Man muss Ursula von der Leyen fast bewundern. Nicht für die elegante Kontrolle über Haushaltszahlen, Impfstoffverträge oder Transparenz – das wäre ja zu gewöhnlich –, sondern für ihr makelloses politisches Fingerspitzengefühl, immer genau dort nachzulegen, wo Europas Demokratie ein klein wenig zu entspannt wirkt. Während die Bürger gemütlich in ihre Smartphones tippen, als sei die digitale Welt ein gutmütiges Tamagotchi, schiebt Ursula, große Schwester im Brüsseler Wohnzimmer, leise und doch unerbittlich die Möbel um. Denn Sicherheit braucht Platz, und Privatsphäre nimmt bekanntlich viel zu viel davon ein. Da überrascht es nicht, dass plötzlich eine ganze Architektur aus Überwachungsgerüsten emporragt: Chat-Scans, Altersüberprüfung, Client-Side-Scanning – so viele hochmoderne Sorglosigkeitsversprechen, dass man sich fragt, warum Europa nicht schon längst ein paradiesischer Ort der Unschuld ist. Vermutlich weil der Bürger, dieses störrische Wesen, immer noch so lästig selbstbestimmt sein will. Sehr unzeitgemäß.
Der neue Hofstaat in Brüssel: Wo die Privatsphäre höflich den Raum verlässt
Man stelle sich den EU-Rat vor wie eine Art modernisierten Absolutismus: ein höfischer Tanz, bei dem jede Nation ihre Zustimmung mit der Grazie eines gut geölten Automaten serviert. Österreich hebt die Hand, nicht weil es muss, sondern weil es irgendwie dazugehört. Die höfische Etikette ist streng: Wer gegen Überwachung votiert, steht schnell als Exot da, als jemand, der noch an eigenständiges Denken glaubt – und das kann im 21. Jahrhundert niemand ernsthaft wollen. Also nickt man in Wien fröhlich mit, während man gleichzeitig beteuert, völlig gegen Überwachungsmaßnahmen zu sein, was ungefähr so glaubwürdig wirkt, wie wenn ein Dieb schwört, er sei nur zufällig mit dem Brecheisen im Schlafzimmer fremder Leute eingeschlafen.
Was dabei erstaunlich unterhaltsam ist: Alle reden von freiwilligen Scans. Freiwillig! Ein Wort, das in Brüssel bedeutet: Ihr dürft es freiwillig tun, aber wehe, ihr tut es nicht, dann fragen wir in drei Jahren noch einmal und machen es zur Pflicht. Frei wie ein Vogel, der entscheiden darf, ob er in den Käfig fliegt – oder hineingeschoben wird. Ein Meisterwerk politischer Semantik, subtil wie ein Presslufthammer.
Big Brother is watching you? Pah. Big Sister liest vorher schon mit.
Der Witz an der Sache: Während Orwell 1984 schrieb, wusste er nicht, wie niedlich Big Brother einmal aussehen würde – oder dass Big Sister Ursula den Kaffee serviert, während sie uns in einer Art fürsorglicher Paranoia alles aus dem Smartphone puhlt, was irgendwie nach Unsauberkeit riecht. Der große Bruder war ein martialischer Autokrat. Die große Schwester ist eine Art digitaler Hygienebeauftragter: Sie desinfiziert private Nachrichten präventiv, bevor sie überhaupt verschlüsselt sind. Client-Side-Scanning nennt sich das. Ein bisschen wie wenn die Polizei dein Auto durchsucht, bevor du überhaupt losfährst, und dir dann sehr freundlich dafür dankt, dass du deine Grundrechte zur Verfügung stellst. Bürgernähe à la Bruxelles.
Natürlich alles nur, damit keine abgründigen Verbrechen geschehen – und wer könnte schon etwas dagegen haben? Das ist der geniale, fast schon poetische Dreh: Der Bürger wird eingeladen, sein Misstrauen gegenüber flächendeckender Überwachung einzustellen, weil alles unter dem Banner des Kinderschutzes geschieht. Ein mächtiges moralisches Schutzschild, das jede kritische Frage automatisch in den Verdacht der Unmenschlichkeit versetzt. Ein psychologisches Kunststück – und die EU beherrscht es virtuos.
Altersverifikation: Die neue Eintrittskarte ins digitale Leben
Wie gemütlich doch die Zukunft wird: Man will nur kurz seine Nachrichten checken, und schon hält der Algorithmus höflich die Hand auf: „Ausweis, bitte.“ Ein Gesichtsscan hier, ein Bankdatenabgleich da – und schon ist man bereit für die freie Meinungsäußerung 2.0. Das digitale Ich wird dadurch so eindeutig wie die Steuer-ID, die wir ohnehin alle im Schlaf aufsagen können. Wer bisher dachte, das Internet sei ein Ort voller kreativer Identitäten, voller Pseudonyme, Avatare und künstlicher Charaktere, wird feststellen, dass die EU-Regulatorik diesen Wildwuchs sehr unästhetisch findet. Ordnung muss sein. Und Ordnung beginnt dort, wo niemand mehr anonym ist.
Die Ironie ist herrlich: Gerade jene Generation, die sich ohnehin nicht davor scheut, ihre halbe Existenz auf Instagram zu dokumentieren, wird nun durch technische Zwangsverifikationen endgültig in die nackte Wahrheit gezerrt. Teenager, die sich seit jeher erfinderische Ausreden ausdenken, um Elternkontrollen zu umgehen, werden sich künftig mit biometrischer Perfektion authentifizieren müssen, bevor sie jemandem ein Meme schicken. Wie praktisch, dass die Geräte alles speichern. Was könnte da schiefgehen?
Der gläserne Bürger: Von der Transparenz zur Transzendenz
Die EU nennt es Risikominimierung, Datenschützer nennen es Albtraum. Und irgendwo zwischen diesen Polen steht der Bürger, der inzwischen gelernt hat, dass „vorübergehend“ in Brüssel eine zeitliche Kategorie ist, die ungefähr so verlässlich ist wie die Haltbarkeit von Quark im Sonnenschein. Die zunächst befristete Sonderregelung wird deshalb – welch Zufall – dauerhaft. Damit freiwillige Scans auch weiterhin freiwillig bleiben können, ohne je wirklich aus der Welt zu verschwinden. Ein eleganter Schritt, der jeden Skeptiker beruhigen soll: Die EU würde nie und nimmer eine freiheitliche Grundordnung unterlaufen. Sie würde sie höchstens modernisieren – und modern heißt im europäischen Verwaltungsdeutsch: effizient durchleuchten.
Dass der Bürger in diesem Prozess zum Datenspender wird, ist lediglich die systemische Zusatzfunktion. Denn Daten sind das neue Öl, und wer wäre die EU, wenn sie nicht zumindest probieren würde, ihr eigenes digitales Bohrloch in unser Kommunikationsverhalten zu setzen? Ein Schatz, so sagt man, wartet unter der Erde. Und ein noch größerer in unseren Smartphones.
Die Demokratie im Fitnessstudio der Überwachung
Skeptiker behaupten ja gerne, Überwachung führe zur Erosion demokratischer Strukturen. Brüssel hingegen sieht das sportlicher: Demokratie muss flexibel bleiben, elastisch, belastbar. Ein wenig Überwachungsstretching schadet da nicht. Wenn man Journalisten, Anwälten oder Ärzten zuhört, klingt das allerdings weniger nach Fitnessstudio und mehr nach einer schleichenden systemischen Muskelzerrung. Pressefreiheit, Berufsgeheimnis, Whistleblower-Schutz – alles hübsche Accessoires einer alten Ordnung, die jetzt für die neue Ära der Sicherheit auf Figur gebracht werden müssen.
Wie beruhigend, dass ein eigens errichtetes EU-Zentrum bis 2030 mehr als hundert Millionen Euro verschlingen wird, um all die Meldungen aus den Messengern zu sortieren. Das klingt fast wie ein Jobprogramm für Datenarchäologen, die in den Sedimentschichten unserer digitalen Intimitäten nach verwertbaren Fragmenten graben. Jede Gesellschaft braucht schließlich ihre Priesterschaft – und warum nicht eine, die sich in der digitalen Beichte auskennt?
Wenn Konzerne anfangen zu drohen, wird’s spaßig
Signal, Threema und andere Messenger-Unternehmen erklärten bereits, sie würden sich eher aus der EU zurückziehen, als ihre Verschlüsselung auszuhebeln. Das hat fast etwas Romantisches: ein zartrosa Hauch digitaler Rebellion. Schwer bewaffnete Datenschützer in Kapuzenpullovern, die sich weigern, die Kryptografie zu verraten. Und die EU steht daneben und fragt sich verwirrt, warum private Firmen plötzlich moralische Rückgrate entwickeln. Man war aus Brüssel gewohnt, dass die Wirtschaft niederkniet, wenn nur ausreichend Formularwesen versprochen wird.
Dass das jetzt anders ist, könnte man als Warnsignal verstehen. Oder – wie Ursula es vermutlich formulieren würde – als Anlass, die Regulierung noch ein klein wenig besser zu machen. Schließlich darf kein Anbieter glauben, er könne sich der wohlmeinenden Umarmung europäischer Gesetzgebung entziehen. Freiheit ist schließlich dort am schönsten, wo sie geregelt ist.
Der politische Widerstand: Ein Chor seltsamer Einigkeit
In einer beeindruckenden Wendung zeigt sich, dass sowohl rechte als auch linke Opposition mit der EU plötzlich einer Meinung sind – ein historisches Ereignis, das ungefähr so häufig vorkommt wie ein defizitfreier EU-Haushalt. Die FPÖ sieht die Grundrechte in Trümmern, die Grünen wittern Rechtsbruch und Überwachungsdammbruch. Wenn politische Gegner sich so leidenschaftlich einig sind, sollte das eigentlich Alarm auslösen. Doch in Brüssel interpretiert man solche Einigkeit traditionell als Bestätigung, dass der Kompromiss ausgewogen ist. Schließlich sind beide Seiten unzufrieden – die reine demokratische Harmonie!
Der Bürger allerdings, diesem Konflikt ausgesetzt, fühlt sich wie ein Kind in einer Scheidung: Beide streiten, beide schreien, und er weiß nicht, ob er nun von der EU oder den Nationalstaaten erzogen – pardon: überwacht – wird.
Finale: Ein Monster entsteht – und alle hoffen, es sei vegan
Am Ende bleibt das Versprechen, dass alles nur zum Schutz der Kinder geschieht. Ein völlig valides Anliegen, das tragischerweise als moralischer Rammbock missbraucht wird, um eine Überwachungsarchitektur aufzubauen, die selbst ein autoritärer Staat nur mit leuchtenden Augen betrachten könnte. Brüssel baut ein Monster, so sagen Kritiker – aber eines, das hoffentlich harmlos bleibt, weil es freiwillig gefüttert wird. Man könnte sich fast entspannt zurücklehnen, wäre da nicht das dumpfe Gefühl, dass Monster selten bei der Diät bleiben, die man ihnen anfangs verordnet.
Europa will sicherer werden, sagen die Architekten des neuen Überwachungskontinents. Und vielleicht werden wir es sogar. Aber sicherer wovor? Vor Verbrechen – oder vor Freiheit?
Ein feiner Unterschied, den Big Sister Ursula vermutlich in einem ihrer vielen Ordner abgeheftet hat. Zwischen „Sicherheit“ und „Privatsphäre“, alphabetisch sortiert, liegt nur ein Blatt Papier. Und die Schere steht schon bereit.