Der sanfte Irrtum der Naiven

Bis vor kurzem dachte ich noch, wir werden von Idioten regiert. Ich muss mich korrigieren. Wir werden von skrupellosen Wahnsinnigen regiert.

Lange Zeit lebte ich in jenem behaglichen Irrtum, der den kritischen Zeitgenossen sanft umschmeichelt wie die schützende Umarmung einer bröckelnden Mutterbrust: Die da oben wissen es einfach nicht besser. Ach, hätten sie nur ein paar Bücher gelesen, ein wenig Grips in den hohlen Köpfen, ein bisschen moralische Integrität zwischen den Lenden – wir alle lebten in einer wohltemperierten Demokratie, in der Rationalität und Gemeinwohl gemeinsam im Sonnenstuhl lümmeln. Der dumme Politiker als tragikomische Figur, ein Clown mit Kravatte, der sich rührend müht, aber eben nicht ganz mit den besten Waffen des Geistes ausgestattet ist. Man könnte fast Mitleid haben.

Aber was, wenn sie gar nicht dumm sind? Was, wenn die Unfähigkeit, die wir ihnen so gönnerhaft attestieren, in Wahrheit der perfekte Vorwand ist, um nicht von ihrem wahren Charakter abzulenken? Der Idiot kann wenigstens noch bedauert werden. Der Wahnsinnige hingegen verfolgt einen Plan.

Die neue Avantgarde der Kaltblütigen

Die politischen Eliten unserer Zeit sind keine Trottel, sie sind strategische Nihilisten. Ihnen fehlt nicht die Intelligenz, ihnen fehlt der moralische Kompass – und das ist kein Defekt, sondern eine bewusste Entscheidung. In einer Welt, die sich längst von der Vorstellung verabschiedet hat, dass Wahrheit, Anstand oder gar Gemeinsinn irgendeine Rolle spielen könnten, regiert nicht mehr der kluge Pragmatiker oder der visionäre Reformer. Nein, das Zeitalter gehört den eiskalten Soziopathen mit PowerPoint-Folien.

Das sieht man an der rhetorischen Architektur ihrer Lügen: Jeder Satz sorgfältig so formuliert, dass er nur gerade genug Wahrheit enthält, um den naiven Beobachter zu betören, während die eigentliche Botschaft sich in einem Nebel aus PR-Sprech und pseudointellektueller Floskelästhetik verflüchtigt. Es sind die Tonalitäten der Verachtung, in denen diese Leute kommunizieren: Das gönnerhafte Lächeln eines Pressesprechers, der gerade zum 38. Mal erklärt, warum Milliarden für Waffenlieferungen alternativlos sind, während die Rentnerin sich am Pfandautomaten die monatliche Proteinration zusammensammelt.

Die große Simulation

Die westliche Demokratie, so wie sie sich uns heute darbietet, ist eine täuschend echt simulierte Ruine. Die Fassaden stehen noch, aber dahinter wuchert der Pilz des autoritären Kontrollstaats. Alles wird öffentlich verhandelt, aber nichts wird entschieden. Wahlkämpfe sind Werbekampagnen ohne Produkt. Parlamente sind Theaterbühnen, auf denen die Abgeordneten mit jener stoischen Würde das Nichts beschließen, als handle es sich um metaphysische Offenbarungen.

Die Inszenierung ist perfekt: Die Zeitungen veröffentlichen pflichtschuldigst die Debattenprotokolle, die Talkshows veranstalten ihre rituellen Empörungskabarette, und das Wahlvolk bekommt pünktlich alle vier Jahre einen feuchten Stimmzettel in die Hand gedrückt – eine sakrale Geste, die uns glauben machen soll, wir hätten an diesem Spektakel tatsächlich Anteil.

Zynismus als Bürgerpflicht

Was bleibt dem denkenden Menschen da noch übrig, außer in gepflegten Zynismus zu verfallen? Vielleicht sollten wir nicht mehr in Protest, sondern in Parodie machen. Wählen gehen als Akt der ironischen Selbstbeschmutzung, Steuern zahlen als kabarettistischer Beitrag zur globalen Geldwäsche, Medien konsumieren als avantgardistische Performance des freiwilligen Verblödens.

Vielleicht ist der Zyniker heute der letzte wahrhaft freie Bürger: einer, der sich an der Absurdität des Systems ergötzt, ohne sich noch einzubilden, er könnte es verändern. Denn wer noch ernsthaft hofft, die Wahnsinnigen mit Argumenten bekehren zu können, gleicht dem Mann, der dem hungrigen Wolf das vegetarische Menü empfiehlt.

Die hohe Kunst des gepflegten Untergangs

Es bleibt uns also nur die noble Aufgabe, unseren eigenen Untergang mit Stil zu inszenieren. Wenn wir schon untergehen, dann bitte mit einem Whiskyglas in der Hand und einem sardonischen Grinsen auf den Lippen. Lassen wir uns nicht mehr täuschen von der Illusion, dass diese Welt noch in irgendeinem rationalen Sinn zu retten sei. Der Zug ist abgefahren, das Bordbistro serviert lauwarmen Champagner, und im Führerstand sitzen keine Idioten.

Es sind Wahnsinnige.

Aber sie wissen genau, was sie tun.

Mir kommen die Tränen!

Keir Starmer bei der Ramadan-Iftar-Veranstaltung im britischen Parlament: „Ich weiß, dass dies eine sehr schwierige Zeit für die Muslime im Vereinigten Königreich war, mit dem Schmerz des Konflikts in Gaza und dem Leiden der Palästinenser.“

Ah, die erhabene Kunst des Politischen Sprechens. Ein Akt der Diplomatie, bei dem keine Worte zu zufällig gewählt sind, jeder Satz wie ein Kunstwerk, das in seiner Ambiguität und Zweideutigkeit genauso viel abverlangt wie es verspricht: ein wahres Meisterwerk der Vermeidung und gleichzeitigen Absichtserklärung. Und so steht er da, der ehrenwerte Keir Starmer, der Mann, der sich stets als Architekt des „Neuen Labour“ versteht, als heiliges Bollwerk gegen die Geister der Vergangenheit, der nur zu gerne seine progressive Agenda ausrollt und dabei den Stempel des Kritikers des Antisemitismus trägt. Und dennoch – inmitten seiner Rede bei der Ramadan-Iftar-Veranstaltung im britischen Parlament – gelingt ihm etwas, das uns alle, die wir ein wenig mehr politisches Bewusstsein zu hegen wagen, mit ehrlicher Verwirrung und ungläubigem Staunen zurücklässt.

„Sehr schwierige Zeit für die Muslime im Vereinigten Königreich“?

Es ist kein Witz, was Keir Starmer da in den Raum wirft, aber irgendwie könnte man es fast für einen halten. Eine Aussage, die so wohldosiert und dennoch so unklar ist, dass sie fast wie ein schlecht inszenierter Comedy-Auftritt wirkt. Da spricht er, der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, mit einer Haltung, die uns glauben machen will, er sei der sprachliche Übersetzer des tiefen Leids der Muslime im Vereinigten Königreich. Und damit nicht genug – er stellt das Ganze noch auf eine Stufe mit dem „Schmerz des Konflikts in Gaza“ und dem „Leiden der Palästinenser“. Ah, jetzt wird alles klar! Es ist das alte, bewährte Rezept der politischen Manipulation, das sich nahtlos in die Tradition einer gewissen Art von britischer Diplomatie einreiht – eine Diplomatie, die nichts anderes zu tun hat, als zu verschleiern und zu beruhigen, anstatt echte, messbare Konsequenzen zu ziehen.

Aber Moment mal: Wie genau kann eine solche Aussage von Starmer als so bedeutend oder gar so tiefgründig gelten, wenn sie gerade jene Spaltung zu fördern scheint, die in seiner eigenen Partei seit Jahren brodelt? Denn während er sich als Fürsprecher für Muslime im Vereinigten Königreich präsentiert, bleibt eine Frage in der Luft hängen: Sind das wirklich die Muslime, von denen er spricht? Oder spricht er vielmehr für eine Ideologie, die sich eine vermeintliche „opferzentrierte“ Identität zueignet, die es ihm ermöglicht, sich ein Stück der moralischen Decke über seine eigene politische Agenda zu ziehen?

Antisemitismus à la Corbyn?

Ah, ja, da kommt sie wieder, die alte Geschichte des Antisemitismus innerhalb der Labour Party. Es ist fast ein ironisches Schauspiel, das immer wieder auflebt: Während Starmer seine Partei von den Flügeln des „Corbynismus“ zu befreien versucht – einer Ära, die von Vorwürfen des Antisemitismus begleitet war – scheint der Schatten von Corbyn noch immer über den Hallen von Labour zu hängen. Und so lesen wir seine Worte nicht ohne eine gewisse, eher zynische Brille. Was bedeutet es, wenn ein politischer Führer in einem so kritischen Moment des geopolitischen Konflikts auf Gaza und Palästina verweist und sich dabei den Eindruck zu erwecken versucht, er würde die muslimische Gemeinschaft in Großbritannien nicht nur in den Mittelpunkt seiner politischen Überlegungen rücken, sondern sie auch als Opfer stilisieren? Ist es nicht genau die Art von Rhetorik, die viele seiner Kritiker als „unreflektierte Solidarität“ und nicht als einen ernsthaften politischen Diskurs bezeichnen würden?

Vielleicht sollte er sich fragen: Inwieweit ist es wirklich eine „sehr schwierige Zeit“ für die Muslime im Vereinigten Königreich? Sollen wir annehmen, dass Muslime in Großbritannien kollektiv und einheitlich in einer schweren Krise stecken, die ausschließlich von den dramatischen Entwicklungen in Gaza abhängt? Aber was ist mit den anderen Gemeinschaften, den anderen Minderheiten, den anderen betroffenen Bevölkerungsgruppen im Land? Haben sie keine „schwierige Zeit“? Haben die jenen, die unter dem Brexit leiden, die Armen, die Obdachlosen, die Arbeitslosen oder die viel zu vielen Menschen, die unter der britischen Regierung der letzten Jahre zu leiden hatten, nicht auch ihre eigenen Ängste und Nöte, die durch politische Fehlentscheidungen und gesellschaftliche Apathie genährt werden?

Ein verschwörerisches Spiel mit den Wahrheiten

Was Starmer mit seinem Satz in Wahrheit anstrebt, ist ein wahres Meisterstück der politischen Opportunität. In einer Zeit, in der der Konflikt in Gaza erneut alle Schlagzeilen dominiert und die westliche Welt in ihrer Unfähigkeit, den alten Konflikt zu lösen, zunehmend in Resignation verfällt, stellt sich der Labour-Chef als der „besorgte Vater“ einer Gemeinschaft dar, die in seiner Darstellung ständig mit den gewaltigen Belastungen eines nicht enden wollenden Konflikts zu kämpfen hat. Doch anstatt den politischen Finger auf die wahren Ursachen dieses Konflikts zu richten oder gar auf die strukturellen Probleme hinzuweisen, die die westliche Außenpolitik über Jahrzehnten hinweg befeuert hat, gibt er sich dem Spiel der Vereinfachung hin. Einem Spiel, das das Leid der Palästinenser und die Herausforderungen der Muslime in Großbritannien auf eine Weise verknüpft, die weder eine Lösung anbietet noch wirklich weiterführt.

Keir Starmer macht es sich leicht, indem er mit der „schwierigen Zeit“ und dem „Leiden“ der Palästinenser in Gaza ein Zitat wie ein magisches Mantra über den Raum schwenkt. Und was bleibt am Ende? Eine hohle Geste, die weder konkrete politische Forderungen stellt noch den Mut hat, sich wirklich mit den komplizierten Fragen auseinanderzusetzen, die der Nahost-Konflikt aufwirft. Der eigentliche Witz ist, dass er dies tut, ohne jemals in den Spiegel zu blicken und sich zu fragen, ob sein eigenes Handeln, seine eigene politische Agenda nicht oft genug an der „schwierigen Zeit“ vieler anderer Menschen in Großbritannien vorbeigeht.

Der Pomp und die Phrasen

Es ist schon fast tragikomisch, wie sehr die große politische Bühne oft in den Nebel der Phrasendrescherei und der scheinbar tiefgründigen Aussagen abtaucht. Diese Kunst des Sprechens, die uns glauben machen will, dass Worte allein die Welt verändern können – und das oft mit einer solchen Raffinesse, dass wir uns in den fein gesponnenen Netzen der Bedeutung verlieren. Keir Starmer, der in dieser Hinsicht genauso brillant agiert wie ein Jongleur in einem Zirkus, entblößt sich doch immer wieder als jemand, der in seinen „moralischen“ Erklärungen ebenso sehr die Augen vor den realen politischen und gesellschaftlichen Problemen verschließt. Und so bleibt am Ende nur eines: der Zynismus. Der Zynismus, dass in all der Rhetorik und den schönen Worten der eigentliche Sinn von Politik – die Sorge um das Wohl der Menschen, die Verantwortung für die Gemeinschaft und die Bereitschaft, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen – für immer weiter verloren geht.

Die Orchester spielen noch

Wohin steuert die Titanic Europa?

Es gibt Bilder, die sich mit der Zeit aus der Historie in die Köpfe einbrennen, bis sie von reiner Erinnerung zu universalem Symbol mutieren. Die Titanic, im Mondlicht aufschäumend, kurz vor dem unvermeidlichen Kuss mit dem Eisberg, gehört zweifelsohne dazu. Ein Bild, das den Hybris des Fortschritts, die fragile Überheblichkeit menschlicher Ingenieurskunst und den blinden Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit in einem einzigen stählern glänzenden Denkmal verdichtet. Und während im Maschinenraum des alten Europas längst Wasser in die Kessel schwappt, klammern sich die Deckpassagiere an den letzten Champagnerkelch der liberalen Illusionen. Die Orchester spielen noch, und sei es nur, um die Schreie zu übertönen.

Wer hat den Kapitän gewählt?

Die Frage nach der Verantwortlichkeit stellt sich in der europäischen Tragödie stets mit einer gewissen Verspätung – und wird bevorzugt in möglichst verschlungenen Passivsätzen beantwortet. Man „habe“ den Kurs eingeschlagen, es „seien“ Entscheidungen getroffen worden, der Markt „verlange“ Maßnahmen. Die politische Klasse, jene unsichtbare Schar an Steuermännern im dunklen Maschinenraum, versteht es meisterhaft, sich als Getriebene zu inszenieren, während sie die Ruder selbst in Händen hält. Wer aber hat diesen unsichtbaren Kapitänen je ein Mandat erteilt? Wer hat Ursula von der Leyen, Christine Lagarde oder Olaf Scholz – die europäischen Piloten des Selbstverständlichen – je direkt an die Kommandobrücke gewählt? Der Passagier der Holzklasse findet sich vor der bitteren Erkenntnis wieder: Demokratie, so scheint es, ist das Recht, alle vier Jahre zwischen mehreren Spielarten der Ohnmacht zu wählen.

Der unsichtbare Eisberg namens System

Gewiss, wer allzu penetrant auf die Schattenseiten des Systems hinweist, wird schnell als Verschwörungstheoretiker disqualifiziert – ein Wort, das sich der europäische Diskurs in den letzten Jahren mit einer bedenklichen Gier einverleibt hat. Doch die eigentliche Verschwörung geschieht ganz ohne Geheimlogen oder Rauchersalons. Sie heißt „Sachzwang“, „Marktkonformität“ und „Alternativlosigkeit“. Der Eisberg ist kein Zufallsprodukt, sondern eine geopolitisch-ökonomische Notwendigkeit, die auf dem Schiffsmanifest von Anfang an mitgeführt wurde. Niemand hat den Eisberg gewählt – aber er ist die unvermeidliche Konsequenz eines Kursbuchs, dessen Seiten von Banken, Konzernen und Think Tanks mit sanfter Hand geschrieben wurden.

Der Untergang als choreografierte Inszenierung

Natürlich wird auch dieser Untergang kein plötzlicher Knall sein, sondern ein wohldosierter, in Brüsseler Arbeitsgruppen präzise vorgedachter Abstiegsprozess. Es wird Rettungspakete geben, Gipfelbeschlüsse, Stabilitätsmechanismen, Green Deals, digitale Zentralbankwährungen und eine lückenlose Überwachung zur Wahrung der Freiheit. Jede neue Katastrophe wird mit der Präzision eines Opernlibrettos inszeniert, jedes Härtefall-Programm als Akt der Humanität gefeiert, während der Wasserpegel in den unteren Decks stetig steigt. Das Personal von EU-Kommission, EZB und Weltwirtschaftsforum hat sich längst mit dem Untergang arrangiert – man plant nur noch die Eleganz des finalen Aufpralls.

Ironie als letzte Rettungsweste

Und was bleibt dem Passagier, der sein Ticket zur Post-Demokratie wider Willen gelöst hat? Die Hoffnung auf Rettungsboote? Die wurden längst in den ersten Klassen verstaut. Die Option, sich an der nächsten Wahlurne ein besseres Schicksal zu erhoffen? Ein mildes Lächeln. Es bleibt nur die Ironie – diese dünne, zynische Rettungsweste, die in der Lage ist, den Untergang wenigstens mit einem Anflug von Würde zu begleiten. Der europäische Geist, der sich Jahrhunderte lang in Aufklärung, Kritik und Humanismus erschöpfte, wird seine letzte Reinkarnation wohl als bitter lachender Clown erleben.

Die Hoffnung stirbt synchron mit der Batterie des Blackbox-Rekorders

Vielleicht, wenn die Trümmer des alten Kontinents längst von den Wellen verschlungen sind, wird sich eine neue Besatzung an den Wiederaufbau wagen. Vielleicht wird man die Blackbox bergen und die letzten Funksprüche auswerten. Und vielleicht wird sich dann in einem vergilbten Datenstrom ein lakonischer Kommentar aus der Holzklasse wiederfinden: „Wir haben es doch gewusst – aber das Orchester spielte so schön.“

Der Mythos vom Sparstrumpf der Nation

Ein Sondervermögen namens Märchenstunde

Wenn Politiker*innen in jenen seltenen Momenten, da sie nicht in Mikrofone säuseln, sondern zu ihrer eigentlichen Berufung zurückkehren – der Erfindung von Euphemismen –, ein Wort wie Sondervermögen in die Welt setzen, dann geschieht dies nicht zufällig, sondern mit der filigranen Kalkulation eines Uhrmachers. Der Begriff trägt in sich bereits die halbe Propaganda: Vermögen klingt nach Besitz, nach Goldbarren im Tresor, nach Omas wertvollem Porzellanservice, das man für schlechte Zeiten unter dem Bett hortet. Wer wollte schon etwas gegen Vermögen haben? Und sonder- ist der keusche Schleier, der das profane Geld mit einer Aura von Seriosität umhüllt. Ein Sondervermögen könnte auch ein mysteriöser, nur Eingeweihten zugänglicher Fonds sein, in den sich, völlig überraschend, die ungenutzten Milliarden aus Haushaltsüberschüssen der letzten Jahre verirrt haben – und der nun, einem göttlichen Wunder gleich, für große Aufgaben mobilisiert werden darf.

Doch leider – ach, wie leider! – ist ein Sondervermögen nicht der Sparstrumpf der Nation, sondern eine Buchungstrickserei aus der Mottenkiste finanzpolitischer Taschenspielerkunst. Mit biederer Frechheit handelt es sich schlicht um neue Schulden, nur eben unter falscher Flagge. Dass man die Neuverschuldung nicht einfach so nennen mag, ist verständlich – immerhin könnte die Bevölkerung im schlafwandlerischen Dämmerzustand zwischen Netflix-Binge und Instagram-Scrollen auf die Idee kommen, sich zu fragen, warum in einer Zeit, in der jeden Tag aufs Neue eiserne Sparsamkeit gepredigt wird, plötzlich Milliardenbeträge wie Konfetti in den Wind gepustet werden. Doch mit dem Begriff Sondervermögen lässt sich diese Frage elegant umschiffen, als handele es sich nicht um schnödes Geld, sondern um eine metaphysische Kategorie.

Die Kunst des semantischen Schwindels

Die hohe Schule der politischen Kommunikation besteht ja bekanntlich darin, die Realität durch Wortschöpfungen in eine freundlichere Gestalt zu verwandeln. Wo es kracht und stinkt, spricht man von Herausforderungen. Wird irgendwo ein Krankenhaus geschlossen, heißt es, die Versorgungsstrukturen werden neu geordnet. Und wenn der Staat sich bis über beide Ohren verschuldet, um Löcher zu stopfen, die durch jahrzehntelangen Sparwahn erst aufgerissen wurden, dann ist das plötzlich ein Sondervermögen.

Was nach Wohlstand klingt, ist in Wahrheit ein Paradebeispiel jener grotesken Dialektik, die nur in spätkapitalistischen Demokratien möglich ist: Die Unfähigkeit, vorhandenes Vermögen zu erhalten oder neu zu schaffen, wird rhetorisch in sein Gegenteil verkehrt. Hier erweist sich die Sprache einmal mehr als das, was Karl Kraus einst das Wohnzimmer des Lügens nannte – ein heimeliges Refugium, in dem sich die Wirklichkeit weichgebettet und mit Spitzendeckchen versehen der Unverfälschtheit entzieht.

Die Verantwortungslosenverwaltung

Natürlich könnte man einwenden, dass es in Krisenzeiten manchmal notwendig ist, Schulden aufzunehmen, um akute Notlagen zu bewältigen. Doch darum geht es längst nicht mehr. Denn die Idee des Sondervermögens ist nicht bloß ein finanzieller Kniff, sondern ein Symptom jener pathologischen Phobie vor langfristiger Verantwortung, die das politische Personal der Gegenwart wie ein chronisches Leiden befallen hat. Da die Schuldenbremse als sakrosanktes Dogma das politische Denken blockiert wie ein Aneurysma die Blutbahn, bedient man sich immer neuer Schattenhaushalte, Nebenhaushalte, Ausgleichshaushalte – ein labyrinthisches Gewirr, in dem sich irgendwann niemand mehr zurechtfindet, nicht einmal der Bundesrechnungshof.

Der Trick besteht darin, sich selbst für den Moment zu entlasten, ohne den eigenen politischen Narrativ zu beschädigen. Ein Sondervermögen ist das perfekte Vehikel für diese Art der Verantwortungslosigkeitsverwaltung, weil es zwei entscheidende Vorteile bietet: Erstens bleibt die offizielle Schuldenquote sauber, zweitens kann man die Schuld für künftige Kürzungen auf ein ominöses Finanzkonstrukt abwälzen, das nach ein paar Jahren ohnehin keiner mehr versteht. Die Rechnung zahlen dann – wie immer – diejenigen, die sich keine Lobbyisten leisten können.

Der heimliche Humor der Bürokratie

Man könnte all das als zynische Machttechnik abtun, wäre da nicht dieser köstlich absurde Zug, der dem Sondervermögen innewohnt. Denn der Bürokrat an sich, dieser lichtscheue Aktenhorter im schlammbraunen Cordanzug, besitzt einen trockenen, gleichwohl tiefgründigen Humor. Wenn in der Käfighaltung des Ministerialapparats die Idee geboren wird, neue Schulden Vermögen zu nennen, dann liegt darin eine Chuzpe, die dem absurden Theater des Samuel Beckett würdig wäre. Es ist eine Art finanzieller Dadaismus, bei dem die Buchhalter die wahren Avantgardisten sind.

Man möchte sich die Gesichter jener Beamt*innen vorstellen, die mit federleichtem Grinsen den Haushaltsentwurf aufsetzen, während sie sich in innerster Seelenruhe ausmalen, wie das Wort Vermögen durch die Talkshows geistern wird – ein Schelmenstück der Bürokratie, das sich vor der Öffentlichkeit mit der kühlen Eleganz einer Altherrenkrawatte versteckt.

Vom Kredit als anthropologischer Konstante

Was bleibt, ist die traurige Einsicht, dass der moderne Staat sich längst von seinem ursprünglichen Versprechen verabschiedet hat, der Bevölkerung eine langfristige Perspektive zu bieten. Stattdessen regiert der Modus der fortwährenden Übergangslösung. Das Sondervermögen ist nur die logische Konsequenz einer Gesellschaft, die sich nicht mehr zutraut, über die eigene Nasenspitze hinaus zu denken.

Vielleicht ist der Kredit – ob als Hypothek, Dispo oder Staatsschuld – die wahre anthropologische Konstante des Kapitalismus: Die ewige Hoffnung, dass sich die Dinge irgendwann von selbst regeln, wenn man nur lange genug so tut, als gäbe es keine Rechnung. Und vielleicht ist das Sondervermögen ja doch in gewisser Weise ehrlich – ein letzter, unfreiwilliger Witz auf Kosten derer, die glauben, dass es im Leben um mehr geht als darum, sich von einem Zahlungsaufschub zum nächsten zu hangeln.

Denn wie sagte schon Bertolt Brecht: Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Und was ist eine neue Schuldenaufnahme gegen die Erfindung eines Sondervermögens?

Bremsversagen Schuldenbremse

Ein Hoch auf die politische Elastizität – oder wie man das Rückgrat biegt, ohne es zu brechen

Man stelle sich vor, ein Hausbesitzer kündigte vollmundig an, die bröckelnde Fassade seines Altbaus endlich einer gründlichen Sanierung zu unterziehen – mit eigenen Mitteln selbstverständlich, ohne neue Schulden, ganz so, wie es sich für einen soliden Haushälter gehört. Kaum aber hat er den Mietern diese frohe Botschaft verkündet, entdeckt er plötzlich, dass das Fundament eigentlich auch schon seit Jahrzehnten auf wackligen Säulen steht, der Dachstuhl von Holzwürmern zerfressen ist und die Heizung sich nur noch mit Bittgebeten in Gang setzen lässt. Nun bricht hektische Betriebsamkeit aus: Man benötigt dringend Geld. Viel Geld. Aber Schulden machen? Um Himmels willen, nein! Das wäre ja gegen jede Prinzipientreue! Und so erfindet der pfiffige Eigentümer das Sondervermögen – ein wahrhaft euphemistisches Meisterstück sprachlicher Alchemie, das aus schnöder Neuverschuldung plötzlich eine goldglänzende Rücklage zaubert.

Natürlich ist dieser fiktive Hauseigentümer kein anderer als der Staat – jener vielgliedrige, sich selbst steuernde Organismus, der sich an seinen eigenen Prinzipien nur dann stört, wenn sie seinen Gestaltungsspielraum beschränken. Die Schuldenbremse, einst als Bollwerk gegen fiskalische Hemmungslosigkeit gefeiert, erweist sich in Krisenzeiten als genauso biegsam wie ein Bambusrohr im Wind. Ein kurzer Notruf in Richtung Verfassungsjuristen, ein paar kunstvoll konstruierte Haushaltskniffe – schon ist der eiserne Grundsatz der Neuverschuldungsvermeidung in wohlfeile Flexibilität transformiert. Sondervermögen heißen die neuen Zaubertruhen, und wer bei diesem Begriff noch an Rücklagen oder Sparguthaben denkt, hat die Funktionsweise des politischen Schönsprech-Generators gründlich unterschätzt.

Demokratie im Schlussspurt – Mit Vollgas am Wählerwillen vorbei

Die eigentliche Pointe der jüngsten Haushaltsakrobatik liegt freilich nicht in der kreativen Umbenennung von Schulden, sondern in der fast schon rührenden Unverfrorenheit, mit der sich eine abgewählte Regierung auf den letzten Metern ihrer Amtszeit noch schnell eine Zwei-Drittel-Mehrheit organisiert, die es wenige Wochen später gar nicht mehr geben wird. In parlamentarischen Dämmerstunden, wenn die Aufmerksamkeit des Souveräns bereits auf die nächste Legislaturperiode gerichtet ist, lassen sich erstaunliche Dinge durchsetzen – zum Beispiel eine Grundgesetzänderung, deren Tragweite die Volksvertreter vor laufenden Kameras mit dem Brustton der Überzeugung als alternativlos deklarieren.

Dabei könnte man sich mit etwas Geschichtsbewusstsein daran erinnern, dass demokratische Legitimation nicht allein in der arithmetischen Mehrheit besteht, sondern auch in der Fähigkeit, den Wählerwillen nicht bloß zu exekutieren, sondern zu respektieren. Doch warum sich mit solchen Spitzfindigkeiten aufhalten, wenn die Macht noch für ein paar Monate reicht, um Entscheidungen zu zementieren, die der Nachfolger vielleicht gar nicht mehr revidieren kann? Man muss es ja nicht gleich „Selbstermächtigung“ nennen – nennen wir es einfach haushaltspolitische Prophylaxe.

Vom Haben und Nichthaben – Die Wunderwelt der Nullzinsen

Natürlich könnte man jetzt einwenden, dass in Zeiten globaler Krisen und galoppierender Investitionsnotstände besondere Maßnahmen nötig seien. Das ist zweifellos richtig. Doch der Eifer, mit dem die Schuldenbremse in den Stand-by-Modus versetzt wird, korrespondiert merkwürdigerweise nie mit einer ernsthaften Debatte darüber, wie sich öffentliche Einnahmen dauerhaft stabilisieren ließen. Man könnte ja mal – nur als Gedankenspiel – über eine Vermögenssteuer sprechen, oder über eine höhere Kapitalertragssteuer. Aber solche Ideen landen im politischen Diskurs in der Regel schneller auf dem Abstellgleis, als man „Belastung der Leistungsträger“ sagen kann. Lieber lässt man sich bei der Bank seines Vertrauens eine Kreditlinie einrichten – pardon: ein Sondervermögen.

Ein Tipp am Rande: Versuchen Sie doch mal, Ihrer Hausbank zu erklären, dass Ihr Dispokredit eigentlich kein Kredit, sondern ein Sondervermögen sei – eine kreative Rücklage zur Absicherung zukünftiger Investitionen. Die Reaktion des Bankberaters dürfte irgendwo zwischen verstörter Heiterkeit und stiller Verzweiflung oszillieren.

Die Bremsen sind gelöst, der Hang ist steil

Es wäre zu billig, den aktuellen Haushaltstricksereien bloße Fahrlässigkeit zu unterstellen. In Wahrheit zeugt das, was wir erleben, von einem beachtlichen Maß an politischer Kreativität – einer Flexibilität, die allerdings stets dann zur Höchstform aufläuft, wenn es darum geht, sich selbst Spielräume zu schaffen. Die Schuldenbremse ist längst kein ehernes Gesetz mehr, sondern ein dehnbarer Gummi-Paragraf, den man in Notzeiten mit einem kurzen juristischen Stretching auf jede gewünschte Länge ziehen kann.

Die Frage ist nur: Wann wird das Bremsversagen zur Gewohnheit? Und wie lange kann ein politisches System es sich leisten, den Wählerwillen in kleinen, zynischen Dosen zu verabreichen – stets lächelnd, stets im Namen der Sachzwänge, stets mit dem beruhigenden Hinweis, dass es keine Alternative gebe?

Vielleicht brauchen wir ja bald ein eigenes Sondervermögen zur Rettung der Glaubwürdigkeit. Aber ob sich dafür noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit finden ließe?

Die Wahrheit in der Falle

Arthur Ponsonby und die Kunst der Kriegspropaganda

Es gibt Momente, in denen die Wahrheit in der Geschichte zu einem bloßen Spielball wird – ein zerschlagenes Relikt, das von den feisten Händen der Macht zermalmt wird, nur um in einem dreckigen Handtuch von rhetorischen Lügen zu verschwinden. Arthur Ponsonby, der britische Staatsbeamte, Politiker und Pazifist, verstand dies wie kaum ein anderer. In seinem 1928 veröffentlichten Werk Falsehood in Wartime zeichnete er ein Bild, das die wahren Waffen des Krieges ans Licht brachte – nicht die Kanonen und Gewehre, sondern die Lügen, die sie begleiten. Und wie ein wahres Meisterwerk der politisch-satirischen Auseinandersetzung, rechnet Ponsonby mit der Doppelmoral der Kriegsmaschinerie ab und entlarvt das, was wir als „Kriegspropaganda“ kennen, als die systematische Zerstörung der Wahrheit.

Die – wie Ponsonby sie beschreibt – elenden Methoden der Kriegspropaganda, die von den Kriegsführenden eingesetzt werden, lassen den düsteren Schatten eines Teufels in einer aufgeräumten Jacke erkennen: Sie sind die Masken, hinter denen die grausamste aller Wahrheiten versteckt wird – diejenige, dass Krieg, wie er auch in den höchsten Rufen der Zivilisation begründet wird, in seiner Essenz nie „für die Menschen“ geführt wird. Es ist ein Schauspiel, das die Wahrheit von Anfang an opfert, und zwar mit einer Vehemenz, die in Ponsonbys Worten ihren traurigen Höhepunkt fand: „Nach der Kriegserklärung ist die Wahrheit das erste Opfer.“ Die Wahrheit, dieses unschuldige Lamm, das sich erbarmungslos dem Moloch der Propaganda opfert.

Doch was könnte er, der so unmissverständlich den Schleier der Lügen löst, uns über den Inhalt der Propaganda erzählen? Die zehn Regeln Ponsonbys, die er in seinem Buch niederschreibt, sind nicht nur eine Entlarvung, sie sind eine meisterhaft aufgebaute Kritik am System, das so gut darin ist, sich zu tarnen, während es mit feiner Zerstörungskraft die Wahrnehmung der Masse manipuliert.

1. „Wir wollen keinen Krieg!“

Die erste Regel Ponsonbys ist ein denkbar unschuldiger Auftakt, wie er im Handbuch des Lügenkrieges nicht fehlen darf: „Wir wollen keinen Krieg!“ Hier wird der gute Wille propagiert, der edle Wille des Friedens – der Wille, der niemals den ersten Schuss abfeuert, der niemals die Waffen anhebt, der die Feinde mit offenen Armen empfängt und den ehrlichen Dialog sucht. Was für ein Heldentum! Was für eine Selbstverständlichkeit! Doch wer glaubt noch daran? Dieser Satz ist der flimmernde Scheinwerfer, der die dunklen, blutgetränkten Stollen eines Krieges in ihrer Grausamkeit zu kaschieren versucht. Wer hätte je gedacht, dass hinter diesen hehren Worten die Planung für die größte der menschlichen Katastrophen liegt?

2. „Der Gegner ist allein für den Krieg verantwortlich!“

Sobald dieser Punkt erreicht ist, erleben wir die Verdrehung des Geschehens auf dem Präsentierteller. Es ist so einfach, den Gegner als das personifizierte Böse zu brandmarken. Dieser einfache Akt der Zuweisung von Schuld sorgt dafür, dass die eigene Nation von jeder Verantwortung befreit wird. Die Kriegspropaganda liebt diese simplen Narrative: der Böse, der Unmensch, der Aggressor – er ist allein der Übeltäter. Der andere – der „wir“ im Satz – bleibt unberührt, der gute Samariter, der sich gegen das Chaos auflehnt. Diese Regel ist die Biene, die den Stock des nationalen Stolzes nährt, sie trägt eine unverkennbare Waffe in sich: den moralischen Überlegenheitsanspruch.

3. „Der Führer des feindlichen Lagers wird dämonisiert.“

„Satan persönlich“, so könnte man sagen, wird hier eingeführt. In der Propaganda gibt es keinen Raum für die Nuancen der Persönlichkeit. Der Feindführer muss nicht nur fehlerhaft sein – er muss ein Monstrum sein. Die Darstellung des Feindes als eine dämonische Gestalt ist nicht nur rhetorische Übertreibung, sie ist ein entscheidender Schritt, um die eigene Bevölkerung auf den Krieg vorzubereiten. Je schlimmer der Gegner dargestellt wird, desto geringer wird der Widerstand gegen die eigene Kriegsführung. Denn wer will schon mit einem Monster verhandeln, wenn es doch besser ist, das Monster zu vernichten?

4. „Wir verteidigen ein edles Ziel und keine besonderen Interessen!“

Nun, hier erreicht die Propaganda ihren Höhepunkt der Heuchelei. Die Kriegsführung wird als eine heilige Mission dargestellt, als eine noble Pflicht. Es geht nicht um Macht, um territoriale Gewinne, um Ölquellen oder Rohstoffe – oh nein! Es geht um das Wohl der Menschheit, um Freiheit, Gerechtigkeit und das Streben nach dem Guten. Was für ein atemberaubendes Narrativ! Die wahre Agenda wird uns als edles, reines Ziel verkauft – und wie erfolgreich! Wer könnte schon gegen so ein heiliges Anliegen kämpfen? Wer will schon in die Riege der Unmoralischen eingehen?

5. „Der Feind begeht wissentlich Grausamkeiten, wenn wir Fehler machen, geschieht dies unbeabsichtigt.“

„Wir sind die Unschuldigen“, verkündet diese Regel. Unsere Fehler – und seien sie noch so katastrophal – sind immer unbeabsichtigt, das Ergebnis von Missverständnissen oder unglücklichen Umständen. Auf der anderen Seite jedoch ist der Feind der reinste Zynismus. Jeder Tropfen Blut, den er vergießt, ist kein Zufall, sondern eine bewusste, teuflische Tat. In dieser Rhetorik wird der moralische Unterschied klar: Wir – die guten und anständigen – und sie – die grausamen und abscheulichen. Es ist ein moralischer Trick, der die einfache Unterscheidung zwischen Gut und Böse in einer so simplen Art und Weise liefert, dass er beinahe unmerklich wird. Doch wehe dem, der das hinterfragt.

6. „Der Feind benutzt unerlaubte Waffen.“

Oh, der Schock und die Empörung, die diese Regel hervorruft! Der Feind, ein Barbar, hat den „guten Krieg“ durch die Verwendung von verbotenen Waffen entweidet. Die moralische Entrüstung ist grenzenlos. Doch diese Darstellung ist nicht nur eine übliche Taktik, sie hat eine fast sakrale Bedeutung: Sie macht den Feind nicht nur in seinen Handlungen, sondern in seiner Existenz zu einem Abtrünnigen. Es ist ein moralisches Argument, das den Feind außerhalb des Rechtssystems stellt.

7. „Wir erleiden geringe Verluste, die Verluste des Feindes sind erheblich.“

Eine Regel, die nicht nur die Realität der Kriegsführung verzerrt, sondern sie gleichsam in ihre eigene Form von Fantasie überführt. Die eigenen Verluste – so gering wie möglich dargestellt, sogar als symbolische Opfer des edlen Kampfes – die des Feindes jedoch werden als unvorstellbar grausam beschrieben. Sie sind das Argument für den „guten Krieg“, während die eigenen Opfer als eine Art noble Selbstaufopferung präsentiert werden.

8. „Anerkannte Kulturträger und Wissenschaftler unterstützen unser Anliegen.“

Was wäre die Kriegspropaganda ohne das ehrwürdige „Bekenntnis der Gelehrten“? Die wichtigsten Stimmen der Zivilisation – Philosophen, Wissenschaftler, Künstler – sie alle stimmen in den Chor ein und erklären den Krieg für gerechtfertigt. Diese Regel ist das beste Rezept, um den Krieg als etwas Zivilisiertes erscheinen zu lassen, etwas von der gebildeten Klasse Abgesegnetes. So wird der Krieg nicht nur zu einem politischen Akt, sondern zu einem Akt der Kultur.

9. „Unser Anliegen hat etwas Heiliges.“

Kriege, die von diesem Glauben genährt werden, erlangen eine fast religiöse Dimension. Sie sind nicht nur Kämpfe um Macht, sie sind Kämpfe um das Gute, um das Heilige, um das einzig Wahre. Der Krieg wird so zu einer Art spirituellen Mission, einer Pflicht, die nicht nur mit Tod, sondern auch mit einer beinahe heiligen Entrückung verbunden ist.

10. „Wer unsere Propaganda in Zweifel zieht, arbeitet für den Feind und ist damit ein Verräter.“

Und schließlich die bedrohliche, alles zerstörende Drohung: Wer diese Wahrheit in Frage stellt, ist ein Feind der Nation. Wer an der heiligen Botschaft zweifelt, ist nicht nur ein Irrer, sondern ein Verräter, der das Wohl des Volkes gefährdet. Das System lebt von dieser Regel, denn es ist der Druck, der jeden Einzelnen zwingt, in Linie zu bleiben. Zweifel werden zu Verrat, und der Verrat ist eine der tödlichsten Sünden in einem Krieg.

Die Propaganda als ein Spiegel der Gesellschaft

Arthur Ponsonbys zehn Regeln sind nicht nur ein historisches Relikt, sie sind auch ein Spiegel für die Mechanismen der Wahrheitsverzerrung, die wir immer wieder in verschiedenen Formen wiederfinden. Wie sehr sich die Welt auch verändert haben mag, die Werkzeuge der Kriegspropaganda haben sich nur verfeinert. Wir leben in einer Ära, in der die Wahrheit nicht nur im Krieg, sondern auch im alltäglichen Leben ein seltenes Gut ist. Ponsonby erinnert uns daran, dass der Krieg mehr ist als das Zerstören von Leben; er ist das Zerstören von Wahrheiten. Und wenn wir nicht wachsam sind, wird uns die nächste „große Wahrheit“ möglicherweise ebenso schnell wie die letzte vorenthalten – denn sie ist längst das erste Opfer.

Europa, Trump und der Preis der Moral

Der Elefant im Kristallpalast

Donald Trump, dieser orangefarbene Apokalyptiker, hat es wieder getan. Ein einziger Satz, ein beiläufig in den US-Kongress geschmettertes Aperçu, und die kollektive Hirnrinde des europäischen Politbetriebs zuckt in nervöser Ehrpusseligkeit. Die EU, so raunzt der demagogische Sonnenkönig von Mar-a-Lago, habe mehr Geld für russisches Öl und Gas ausgegeben als für die Verteidigung der Ukraine. Und wie so oft bei Trump liegt in der bitteren Provokation eine unbequeme Wahrheit verborgen – was ihn vermutlich selbst am meisten überrascht haben dürfte.

Der Kontinent der moralischen Superlative

Europa – das ist der Weltgeist in Seidenbluse, der Hort der universalistischen Moral, die spirituelle Heimstatt der Menschenrechte, kurz: die unbestrittene Hauptstadt des Bessermenschentums. Hierzulande erklärt man den Schwellenländern die Energiewende und den USA die Todesstrafe, während man selbst in fossilen Wohlstandsblasen haust, deren Heizungspumpen sich glucksend aus sibirischen Pipelines speisen.

Dass die EU seit drei Jahren Putin mit Milliardenbeträgen den Kriegsapparat schmiert, während sie der Ukraine in tröpfelnden Almosen humanitäre Checkbücher entgegenwedelt – ach, das ist ein Sachverhalt, den man lieber hinter Parlamentsfloskeln und Nachhaltigkeitszertifikaten verbirgt. Wie nannte es der große Philosoph Karl Kraus doch gleich? Die höchste Form der Heuchelei sei jene, die sich selbst nicht einmal als Heuchelei begreife.

Realpolitik oder Selbstbetrug?

Nun könnte man ja einwenden, der fossile Fetischismus der EU sei eine unvermeidliche Notwendigkeit der Realpolitik – ein pragmatischer Pakt mit dem Teufel zur Aufrechterhaltung der sozialen Wärme in den Eigenheimparadiesen des Rhein-Main-Gebiets. Man könnte sagen: Der Winter ist lang, das Gas knapp, und wer heizt, der sündigt. Doch diese zynische Ehrlichkeit bleibt in Brüssel ebenso Mangelware wie handfeste Energiestrategien.

Stattdessen pflegt man eine semantische Doppelmoral, die jede Pipeline in ein politisches Paradoxon verwandelt: Russische Energieimporte heißen „Übergangslösungen“, während Waffenlieferungen an die Ukraine „unverzichtbare Solidarität“ genannt werden. Man führt keinen Wirtschaftskrieg, sondern nur „gezielte Sanktionen“, während der Rubel in Gazprom-Kassen munter weiterrollt.

Der Trump-Moment

Und dann kommt ausgerechnet Donald J. Trump daher, dieser großmäulige Störenfried der diplomatischen Fassade, und entlarvt die europäische Doppelmoral in einem einzigen Satz. Ein Zyniker, der die Wahrheit sagt, bleibt immer noch ein Zyniker – aber eben auch einer, der die Wahrheit sagt. Vielleicht liegt darin die größte Kränkung für die feinnervige europäische Seele: Dass sie sich von einem Trump das moralische Nacktsein vorführen lassen muss.

Der Selbstbetrug der Wertegemeinschaft

Freilich ist der wahre Skandal nicht, dass Europa russisches Gas kauft – sondern dass Europa sich dabei weiterhin für die Avantgarde der Menschlichkeit hält. Wer in Davos mit heiligem Ernst von Klimaneutralität doziert, während der Mercedes-SUV in der Garagenauffahrt noch auf Gazprom-Diesel tuckert, der sollte zumindest die Anständigkeit besitzen, seine Hybris als solche zu benennen.

Es ist die alte europäische Krankheit: Die Vorstellung, dass noble Absichten den moralischen Bankrott der Realität kompensieren könnten. Die Ukraine verteidigen, aber bitte nur mit Lippenbekenntnissen und Waffen aus den Depots der 80er-Jahre. Energieunabhängigkeit predigen, aber am liebsten auf der Grundlage russischer Moleküle. Sanktionen verhängen, aber nur so, dass sie weder den Porsche Cayenne noch den Heizölvorrat gefährden.

Die Dialektik des Wohlstands

Europa hat sich in eine dialektische Zwickmühle manövriert, in der es gleichzeitig seine moralische Überlegenheit behauptet und seine ökonomische Abhängigkeit pflegt. Man prangert den Aggressor an und finanziert ihn mit diskretem Dauerauftrag. Man fordert Wertegemeinschaften, aber nur so lange, wie diese den eigenen Wohlstand nicht substanziell gefährden.

Dabei wäre der ehrliche Weg so einfach: Wenigstens einmal zu sagen, dass man sich seinen Frieden mit dem fossilen Opportunismus gemacht hat. Dass Wohlstand in diesen Breiten nun mal wichtiger ist als die ukrainische Souveränität. Dass ein warmes Wohnzimmer in Stuttgart mehr zählt als ein kaltes Grab in Bachmut.

Die unbequeme Wahrheit

Doch diese Ehrlichkeit wird es nicht geben. Stattdessen wird man weiter Moralstolz predigen und sich gleichzeitig von Gazprom die Gasspeicher auffüllen lassen. Der europäische Heiligenschein bleibt poliert, während im Hintergrund der Rubel rollt. Und irgendwann, wenn der Krieg vorüber ist und der letzte ukrainische Soldat für unsere Prinzipien gestorben ist, wird man feierliche Gedenkreden halten – selbstverständlich klimaneutral.

Bis dahin aber sei Trump gedankt. Nicht dafür, dass er die Wahrheit gesagt hat – sondern dafür, dass er uns daran erinnert hat, dass sie in Europa niemand hören will.

Das Jahrhundert als Vorschuss

Fassen wir zusammen: Die EU und Deutschland verschuldeten sich auf Jahrhunderte für ein anderes Land, das den Krieg gegen Russland ohne Unterstützung der USA nicht gewinnen kann

Man wird es dereinst in den Geschichtsbüchern nachlesen können, vermutlich irgendwo zwischen dem Kapitel „Kollaterale Demokratieverluste“ und dem Anhang „Warum der Fortschritt manchmal rückwärts galoppiert“: Wie die Völker Europas, allen voran die Deutschen, mit viel rhetorischem Pathos und noch mehr frischgedrucktem Geld in einen Krieg investierten, der sich nicht einmal mit einer moralischen Buchführung als rentabel ausweisen lässt. Man wollte Gutes tun, das steht außer Frage. Die Sache mit dem Weg zur Hölle und den guten Absichten ist ja bekannt. Doch die Kreditlinie zur Ewigkeit ist weit, und wer sich heute bei der EZB mit dreistelliger Milliardenhöhe einloggt, muss nicht befürchten, morgen schon von der Realität ausgeloggt zu werden.

Das Schuldenmodell für Generationen: Jetzt auf Pump, später im Museum

Ach, wie fein ziseliert klingen sie doch, die Statements aus Brüssel und Berlin: „Historische Verantwortung“, „europäische Solidarität“, „Wertegemeinschaft“. Es sind jene Zauberworte, mit denen sich selbst die absurdesten Finanztransaktionen noch in ein leuchtendes Gewand aus Menschenrechtsromantik hüllen lassen. Dass diese Wertegemeinschaft am Ende mehr Schulden als Werte erzeugt, ist wohl ein bedauerlicher Kollateralschaden der höheren Moral. Aber keine Sorge – die Rückzahlung erfolgt in Tranchen, die so weit in der Zukunft liegen, dass sie nicht einmal von Science-Fiction-Autoren zuverlässig vorhergesagt werden können.

Die Kinder von morgen werden nicht gefragt werden, ob sie den Panzerkredit von gestern gerne abstottern möchten. Vielleicht dürfen sie im Ethikunterricht ein Referat über die Errettung der europäischen Freiheitsideale halten, während ihre Eltern aus der Sparlampe im Energiesparhaus das letzte Lichtchen saugen.

Der große Bruder bleibt der große Gläubiger

Wie seltsam es doch anmutet: Während die europäischen Hauptstädte ihre Schatzkammern weit öffnen, bleibt die eigentliche Siegbedingung eine Konstante, die weder Brüssel noch Berlin kontrollieren. Ohne den allmächtigen US-Dollar und die Waffenlieferungen aus Washington wäre der Verteidigungskampf unseres östlichen Nachbarn nicht mehr als ein melancholischer Eintrag im politischen Nachrufregister. Aber die USA haben ihre eigene Agenda – und diese hat mit europäischen Schuldenbergen ungefähr so viel zu tun wie ein texanischer Ölmagnat mit veganer Ernährung.

Es ist ein seltsames Arrangement: Die einen zahlen, die anderen gewinnen. Die einen versprechen „Whatever it takes“, die anderen liefern Waffen im Abonnement. Die einen bauen Windräder, die anderen Flugzeugträger. Die einen leisten moralische Überstunden, die anderen streichen geostrategische Dividenden ein. Wer wird am Ende wohl der lachende Dritte sein?

Postheroische Zeiten – Heldensagen aus der Notenpresse

Wirklich bemerkenswert ist aber, dass all diese astronomischen Summen in einem historischen Moment verschrieben werden, in dem Heldenmut vor allem darin besteht, auf Twitter eine Fahne ins Profilbild zu kleben. Die Nachkriegsgeneration wird mit dem Kredit von heute vielleicht keine goldene Zukunft erben, aber immerhin ein schillerndes Vokabular aus solidarischer Phraseologie. „Wir haben alles getan, was wir konnten“, wird man später in den Archiven lesen – und der kleine Vermerk, dass man vor allem alles bezahlt hat, was man nicht hatte, wird bestenfalls in den Fußnoten auftauchen.

Was bleibt, ist das Narrativ

Am Ende wird man sich vielleicht nicht mehr daran erinnern, wer diesen Krieg gewonnen hat – aber man wird genau wissen, wer ihn bezahlt hat. Das ist doch auch eine Form der historischen Unsterblichkeit. Und wenn es irgendwann wieder einmal an der Zeit ist, Europa zusammenzufassen, dann wird es heißen: Sie haben sich verschuldet, sie haben geliefert – und am Ende durften sie sich glücklich schätzen, wenigstens die Moral auf ihrer Seite gehabt zu haben.

Vielleicht errichtet man dann in Brüssel ein Denkmal. Nicht für die Helden der Schlacht, sondern für die treuen Steuerzahler. Eine Bronzestatue, halb gefesselt, halb salutierend, mit einem Schild in der Hand: „Auf Pump für die Freiheit – 2022-????“.

Ein Land rüstet sich – bis zum letzten Euro

Whatever it takes – Der Ausnahmezustand als Dauerzustand

Es ist ein denkwürdiges Bild, das sich da in den feierlichen Hallen der Macht abzeichnet: Friedrich Merz, der altersweise Wiedergänger des deutschen Konservatismus, mit dem Duktus eines Sparkommissars aus dem Weltwirtschaftsforum, erhebt seine schmalen Hände zur Lobpreisung der Haushaltsdisziplin – um sie dann, mit dramatischer Geste, dem Schicksal unserer Zeit entgegenzuwerfen. „Whatever it takes!“ – eine Formel, die einst den Euro retten sollte, nun aber als sakraler Zauberspruch zur Unzeit das goldene Kalb der Schuldenbremse schlachten darf. Dass Merz ausgerechnet den legendären Draghi-Satz bemüht, jenen Notwehrschwur eines neoliberalen Technokraten, mag als subtiles Aperçu durchgehen – oder als zynisches Meme für die letzte, verzweifelte Aufrüstung des Westens.

Doch wo Merz die Stirn sorgenvoll in Falten legt, während er mit bebender Stimme von der „Bedrohung unserer Freiheit“ schwadroniert, drückt sich Markus Söder mit bajuwarischer Wucht durch die Tür und donnert ein „XXL!“ hinterher, als wäre die Bundesrepublik ein Fast-Food-Menü, das jetzt endlich die maximale Kalorienration für den Kampf gegen den Hunger des Weltgeistes erhält.

Die Schuldenbremse als sakrales Relikt

Dass ausgerechnet jene CDU, die sich jahrzehntelang als Zuchtmeister fiskalischer Askese aufspielte, nun die eiserne Regel des Grundgesetzes nach Gusto zur Disposition stellt, hätte vor wenigen Jahren noch den Tatbestand des Hochverrats erfüllt. Doch die Zeiten ändern sich, und wer die Schuldenbremse noch ernst nimmt, gilt in der Politik inzwischen als spleeniger Anachronist. Die politische Klasse hat begriffen, dass es in der postpandemischen Ära nur noch um den kreativen Ausnahmezustand geht: Klima, Corona, Krieg – die Krise ist der neue Normalzustand, und wenn Krisen kein Ende nehmen, dann ist auch jede Regel bloß noch Dekoration.

Es gehört zum feinen Zynismus dieser Tage, dass ausgerechnet die Verteidigungsausgaben – jene Investitionen in die endgültige Zerstörung, die sich bislang als Friedensdividende tarnen durften – nun zur Mutter aller Notwendigkeiten erklärt werden. Die Investitionen in Schulen, Krankenhäuser, Infrastruktur oder gar soziale Absicherung? Leider nicht systemrelevant. Aber Drohnen, Panzer, Raketen – das ist der Stoff, aus dem die Zukunft gemacht wird.

Das Fetischkapital der Sicherheit

Während die letzten Brösel der sozialen Marktwirtschaft in den Suppenküchen der Tafeln landen, feiert der militärisch-industrielle Komplex seine glänzende Renaissance. Die Logik ist so einfach wie perfide: Sicherheit vor sozialer Gerechtigkeit, Geopolitik vor Gemeinwohl, Aufrüstung vor Daseinsvorsorge. So sieht die neue Hierarchie des Neoliberalismus aus, der sich nun endlich seiner Friedensrhetorik entledigen kann.

Dass in diesem historischen Augenblick ein Friedrich Merz an der Spitze der Opposition steht, ist nur folgerichtig. Der Mann, der als BlackRock-Lobbyist so etwas wie die fleischgewordene Schuldenbremse war, steht nun für die grenzenlose Verschuldung – solange es für den richtigen Zweck geschieht. Und wenn Markus Söder von einem Investitionsprogramm XXL spricht, dann ist das mehr als bloße Rhetorik: Es ist der endgültige Bruch mit dem Mythos, dass sich Staatsschulden je wieder abbauen ließen.

Vom Kriegs- zum Schuldenwirtschaftswunder

Was hier eingeläutet wird, ist eine neue Ära der Kriegswirtschaft – nur dass man sie heute euphemistisch als „Investitionsoffensive“ verkauft. Die Inflation wird sich in den Rüstungsbilanzen verstecken, die Schulden in den Schattenhaushalten versickern, und der Bürger wird mit Glück noch ein subventioniertes Wärmepumpenmodell erhaschen, während die Bundesregierung in Washington die nächste F-35-Staffel einkauft.

Es ist eine bittere Pointe, dass ausgerechnet die deutsche Politik, die sich jahrzehntelang für ihre fiskalische Disziplin feiern ließ, jetzt in die Rolle des willfährigen Waffenfinanziers gedrängt wird. Aber vielleicht war die Schuldenbremse nie mehr als eine billige Pose – ein folkloristisches Ritual, um die schwäbische Hausfrau bei Laune zu halten, während im Maschinenraum der Globalisierung längst andere Regeln galten.

Humor als letzte Waffe

Doch wo die große Politik ihre Prinzipien wechselt wie Designeranzüge, bleibt dem Bürger immerhin noch der Humor. Man stelle sich vor, wie Friedrich Merz mit leuchtenden Augen an der Bundesbank vorbeifährt, um sich in der Nacht heimlich ein Transparent ans Fenster zu hängen: „Whatever it takes!“ Darunter ein kleines Fußnotenzeichen, das die Bedingung vermerkt: Solange es nicht für Sozialausgaben ist.

Der Ausnahmezustand mag kommen, die Satire wird bleiben. Und wenn die letzten Milliarden in Marschflugkörpern verpufft sind, wird es noch immer einen Kabarettisten geben, der mit einer einzigen Pointe mehr Wirkung erzielt als alle Sondervermögen zusammen. Vielleicht ist das dann der letzte Rest von Aufrüstung, den sich dieses Land noch leisten kann.

Das Märchen vom Wachstum

Wie man den Kapitalismus zum Stillstand bremst, ohne die Welt zu retten

Wenn eine hochdekorierte Ökonomin wie Claudia Kemfert im Gewand der Vordenkerin der „vorsorgeorientierten Postwachstums-Ökonomie“ in den Medien auftritt, dann riecht es nach Rebellion. Nach intellektuellem Florettkampf gegen die Trägheit der Verhältnisse. Nach dem ehrenhaften Versuch, die Welt vor sich selbst zu retten. Was könnte edler sein? Doch Vorsicht, bevor wir uns im heroischen Glanz dieser Visionen verlieren: Der Weg in die klimagerechte Zukunft ist – wenn man Kemfert folgt – vor allem gepflastert mit Verzicht, Entbehrung und der Absage an das, was die westliche Welt in den letzten zwei Jahrhunderten an Wohlstand erkämpft hat. Ein kühnes Vorhaben, das so visionär ist, dass man sich beinahe fragt, ob die Apokalyptik hier nicht zur neuen Heilslehre gerinnt.

Der Fetisch des Wachstums – oder: Wie viel Fortschritt ist zu viel Fortschritt?

Wirtschaftswachstum, so lernen wir von Kemfert, ist der Ursprung allen Übels. Eine „ungezügelte“ Dynamik, die sich gierig durch den Planeten frisst wie ein metastasierender Tumor. Der Gedanke ist nicht neu, aber in der aktuellen Verpackung bekommt er eine besonders feinfühlige Aura. Hier spricht eine Ökonomin, die sich über das „gesellschaftliche Wohlergehen innerhalb planetarer Grenzen“ Gedanken macht. Wer könnte da widersprechen? Die Formel ist unwiderstehlich: Wir verzichten auf ein bisschen Wachstum – und die Erde atmet auf. Doch hinter dem sanften Habitus lauert eine radikale Idee: Die fundamentale Umwälzung des Wirtschaftssystems, die Abschaffung des Gewinnstrebens, die sakrale Enteignung des Privateigentums. Der Kapitalismus auf Valium, begleitet von leisen Harfenklängen und veganem Hafermilch-Kaffee.

Kreislaufwirtschaft – oder: Der Triumph des Immergleichen

Die Postwachstums-Ökonomie, wie sie Kemfert vorschwebt, hat etwas von einer ökonomischen Tupperparty. Alles bleibt im Kreislauf. Produkte werden nicht mehr produziert, sondern wiederverwertet. Abfall gibt es nicht, Verschwendung auch nicht – ein paradiesischer Kreislauf der Ressourcen, in dem alles seine Bestimmung findet. Der große Wurf? Eher eine ökonomische Beruhigungspille, die in ihrer peniblen Konsistenz an den guten alten Realsozialismus erinnert, bei dem jedes Glas Marmelade dreimal ausgekocht wurde, bevor man es mit saurem Kompott wiederbefüllte.

Gemeinwohl-Ökonomie – oder: Die schöne neue Moralwirtschaft

Besonders aufregend wird es, wenn Kemfert die Abschaffung des privaten Profitstrebens fordert. Der Einzelne, der sich bereichert, gilt ihr als Sündenfall der modernen Ökonomie. Privateigentum ist für sie ein „Fetisch“ – ein Begriff, der in seiner intellektuellen Prätention kaum darüber hinwegtäuschen kann, dass er eine der tragenden Säulen der sozialen Marktwirtschaft infrage stellt. Es ist die alte Sehnsucht der Utopisten: die Idee, dass Wohlstand nicht mehr individuell, sondern kollektiv entsteht. Dass der Staat die Wirtschaft lenkt, das Gemeinwohl definiert und der Bürger sich in den gesamtgesellschaftlichen Suchprozess einfügt. Eine Vision, die sich so wohlig altruistisch gibt, dass man fast vergisst, dass sie überall, wo sie jemals umgesetzt wurde, in Planwirtschaft und Mangelwirtschaft mündete.

Die experimentelle Gesellschaft – oder: Laborratten im Fortschrittskäfig

Kemfert fordert „Experimentierräume“ für neue gesellschaftliche Pfade. Klingt charmant. Nur dummerweise sind Experimente in der Wirtschaftspolitik selten folgenlos. Während die Ökonomin sich in postmateriellen Theorien ergeht, kämpfen Millionen Menschen in Deutschland mit steigenden Energiepreisen, schrumpfendem Wohlstand und einer Inflation, die das Ersparte auffrisst. Die Ironie ist dabei kaum zu übersehen: Während Kemfert die Rezession als „klimaschonend“ preist, erleben viele Bürger eine postwachstümliche Realität, die weniger mit planetaren Grenzen als mit leeren Portemonnaies zu tun hat.

Apokalypse als Geschäftsidee

Natürlich könnte man die ganze Debatte als spleenige Träumerei abtun, wenn nicht ein unterschwelliger moralischer Absolutismus in den Thesen mitschwingen würde. Es ist die neue Ökomoral, die sich ihrer eigenen Überlegenheit so sicher ist, dass sie keine Widerrede duldet. Der Klimaschutz wird zur absoluten Priorität, vor der alle anderen gesellschaftlichen Errungenschaften verblassen. Wachstum? Wohlstand? Freiheit? Alles verzichtbar, wenn es um das planetare Gleichgewicht geht. Und wer sich dem verweigert, der ist eben ein fossiler Kapitalismus-Fetischist, ein Auslaufmodell der Geschichte.

Epilog: Die Romantik der Schrumpfung

Das vielleicht Bemerkenswerteste an Kemferts Vision ist ihr romantischer Kern. Die Vorstellung, dass eine Gesellschaft in einem Zustand des kontrollierten Schrumpfens eine höhere Lebensqualität erreicht, ist ein uralter Traum, der in Zeiten der Krise immer wieder auftaucht. Die neue Bescheidenheit, der verordnete Verzicht, die Rückkehr zur Subsistenz – das hat etwas Verlockendes. Doch der Preis für diese Romantik ist hoch. Ohne Wachstum keine Innovation, ohne Innovation kein Fortschritt, ohne Fortschritt keine Lösung der großen globalen Probleme.

Was bleibt, ist der Verdacht, dass die Postwachstums-Ökonomie weniger eine Antwort auf die Herausforderungen der Zeit ist, als vielmehr eine intellektuelle Komfortzone für saturierte Wohlstandsgesellschaften, die sich den Luxus leisten können, auf Wachstum zu verzichten – solange der Kühlschrank noch voll ist.

Am Ende könnte sich die vermeintliche Revolution als das entpuppen, was sie in Wahrheit ist: eine melancholische Utopie für die Besserverdienenden, während die unteren Schichten schon längst in der postwachstümlichen Realität angekommen sind – nicht aus freier Entscheidung, sondern mangels Alternativen.

Apokalypse mit Gendersternchen

Die Welt geht unter, aber bitte divers. Wenn schon der thermonukleare Schlagabtausch auf europäischem Boden unvermeidlich scheint – und diverse Generäle in gebügelten Uniformen mit blasiertem Lächeln und NATO-Pin am Revers hinter verschlossenen Türen die finale Pyrotechnik-Performance ausbaldowern –, dann doch wenigstens unter Einhaltung der Inklusionsrichtlinien. Die Gleichstellungskommission der Apokalypse tritt zusammen: Sollten wir nicht auch die letzten Sekunden der Zivilisation mit einer gendergerechten Sprache begleiten? Ein verstrahltes „Sehr geehrte Damen und Herren“ wäre ja nun wirklich ein Rückfall in die barbarische Vorzeit. In der Hölle des atomaren Feuersturms sollte es doch wenigstens „Sehr geehrte Überlebenswillige aller geschlechtlichen Identitäten“ heißen.

Glaslandschaften mit Safe Spaces

Während die russischen Hyperschallraketen und amerikanischen Minuteman-III-Sprengköpfe sich im transatlantischen Gleichschritt den Luftraum teilen, arbeitet ein Expert*innengremium in Brüssel fieberhaft an einer Richtlinie zur queerfeministischen Gestaltung von Bunkeranlagen. Wieso eigentlich nur Männertoiletten in den Schutzkellern? Gibt es im Ödland von morgen eine Paritätsquote bei der Verteilung der letzten Konservendosen? Und sind die Strahlenanzüge eigentlich vegan? Die Apokalypse mag unbarmherzig sein, aber auch sie sollte bitte den neuesten Diversity-Standards genügen.

Cancel Culture trifft Fallout

Man stelle sich den finalen Schlagabtausch als Twitter-Debatte vor: Ein Atompilz steigt über Berlin auf, aber die eigentliche Empörung entzündet sich daran, dass der Verteidigungsminister in seiner Abschiedsrede den Begriff „Zivilbevölkerung“ ohne Genderstern verwendet hat. Eine Online-Petition gegen diesen Fauxpas erreicht in den letzten zwei Minuten vor dem elektromagnetischen Puls 100.000 Unterschriften. Die Erde brennt, aber das wahre Verbrechen bleibt natürlich die mangelnde Sensibilität in der Wortwahl.

Strahlenschutz für Mikroaggressionen

Wenn die letzten Aschewolken sich senken, werden nicht die stärksten oder intelligentesten Überleben, sondern die mit der feinsten Antenne für sprachliche Unsauberkeiten. Während die einen mühsam versuchen, aus radioaktivem Schutt eine improvisierte Wasseraufbereitungsanlage zu basteln, klagt jemand anderes über den Mangel an non-binären Repräsentationsfiguren in den verbliebenen Propagandabroschüren des Zivilschutzes. Auch die Postapokalypse ist ein Raum, in dem intersektionale Machtverhältnisse dekonstruiert gehören.

Queerfeministische Fallout-Ästhetik

Die Überreste der Menschheit organisieren sich in Clans: cis-männliche Prepper-Gangs gegen queerfeministische Strahlenrebellen, die ihre Widersacher mit genderneutralen Pronomen bewerfen. In den Ruinen der alten Welt gedeiht eine neue Ästhetik des Widerstands: Sprühgraffiti an den zerbombten Wänden mit Slogans wie „Keine Bomben ohne Consent!“ oder „Radioaktivität ist keine Identität!“. Die Lagerfeuer-Runden der Überlebenden werden durch Vorträge über toxische Männlichkeit und Heteronormativität bereichert – zwischen zwei Plünderungszügen in die letzte Aldi-Filiale.

Apokalypse mit Awareness-Team

Wer glaubt, dass mit der Zivilisation auch die politische Korrektheit endet, unterschätzt die Hartnäckigkeit spätkapitalistischer Diskurse. Die Endzeitgemeinde organisiert Safe Spaces für Traumatisierte des Atomkriegs und bietet vegane Strahlenrationen an. Ein Awareness-Team achtet darauf, dass die Untergangsstimmung nicht durch ungebührliche Witze getrübt wird. „Schwarzer Humor“ gilt auch in der Finsternis der atomaren Nacht als Mikroaggression.

Fortschritt bis in den Untergang

Vielleicht liegt gerade darin der letzte Triumph des Humanismus: Dass wir uns selbst beim kollektiven Auslöschen nicht den Luxus nehmen, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Wenn schon Weltuntergang, dann wenigstens mit ethisch einwandfreiem Mülltrennungskonzept. Wenn die Welt in Flammen aufgeht, dann doch bitte in Regenbogenfarben.

Und während der letzte nukleare Feuerball am Horizont aufsteigt, versichert eine automatische Durchsage den Überlebenden: „This meltdown is climate-neutral and certified gendergerecht.“

Wenn schon, denn schon!

Der glorreiche Aufstieg der neuen alten Ordnung

Es gibt Momente in der Geschichte, da brechen die großen Reden über die Menschheit herein wie eine meteorologische Front – wolkig im Kern, stürmisch im Ton und mit einer Wahrscheinlichkeit auf Aufheiterung gegen null. Einer dieser seltenen Momente war die jüngste Anhörung von Kaja Kallas, jener hochsympathischen politischen Erscheinung, die sich aus dem avantgardistischen Innovationslabor Estland nun als neue Chefin der EU-Außenpolitik anschickt, der sogenannten „freien Welt“ die Führung zu erklären. Welch ein Vorhaben! Welch eine Vision! Welch ein Schauspiel, in dem die Hauptdarstellerin mit festem Blick und unerschütterlicher Entschlossenheit durch die diplomatische Maschinerie Europas schreitet, als hätte sie im Handgepäck bereits den Masterplan zur Rettung der Zivilisation.

Der erste Akt dieses Dramas beginnt mit dem einzigen Wort, das in der gegenwärtigen europäischen Innenpolitik noch Konsensfähigkeit genießt: Sieg. Genauer: der Sieg der Ukraine – ein Versprechen, so strahlend wie die Hoffnung eines Lottospielers, der bereits die Yacht bestellt hat, bevor die Kugeln überhaupt gezogen wurden. Dass niemand so genau definieren kann, was ein solcher Sieg eigentlich bedeutet – territorial, militärisch, moralisch oder metaphysisch – ist dabei höchstens ein marginales Detail. Wichtig ist allein, dass Europa als Kollektiv mit derselben Hingabe in den Abgrund marschiert, mit der einst die Kinder zu Hameln den Flötentönen folgten.

In Treue fest: Die Heilige Dreifaltigkeit der Hilfe

Die rhetorische Konstruktion ist dabei so makellos wie ein Handbuch der Bürokratie: militärisch, finanziell, humanitär – drei Pfeiler der bedingungslosen Solidarität, die in ihrer Reihung fast schon liturgischen Charakter annehmen. Wie ein biblisches Mantra wird die Notwendigkeit der ewigen Unterstützung beschworen, ohne dass jemand sich die Frage zu stellen wagt, ob diese Trinität nicht längst zur unbezahlten Rechnung am Himmel Europas geworden ist. Denn während Panzer rollen, Milliarden strömen und Decken verteilt werden, steigt der Preis für diese Tugendhaftigkeit unaufhaltsam – allerdings nicht für jene, die sie predigen.

Es ist die schönste Ironie unserer Zeit, dass der europäische Diskurs die eigene Erschöpfung längst zu einem moralischen Imperativ verklärt hat. Die Frage ist nicht mehr, wie lange wir die Ukraine unterstützen können, sondern wie lange wir es müssen, um nicht in den Verdacht moralischer Minderwertigkeit zu geraten. Kallas‘ Botschaft ist hier von betörender Klarheit: so lange, wie es nötig ist. Oder anders gesagt: für immer. Denn es gibt keine tragischere Pointe in dieser Geschichte als die, dass der Sieg, den sie proklamiert, vermutlich erst in jenem metaphysischen Jenseits errungen wird, in dem auch der Endsieg des Kommunismus und die glückliche Globalisierung auf ihre Verwirklichung warten.

Das Märchen vom klaren Weg

Doch wer glaubt, es gehe hier allein um Waffen und Geld, der unterschätzt den Größenwahn der europäischen Chefstrategen. Denn was wäre eine geopolitische Erlösungsvision ohne die Verheißung eines „klaren Weges“? Die Ukraine soll nicht nur siegen, sie soll auch endlich dorthin, wo sie immer hingehörte: in die Europäische Union. Dass das Land derzeit in einem Zustand ist, der dem Kriterium der Kopenhagener Verträge ungefähr so nahekommt wie ein Basar in Kabul dem TÜV Rheinland, spielt dabei keine Rolle. Wichtig ist die symbolische Geste – die Vorstellung, dass man sich die eigene Zukunft kaufen könne wie ein Ticket für die Schnellbahn ins Paradies.

Der klare Weg ist dabei vor allem eines: ein nebliger Trampelpfad, gesäumt von Ausnahmegenehmigungen, moralischen Sonderrabatten und jener westlichen Geduld, die bei der Türkei nach 60 Jahren gerade erschöpft ist, bei der Ukraine aber als unendliche Ressource ausgegeben wird. Ein Weg, der am Ende nicht nach Brüssel, sondern direkt in die Arme des Internationalen Währungsfonds führen wird – und zwar mit einer Schuldenquote, die die griechische Tragödie wie eine launige Sommerkomödie erscheinen lässt.

Wer hinterherläuft, führt am besten

Was Kaja Kallas in ihrer frischen Inbrunst vielleicht nicht ahnt – oder vielleicht doch, und das wäre die eigentliche Pointe – ist, dass sie mit ihrer Forderung nach einer neuen Führung der freien Welt exakt jenen europäischen Fetisch bedient, der seit Jahrzehnten den Fortschritt blockiert: den heimlichen Traum, endlich von den USA unabhängig zu werden, während man gleichzeitig alles daran setzt, sich noch abhängiger zu machen. Der wahre Führer der freien Welt ist heute jener, der am zuverlässigsten den amerikanischen Parolen hinterherläuft. Und in dieser Disziplin ist Kallas eine Idealbesetzung.

Denn die größte Errungenschaft der europäischen Außenpolitik im 21. Jahrhundert ist es, jede eigene geopolitische Vision durch ein Mantra transatlantischer Gefolgschaft zu ersetzen. Washington sagt: Waffen liefern! Europa antwortet: Wie viel? Washington sagt: Sanktionen verschärfen! Europa fragt: Wie hart? Washington sagt: Der Sieg ist alternativlos! Europa applaudiert – und bezahlt. Die Führung liegt darin, sich möglichst kompetent zum Mitläufer zu degradieren.

Die Hohe Kunst des Daueroptimismus

So bleibt am Ende nur die bewundernswerte Fähigkeit, jede noch so absurde geopolitische Zielvorstellung mit stoischer Ernsthaftigkeit als unverhandelbar darzustellen. Kaja Kallas‘ Vision von einem Sieg der Ukraine, finanziert durch die geopolitische Selbstaufgabe Europas, ist dabei vielleicht das schönste Beispiel für jene intellektuelle Akrobatik, die den Kontinent zur wohl höflichsten Konkursmasse der Weltgeschichte gemacht hat.

Und dennoch: Wer wollte es ihr verdenken? Es gehört zur europäischen Tragik, dass wir uns unsere Illusionen wenigstens mit Stil leisten. Wenn schon Untergang, dann mit Sektglas in der Hand und moralisch erhobenem Zeigefinger. Wenn schon Führungsanspruch, dann als elegante Selbstparodie. Und wenn schon Sieg, dann bitte für immer – auch wenn wir ihn am Ende nur in den Fußnoten der Geschichte finden werden.

Frieden Schaffen mit Grünen Waffen

Der Krieg als Klimaschutzmaßnahme

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet jene, die einst mit Sonnenblumen im Haar gegen Pershing-Raketen demonstrierten, heute mit moralischer Inbrunst das neueste Waffenlieferungspaket beklatschen – selbstverständlich versehen mit dem Gütesiegel klimaneutraler Rüstung. Denn wenn schon Tötungswerkzeuge in den Lauf der Geschichte geworfen werden, dann doch bitte mit grünem Strom produziert und recycelfähig. Die Zeitenwende, so hört man, dulde keine halben Sachen: Das Töten muss nachhaltig werden, der Frieden emissionsarm. Die Panzer fahren elektrisch, die Drohnen fliegen mit Biokraftstoff, und auch das Munitionslager wird hoffentlich bald auf Wärmepumpen umgestellt.

Der hybride Heilige Krieg der Erneuerbaren

Der Pazifismus hat ausgedient, weil er nicht mehr lieferfähig ist. Zu weich, zu naiv, zu vorgestrig. Stattdessen erhebt sich ein neuer Habitus: der hybride Heilige Krieg der Erneuerbaren. Es ist ein Frieden, der aus der Mündung kommt – aber eben nur, wenn die Mündung emissionsfrei feuert. Der neue moralische Imperativ lautet: Wenn wir schon die Welt retten, dann bitte bis zur letzten Patrone. Der eLeopard 2 darf rollen, solange die Ökobilanz stimmt. Es geht schließlich um die richtige Seite der Geschichte.

Das Bio-Siegel für den Tod

Natürlich wird die Kriegswirtschaft noch nicht ganz den Standards der Klimakonferenzen gerecht. Aber man arbeitet daran. Der CO2-Fußabdruck der Bundeswehr soll bis 2030 halbiert werden, hieß es jüngst. Vielleicht wird es bald eine EU-Richtlinie für biologisch abbaubare Minen geben. Munition aus fair gehandelten Rohstoffen. Waffen, deren Einzelteile sich nach dem Gebrauch kompostieren lassen. Die ersten Prototypen von granatensicheren Photovoltaik-Westen sind bereits in der Konzeptphase. Der Tod muss sauber werden, die Apokalypse bitte plastikfrei.

Die zynische Ökologie des Krieges

Doch inmitten all der grünen Euphorie bleibt die zynische Dialektik dieser Bewegung unübersehbar. Die neuen Bellizisten schwärmen von Verteidigung der Freiheit, während sie Waffenlieferungen bejubeln, als wären es Zuschüsse für den Ausbau des ÖPNV. Sie brüllen „Nie wieder!“ und meinen damit nicht den Krieg, sondern nur die fossilen Brennstoffe, die ihn bislang begleiteten. Der Frieden als Erzählung wird durch den Krieg ersetzt, der sich wenigstens als nachhaltige Maßnahme etikettieren lässt. Es ist der logische Endpunkt einer politischen Klasse, die längst aufgehört hat, Widersprüche auszuhalten, und stattdessen in der bequemen Illusion einer moralischen Gesamtsanierung schwelgt.

Krieg mit gutem Gewissen

Am Ende bleibt ein absurdes Schauspiel: Während alte Pazifisten die neuen Rüstungsprogramme verteidigen, legen sie ihren Fokus darauf, dass die Flugabwehrraketen in recycelbaren Transportbehältern geliefert werden. Die Befreiung der Welt von Despoten und Klimagasen in einem Aufwasch. Der Mensch mag sterben, aber wenigstens hinterlässt er keine Plastikspuren. So wird der Krieg zum Idealzustand der Nachhaltigkeit erhoben – ein ewiger Kreislauf der grünen Selbstgerechtheit. Es bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens die Friedhöfe irgendwann CO2-neutral begrünt werden.

Oder wie es in der neuen strategischen Doktrin heißen könnte: Frieden schaffen mit grünen Waffen – für eine bessere Welt, die sich vielleicht irgendwann auch ganz ohne Menschen nachhaltig erhalten wird.

Ostfront 3.0

Von Jakob Blasel lernen, heißt siegen lernen

Es gibt Sätze, die gehören in die Annalen der politischen Rhetorik gemeißelt, Sätze, die sich so perfekt in das Zeitgeistgetriebe einfügen, dass man sich wundert, warum sie nicht längst von einer Künstlichen Intelligenz als Konsensprosa des Jahres ausgezeichnet wurden. Einer davon stammt von Jakob Blasel, seines Zeichens Bundessprecher der Grünen Jugend Deutschland. Der Satz lautet: Wer in dieser Weltlage noch immer zögert, Europas Freiheit auch mit Waffen zu verteidigen, ist nicht links – sondern naiv und unsolidarisch.

Nun mag man einwenden, dass ein junger Mann in Funktion einer Parteijugendorganisation vielleicht nicht zwingend das intellektuelle Rückgrat einer Bewegung verkörpert, sondern eher das emotionale Trampolin, auf dem sich die Ideen der Zukunft bereits heute schon warmhüpfen. Doch dieser Einwand griffe zu kurz. Denn die Grünen, einst die Mutter aller pazifistischen Bewegungen, haben sich in den vergangenen Jahren mit der Eleganz eines Leopardenpanzers in eine Partei verwandelt, die Krieg nicht nur als ultima ratio, sondern als moralische Pflicht zur Aufrechterhaltung der westlichen Wertegemeinschaft begreift. Da ist es nur folgerichtig, dass sich der Nachwuchs auf die Barrikaden der Twitter-Timeline begibt, um dort die Reihen der Zögerer, Zweifler und Zauderer mit verbalen Bajonetten auf Linie zu bringen.

Grüne Feldgrauromantik

Der ironische Twist, der sich bei der Lektüre von Blasels Mahnruf einstellt, besteht darin, dass er – ob gewollt oder nicht – eine der großen Traditionen linker Bewegungen in Deutschland reanimiert: die Begeisterung für den heroischen Opfergang in einem gerechten Krieg. Was wäre schließlich die deutsche Linke ohne ihren Hang zur militanten Selbstüberhöhung? Schon Karl Liebknecht wusste, dass die wahren Feinde im eigenen Land stehen, und wenn es sein muss, wird der eigene Klassenverrat eben mit Marschmusik kaschiert. In der grünen Variante bedeutet das: Wer nicht bereit ist, sich für Europas Freiheit von russischem Gas in den Schützengraben der moralischen Überlegenheit zu werfen, ist ein unsolidarischer Schwurbler.

Doch was bedeutet es eigentlich, Europas Freiheit mit Waffen zu verteidigen? Nun, in erster Linie natürlich, dass andere die Waffen tragen und bedienen. Das ist der große Vorteil des moralischen Imperativs: Er lässt sich bequem von der Homeoffice-Schnittstelle aus formulieren, während man sich einen Hafermilch-Cappuccino in die doppelt recycelbare Bambustasse gießt. Der moderne Bellizist trägt keine Uniform mehr, sondern einen Jutebeutel mit der Aufschrift Kein Mensch ist illegal, während er sich gedanklich an die Seite der ukrainischen Territorialverteidigung imaginiert. Man könnte fast sagen: Das Neue an Ostfront 3.0 ist, dass der Klassenkampf jetzt wieder in Klassen getrennt geführt wird.

Solidarität im Abonnement

Die Solidarität, von der Blasel spricht, ist eine äußerst flexible Währung. Sie lässt sich mit ein paar Tweets aufladen, durch Likes und Shares diversifizieren und in moralischer Rendite verzinsen. Es ist die Solidarität jener, die für die richtige Sache auf die Straße gehen, aber für die falsche Sache den öffentlichen Nahverkehr bevorzugen. Der wahre Held dieser Zeit ist nicht der Deserteur, sondern der Denunziant, der mit Instagram-Filtern und #StandWithUkraine-Profilbildern seine Wehrbereitschaft unter Beweis stellt.

Wer dagegen auf die Idee kommt, dass Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet vielleicht nicht das geeignetste Mittel sind, um den Weltfrieden zu stabilisieren, gerät schnell in den Verdacht, ein Putintroll, Querfrontler oder – Gott bewahre – naiv zu sein. Die Naivität, einst ein liebevoller Makel romantischer Weltverbesserer, ist in der grünen Kriegsrhetorik zum Stigma der Gestrigen geworden. Die neue Realpolitik trägt Camouflage, nur dass die Muster jetzt gendergerecht diversifiziert sind.

Wir werden uns den Krieg nicht nehmen lassen

So ziehen sie also wieder gen Osten, die Geister der Geschichte, diesmal in Lastenrädern und mit Fridays-for-Future-Stickern auf den Kampfstiefeln. Die Generation, die keine Lust auf Krieg hatte, bekommt ihn jetzt als moralische Bringschuld verordnet. Und weil die größte Unverschämtheit der Gewalt bekanntlich ihre Verweigerung ist, bleibt nur die Frage, wann das erste Freiwilligen-Bataillon der Grünen Jugend aufbricht, um in der Ostukraine für die Freiheit des Westens zu kämpfen.

Man darf gespannt sein, ob Herr Blasel seine Meldung bereits abgegeben hat. Die Bundeswehr hat schließlich Nachwuchsprobleme, und was könnte unsolidarischer sein, als in dieser Weltlage den Job der Waffenverteidigung ausschließlich den anderen zu überlassen? Vielleicht wäre das ja der nächste logische Schritt der Wehrbereitschaft: eine Grüne Jugend International Brigade – mit veganem Proviant, genderneutralen Uniformen und CO₂-neutraler Munition.

Bis es so weit ist, bleibt uns immerhin der Trost, dass es für die endgültige Mobilmachung bislang nur Worte braucht. Die Grünen haben bekanntlich immer schon mehr Bücher geworfen als Bomben. Nur dass sie mittlerweile nicht mehr so genau wissen, auf welcher Seite des Schützengrabens sie landen.

Die österreichische Neutralität

Es war einmal ein kleines Land im Herzen Europas, dessen größte diplomatische Errungenschaft darin bestand, niemandem auf die Nerven zu gehen. Man nannte es neutral. Ein goldener Mythos, geboren im Kalten Krieg, als Österreichs Staatsvertrag unterzeichnet wurde und man sich mit staatsmännischer Gravitas und einem gewissen Wiener Schmäh die Absolution für die eigene historische Mitläuferschaft erkaufte – mit einem Versprechen, das sich so schön anhörte wie ein Heurigenlied nach der vierten Runde: Immerwährende Neutralität.

Nun, am Aschermittwoch des Jahres 2025, stand also ein Herr Dengler von den NEOS im Hohen Haus und sprach jene Worte, die mit der nüchternen Brutalität einer Kontokündigung daherkommen: „Die österreichische Neutralität ist vorbei.“ Und man fragt sich, ob dieser Mann sich jemals das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 zu Gemüte geführt hat – jenes sakrosankte Dokument, das unsere Unparteilichkeit wie ein k.u.k. Spitzendeckerl über den republikanischen Tisch breitet. Nein, Herr Dengler, die Neutralität ist nicht vorbei. Aber sie stirbt langsam, von ihrem eigenen Pflegepersonal erwürgt.

Kreisky im Spinmodus

Bruno Kreisky, der große alte Mann der österreichischen Außenpolitik, dürfte mittlerweile mit einer Drehgeschwindigkeit durch sein Ehrengrab rotieren, dass man damit halb Wien mit Ökostrom versorgen könnte. Der Gedanke, dass ausgerechnet eine Außenministerin von den NEOS – jener Partei, die sich für den Fortschritt hält, aber in Wirklichkeit nur ein überdimensionierter LinkedIn-Post ist – nun den außenpolitischen Taktstock führt, grenzt an metaphysische Ironie.

„Unverbrüchliche Treue der Republik“ – so lautet der Amtseid, den jeder Abgeordnete im Parlament schwört. Ein schönes Wort, unverbrüchlich. Man spürt förmlich den altmodischen Anstand, der darin schwingt – als würde man von einem bürgerlichen Lehnstuhl aus mit einem Gläschen Zweigelt auf die Weltlage blicken. Doch leider ist die politische Klasse der Gegenwart eher mit der unverbrüchlichen Treue zur NATO-Pressestelle gesegnet. Neutralität? Das klingt heute für manche wie ein Relikt aus der analogen Ära, wie ein Wählscheibentelefon in einem Coworking-Space.

Der Pragmatismus der Feigheit

Natürlich, die Welt hat sich verändert. Russland führt Krieg, die USA drängen zur Geschlossenheit, und Österreichs Politiker möchten beim großen Tisch der Moralapostel wenigstens am Katzentisch Platz nehmen. Man will dazugehören. Mitspielen. Endlich auch einmal im NATO-Zelt mitrauchen, selbst wenn man sich dabei nur den Filter in den Mund steckt. Die Neutralität hingegen? Ein hinderliches Relikt, ein nostalgisches Souvenir aus einer Zeit, in der die Welt noch in zwei Hälften geteilt war und Österreich sich mit der geschickten Eleganz eines Fiakergespanns genau dazwischen parkte.

Man könnte ja wenigstens ehrlich sein. Man könnte sagen: Ja, die Neutralität war einmal gut, aber jetzt ist sie uns im Weg. Aber nein, die österreichische Methode verlangt eine andere Choreographie. Man beruft sich auf den Pragmatismus, was in der politischen Sprache Wiens bloß ein Synonym für die feige Kapitulation vor dem Zeitgeist ist. Man erklärt die Neutralität für unzeitgemäß, während man sie gleichzeitig in den Sonntagsreden als sakrosankten Bestandteil der nationalen Identität beschwört.

Der Kuss des Technokratentodes

Die NEOS, diese freundlichen Technokraten in Pastellfarben, sind nicht per se die Totengräber der österreichischen Neutralität – aber sie übernehmen den Kuss des Todes mit der professionellen Kühle eines Unternehmensberaters, der einem Traditionsbetrieb die letzten Sozialleistungen aus den Rippen rechnet. Ein bisschen mehr Integration in die Europäische Verteidigungspolitik hier, ein paar unverbindliche NATO-Kooperationsabkommen dort – am Ende steht der Patient politisch tot im Sarg, während die Partei für ihre Modernität gelobt wird.

Die Realsatire als Regierungsprogramm

Dass nun ausgerechnet diese Partei das Außenministerium besetzt, könnte eine köstliche Pointe sein, wenn es nicht so tragisch wäre. Eine Partei, die im Wesentlichen aus liberalen Wochenendphilosophen und Start-up-Optimisten besteht, wird nun Österreichs Position in der Welt vertreten. Vielleicht ist es nur konsequent: Wer an die unsichtbare Hand des Marktes glaubt, hält auch die Neutralität für einen nachrangigen Punkt im Businessplan.

Doch während sich die politische Elite in die neuen Zeiten einordnet, bleibt die alte Wahrheit bestehen: Neutralität ist nicht nur ein politisches Konzept, sondern ein Charakterzug. Und dieser Charakterzug war, bei aller Ironie, immer der letzte Rest moralischer Eigenständigkeit, den sich dieses Land bewahrt hatte.

Vielleicht wird man in ein paar Jahren am Wiener Heldenplatz eine kleine Gedenktafel anbringen: „Hier ruhte die österreichische Neutralität. Gestorben an Opportunismus, Pragmatismus und einer Parteichefin mit PowerPoint-Kompetenz.“

In unverbrüchlicher Treue, versteht sich.

DANKE, GENOSSE ANDI!

Kickl wird’s freuen.

Es gibt Momente in der politischen Choreographie, da kann man nur ehrfürchtig den Hut ziehen. Wenn die große Symphonie des Neoliberalismus mit chirurgischer Präzision genau jene Töne trifft, die in den Ohren der Besitzlosen wie blanker Hohn klingen, dann bedarf es keiner weiteren Kritik mehr – die Farce steht für sich. Also: Danke, Genosse Andi! Die soziale Frage ist gelöst, und zwar mit der feinen Spitzhacke einer bürgerlichen Elitenverwaltung, die es vorzieht, die Armen diskret unter der Armutsgrenze zu versenken, anstatt sie mit unschicklicher Gleichheit zu belästigen.

Der Chef des WIFO, Gabriel Felbermayr, seines Zeichens wissenschaftlicher Einflüsterer der politischen Mittelmäßigkeit, hat sich nun also bemüßigt gefühlt, in seiner Rolle als intellektuelle Rückendeckung der österreichischen Version von Sozialabbau mit humanitärem Antlitz das Offensichtliche zu bestätigen: Die Schwachen trifft es härter. Die Armen sind ärmer, die Reichen reicher – who would have thought? Was in der Kabarettkunst als Plattitüde gelten würde, ist im akademisch-technokratischen Politiksprech offenbar eine bahnbrechende Erkenntnis. Möge man ihm einen Nobelpreis für angewandte Banalisierung verleihen!

Wenn das System Armut produziert – und die Ampel sie verwaltet

Die herrschende Ideologie der Gegenwart, jener liberale Marktfetischismus mit sozialdemokratischer PR-Maske, versteht sich nämlich blendend darauf, die Ungleichheit nicht zu beseitigen, sondern bloß so zu moderieren, dass sie hübsch aussieht. Es ist die hohe Kunst der rot-grün-gelben Tranquilizer-Politik: Man gibt ein paar Brosamen ab, schmiert ein wenig Almosenbutter auf die trockene Brotkruste, verteilt ein paar Heizkostenzuschüsse an die chronisch Unterkühlten – und nennt das Ganze dann „sozial ausgewogen“. Dass währenddessen die Immobilienhaie weiter ihre Zähne im weichen Fleisch der Wohnungsnot versenken, die Energiekonzerne ihre Profitexzesse unter dem Deckmantel der Klimawende feiern und die Superreichen ihre Depots mit jenen Hilfspaketen füllen, die für die Unterschicht gedacht waren – geschenkt.

Felbermayrs Beitrag zur Debatte gleicht einem meteorologischen Bericht aus der Hölle: Es wird wärmer, besonders für jene, die kein Dach über dem Kopf haben. Dass die unteren Einkommensschichten „weniger Möglichkeiten haben, es sich zu richten“, ist eine so unfassbare Untertreibung, dass man fast ein Denkmal für diese Form der Sprachvermeidung errichten möchte. Tatsächlich haben die Betroffenen keinerlei Möglichkeiten, sich irgendetwas zu richten – außer vielleicht das Haltbarkeitsdatum von abgelaufenen Lebensmitteln im Supermarktcontainer.

Der neue Klassenkampf – von oben nach unten

Währenddessen müht sich die Ampelkoalition redlich, den längst entschiedenen Klassenkampf von oben nach unten in ein philanthropisches Missverständnis umzudekorieren. Man verteilt die Armut mit der gleichen Gerechtigkeit, mit der ein Altwarenhändler den Sperrmüll auf dem Gehsteig verteilt: Jeder darf sich bedienen, aber nur, wenn er es sich leisten kann, früh genug dort zu sein. Die eigentliche Pointe ist, dass der moralische Kredit für diese Art der Gnadenverwaltung trotzdem bei den Grünen und Sozialdemokraten verbucht wird – während die FPÖ in aller Ruhe das Unzufriedenheitskapital verzinst.

Das größte Kunststück in diesem ganzen Spektakel besteht allerdings darin, die soziale Kälte als natürliche Begleiterscheinung des Klimawandels zu verkaufen. Während die Welt draußen überhitzt, frieren die Menschen in ihren Wohnungen – das ist jene Form von Ironie, die in der Literatur als geniale Groteske durchgehen würde, in der Politik aber schlicht als Sachzwang firmiert. Wer da noch von Verschwörungstheorien redet, hat den wahren Geist der Epoche nicht verstanden.

Solidarität als Standortnachteil

Die heilige Dreifaltigkeit der zeitgenössischen Wirtschaftspolitik lautet: Wettbewerbsfähigkeit, Standortattraktivität und Marktanpassung. Übersetzt bedeutet das: Solidarität ist ein Standortnachteil, Armut eine marktgerechte Verhaltensanpassung und soziale Gerechtigkeit eine sentimentale Marotte aus einer längst vergangenen Ära. Der Kapitalismus unserer Tage gibt sich nicht einmal mehr die Mühe, seine hässliche Fratze hinter dem sozialen Puder des Wohlfahrtsstaats zu verstecken – stattdessen wird das nackte Elend mit bürokratischer Kälte verwaltet.

Dass sich Kickl darüber freut, ist nicht etwa ein bedauerlicher Kollateralschaden – es ist Teil des Plans. Die Mitte entkernt sich selbst, die Linke vertagt ihre Revolution auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, und die Rechten übernehmen den Rest. Man nennt das in der politischen Betriebsanleitung wohl „alternativlose Realpolitik“.

Danke, Genosse Andi!

Danke dafür, dass du in der großen Tradition der Sozialdemokratie die soziale Frage gleich selbst mitbeerdigst, bevor sich irgendjemand daran erinnert, dass es auch anders ginge. Danke, dass du den neoliberalen Klassenkampf so geschmeidig moderierst, dass die Betroffenen gar nicht merken, wer ihnen gerade die letzte Hoffnung abräumt. Danke, dass du dem autoritären Populismus schon mal die rote Teppichbrücke über den sozialen Abgrund baust.

Kickl wird’s freuen – und er muss nicht einmal etwas dafür tun. Er braucht nur zu warten, bis der Markt die Armen erzogen hat.