Das Ende der Federnfreiheit

Es war einmal in Rostock, einer kleinen, beschaulichen Hansestadt, die sich – wie ganz Deutschland – in jenen seltsamen Zustand zwischen Verunsicherung und Tugendterror hineinschlafwandelt, den man wohl euphemistisch als „gesellschaftlichen Diskurs“ bezeichnen möchte. Dort, in der Kita „Fischbank“, planten einige Kinder eine Party. Eine Feier, nichts weiter. Ausgelassen sollte sie sein, mit Spiel, Spaß und eben jenem Thema, das Kinder seit Jahrzehnten begeistert: „Indianer“. Das Wort allein genügt heute freilich schon, um empfindsame Seelen in Schnappatmung zu versetzen und Erwachsene in hysterische Diskussionszirkel zu stürzen, als handele es sich um den Startknopf für den dritten Weltkrieg.

So kam es, wie es kommen musste: Ein Vater erhob Einspruch. Nicht etwa gegen den Zuckergehalt des Partygebäcks oder die CO₂-Bilanz der Luftballons – das wäre zu banal gewesen. Nein, er protestierte gegen den Begriff „Indianer“. Dieses Wort, so lautet die neue Glaubensdoktrin, sei ein Relikt kolonialer Gewalt, ein rassistisches Unwort, das Kindern nicht zugemutet werden dürfe. Dass die Kinder es sich selbst gewünscht hatten? Geschenkt. Die Moral ist schließlich kein Wunschkonzert, sondern eine pädagogische Maßregelungsanstalt mit geregeltem Einlass.

Der moralische Imperativ der Kostümkontrolle

Es sei den Kindern nicht zuzumuten, sagt man, dass sie sich „als Indianer verkleiden“. Federschmuck, Marterpfahl, Pfeil und Bogen – alles Symbole kultureller Gewalt, kolonialer Klischees, mit denen der westliche Blick angeblich den edlen Wilden in den Schmutz zieht. Dass besagte Kinder mit all dem Kram nicht den Kolonialismus reenacten, sondern schlicht spielen wollen – wurscht. Dass sie Cowboys genauso gerne spielen – Kollateralschaden. Dass sie ohnehin in ihrem kindlichen Geist in erster Linie sich selbst darstellen, in bunten Kostümen und wildem Durcheinander, frei von ideologischen Fallstricken – irrelevant.

Die Alternative? Ponys und Pferde. Das ist politisch sicher, denn Pferde haben bekanntlich keine Vertretung im Antidiskriminierungsrat. Pferde äußern keine Einwände, wenn man ihnen eine Satteldecke überwirft, sie in Glitzerlack pinselt oder auf ihren Rücken das neueste Einhorn-Merchandise drapiert. Keine Lobby, keine Klage. Tiere sind die besseren Minderheiten – still, duldsam, medienuntauglich.

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So schwenkte die Kita „Fischbank“ also kurzerhand um: Statt Federn im Haar gab es Hufe auf der Stirn. Statt Pfeil und Bogen durfte der Nachwuchs an diesem Donnerstag das Ponyreiten zelebrieren, vermutlich unter den wachsamen Augen eines zertifizierten Diversity-Beauftragten, der sicherstellte, dass kein Steckenpferd sich versehentlich wie ein Mustang anfühlte.

Die Infantilisierung der Debatte

Die Frage ist längst nicht mehr, ob das Wort „Indianer“ als Begriff „korrekt“ ist – sie lautet: Warum traut man den Kindern nicht mehr zu, zwischen spielerischem Rollenspiel und realer Unterdrückung zu unterscheiden? Ist es wirklich denkbar, dass ein fünfjähriges Mädchen, das sich einen Stirnreif mit Pappfedern bastelt, einen Beitrag zur kolonialen Gewaltgeschichte leistet? Oder ist es eher so, dass wir Erwachsenen nicht mehr in der Lage sind, zwischen Kontext und Inhalt zu unterscheiden?

Die kindliche Phantasie kennt keine Cancel Culture. Ein Kind spielt Indianer aus Bewunderung, nicht aus Geringschätzung. Das weiß jeder, der jemals einem Kind beim Spielen zugesehen hat. Aber in der postmodernen Überwachungswelt der moralischen Reinheitsgebote wird aus kindlicher Neugier ein Fall fürs Sittengericht. Das linke Milieu, das früher einmal stolz auf seine Toleranz pochte, kultiviert heute einen Überempfindlichkeitskult, der sich nur noch selbst übertrifft, indem er immer neue Formen der Empörung entdeckt. Wer das Spiel mit dem Federschmuck als rassistische Tat deklariert, produziert keine gerechtere Welt – er erzieht Kinder zu kleinen Zensoren ihrer selbst.

Die Spaltung der Gesellschaft als pädagogischer Nebenjob

Es wäre mir neu – und da bin ich wahrscheinlich nicht allein –, dass die indigenen Völker Nordamerikas in Gruppenbesprechungen zusammenkommen, um zu beschließen: „Die Kinder in Rostock müssen aufhören, Indianer zu spielen!“ Vielmehr ist das ein moralisches Hobbyprojekt westlicher Aktivisten, die offenbar den dringenden Wunsch verspüren, ihren eigenen Schuldkomplex auf dem Rücken der Kindergartenpädagogik abzutragen. Der sogenannte „antirassistische Diskurs“ wird hier zur Ersatzreligion, in der das Bußritual wichtiger ist als die tatsächliche Realität.

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Die eigentliche Herabwürdigung besteht darin, den Menschen jenseits des Atlantiks das Recht abzusprechen, selbst zu entscheiden, worüber sie sich ärgern wollen. Stattdessen werden sie paternalistisch als Opfer in Geiselhaft genommen, um den deutschen Moralhaushalt zu entlasten. Das hat, ironischerweise, kolonialistische Züge: Der deutsche Aktivist weiß besser als der Lakota, der Cherokee oder der Blackfoot, was für diese gut ist.

So trägt der Überkorrekte – nebenbei und wahrscheinlich ungewollt – aktiv zur Spaltung der Gesellschaft bei. Während die einen im Namen der Gerechtigkeit das Federspiel verbieten, rollen die anderen die Augen und wählen beim nächsten Mal eine Partei, die verspricht, endlich wieder „normale Kindergeburtstage“ zuzulassen. Die Fronten verhärten sich, und zwischen Pferdeparty und Ponydiktat bleibt das Kind auf der Strecke.

Das letzte Wort der Vernunft (nur hört keiner mehr hin)

Die „Indianer“-Party in der Kita „Fischbank“ ist nicht bloß eine Petitesse des Alltags. Sie ist ein Symptom. Ein Symbol dafür, dass wir uns in eine Gesellschaft verwandeln, in der der moralische Überbietungswettbewerb längst den Kontakt zum Alltagsverstand verloren hat.

Es ist nicht böse, wenn Kinder Indianer spielen. Es ist nicht rassistisch, wenn ein Kind einen Kopfschmuck aus Bastelpapier trägt. Und es ist kein Fortschritt, wenn wir den Jüngsten das freie Spiel verbieten, weil wir Erwachsenen uns in ideologischen Selbstgesprächen verheddern.

Stattdessen könnten wir – radikaler Vorschlag – den Kindern das eigene Urteil zutrauen. Wir könnten ihnen erklären, wie echte Kulturen respektiert werden, ohne den spielerischen Blick auf die Welt zu verbieten. Und vielleicht könnten wir uns selbst daran erinnern, wie es war, als wir noch mit Kostümen und Fantasie durch den Garten tobten, statt mit Zwergenmaßstäben den Alltag zu regulieren.

Doch das wäre vermutlich zu einfach. Da reitet man doch lieber auf Ponys. Politisch korrekt, selbstverständlich. Ohne Federschmuck. Dafür mit Maulkorb.

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