst der Stein im Wasser. Nur dass diese Kreise nicht im See versickern, sondern als Wellen der Umwälzung gegen das Fundament des Rechtsstaats schlagen.

Ob das den Richtern klar war? Vielleicht nicht. Vielleicht haben sie einfach nur gut sein wollen. Vielleicht haben sie geglaubt, sie würden helfen. Vielleicht lächeln sie heute zufrieden beim Frühstückscroissant und denken an Montesquieu. Oder an Voltaire. Aber sie sind keine Aufklärer, sie sind Erlösungsrichter geworden, Missionare einer neuen Weltordnung, in der der Nationalstaat keine Rolle mehr spielt. Die Republik wird zur Asylbehörde, die Welt wird zur globalen Schicksalsgemeinschaft, und Europa zahlt die Zeche.

Das alles klingt böse? Mag sein. Aber es ist nur die Beschreibung dessen, was gerade passiert. Man muss es ja nicht schön finden. Man kann auch lachen. Oder weinen. Oder beides.

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