Die Verlorene Kunst des Differenzierens

In einer Welt, die so gerne in Schwarz und Weiß denkt, ist es schon fast ein Kunststück, die Zwischentöne zu erkennen. Doch leider gibt es heutzutage kaum noch jemanden, der sich der Kunst des Differenzierens befleißigt. Im Gegenteil: Der heilige Krieg gegen Ungleichheit hat uns zu einem Volk gemacht, das nichts mehr zu tun hat, als in endlosen, empörten Monologen über Gerechtigkeit zu schwelgen. Und mittendrin in diesem Sturm der Empörung steht die Linke – die unerschütterliche Hüterin der sozialen Gerechtigkeit – mit einem tragischen Missverständnis: Ihrer Überzeugung, dass jede Ungleichheit das Resultat von Diskriminierung und jeder Erfolg das Resultat von Privilegien ist. Was könnte in dieser Welt mehr zum Wahnsinn führen als diese simplifizierte Sichtweise?

Ganz einfach: Die Tatsache, dass diese Weltsicht von ihren Anhängern nach wie vor als einzig wahr und moralisch richtig angesehen wird, ungeachtet der Tatsache, dass sie in ihrer Naivität die tiefere Komplexität menschlicher Gesellschaften ignoriert. Wer sich einmal die Mühe macht, hinter die Fassade dieses vor sich hin blubbernden Gutmenschentums zu blicken, wird feststellen, dass dort nicht nur ein Haufen guter Absichten auf der Strecke bleibt, sondern auch ein ganzes Arsenal an unrealistischen, oftmals selbstzerstörerischen Überzeugungen.

Die Ursprungsideologie: Gleichheit als Allheilmittel

„Gleichheit für alle!“ lautet der Schlachtruf der Linken, und wer sich diesem nicht anschließt, der ist mindestens ein Scherge des Kapitalismus oder, noch schlimmer, ein neoliberaler Opportunist. Dabei ist die Vorstellung von absoluter Gleichheit eine ebenso schöne wie gefährliche Illusion. Denn was ist „Gleichheit“ wirklich? Gleichheit vor dem Gesetz, sicher. Gleiche Chancen, auch das ist ein Ziel, das man anstreben sollte. Aber die Vorstellung, dass jeder Mensch exakt dieselben Möglichkeiten im Leben haben muss, dass alle gleichermaßen erfolgreich oder weniger erfolgreich sind, führt in eine Welt, die von einer totalitären Einheitsordnung geprägt wäre. Eine Welt, in der das individuelle Streben nach Exzellenz und persönlichem Erfolg nicht mehr belohnt, sondern als Bedrohung des kollektiven „Gleichheitsgedankens“ unterdrückt wird.

Die Linke, in ihrer Unschuld, hat sich der vermeintlichen Tugend verschrieben, jede Form von Ungleichheit als einen inakzeptablen Fehler des Systems zu betrachten. Unausweichlich führt diese Haltung zu einem Dilemma, das auf den ersten Blick nicht sichtbar ist: die Gleichmacherei. Denn Ungleichheiten sind nicht einfach das Ergebnis von Diskriminierung oder Privilegien – sie sind eine natürliche Konsequenz der unterschiedlichen Talente, Ambitionen und Lebensentscheidungen, die Menschen treffen. Dies zu leugnen bedeutet, die ganze menschliche Erfahrung zu verfälschen und zu nivellieren, als ob alle Menschen, unabhängig von ihren persönlichen Umständen, exakt die gleichen Potenziale und Voraussetzungen hätten.

Privilegien: Der große Sündenbock der Linken

Ein weiteres Lieblingsspiel der Linken ist es, „Privilegien“ zu identifizieren, vorzugsweise dort, wo sie am wenigsten zu finden sind. Wer Erfolg hat, muss – so die ständige Lehre der Linken – dies einzig und allein seinem Privileg verdanken, nicht etwa seinem Fleiß, seiner Intelligenz oder seiner Fähigkeiten. Der Mensch, der aus eigener Kraft in einem System, das angeblich auf Diskriminierung und Ausbeutung fußt, erfolgreich ist, wird sogleich in das unsichtbare Netz der Privilegien verstrickt. Er ist der Benefizient eines unsichtbaren, privilegierten Systems, das ihm seine Erfolge auf einem silbernen Tablett serviert hat.

Doch wie oft haben wir schon den zynischen Blick der Linken auf erfolgreiche Menschen gesehen, die trotz aller Hindernisse und Widrigkeiten das erreicht haben, was sie sich vorgenommen haben? Statt zu fragen, wie jemand es geschafft hat, auf eigenen Beinen zu stehen, wird unermüdlich nach einem unsichtbaren, ungerechten Vorteil gesucht, der ihm den Erfolg angeblich erleichtert hat. Aber ist es nicht vielmehr so, dass der Erfolg derjenigen, die ihn erringen, meist das Resultat unermüdlicher Arbeit, Zielstrebigkeit und der Fähigkeit ist, in einem System voller Widrigkeiten zu überleben? Nein, dies wird nicht anerkannt. Stattdessen wird in die „Privilegien“ der Erfolgreichen auf der Suche nach dem systematischen Fehler gezeigt – als ob Erfolg nur unter der Prämisse einer ungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen möglich sein könne.

Ein klassisches Beispiel ist der Fall des erfolgreichen Unternehmers, der nicht nur aufgrund seiner wirtschaftlichen Kompetenz und Risikobereitschaft reich geworden ist, sondern nun auch für das „Leiden der Armen“ verantwortlich gemacht wird. Dieser Unternehmer wird nicht mehr als Produkt seiner eigenen Bemühungen wahrgenommen, sondern als der unverschämte Ausbeuter, der vom „privilegierten Status“ der Gesellschaft profitiert. Die Linke vergisst hierbei leider allzu oft, dass die wahre Gerechtigkeit nicht in der Umverteilung von Reichtum besteht, sondern in der Schaffung gleicher Chancen für alle. Doch anstatt diese Chance zu erkennen, wird der Erfolg eines Einzelnen als ein Verbrechen gegen die Gesellschaft stigmatisiert.

Der kollektive Wahnsinn der Gleichmacherei

Die Tragödie der Linken liegt jedoch nicht nur in ihrer verzerrten Sicht auf Privilegien und Ungleichheit, sondern in der Tatsache, dass sie diese Sichtweise in eine absolute Dogmatik überführt hat. Alles, was nicht ihrem Weltbild entspricht, wird sofort als „reaktionär“, „kapitalistisch“ oder schlimmer noch als „faschistisch“ gebrandmarkt. Der Diskurs über Gerechtigkeit ist längst kein konstruktiver Dialog mehr – er ist zu einer Inquisition geworden, bei der jeder Andersdenkende die Rolle des Häretikers übernimmt. Wer es wagt, die heilige Gleichheitsdoktrin zu hinterfragen, wird umgehend in die Ecke der „Rechten“ gestellt, als ob es nur noch zwei Lager gäbe: die Heiligen der Linken und die Dämonen des Restes der Gesellschaft.

Dabei ist die Vorstellung von einer Gesellschaft, in der jeder das gleiche Ergebnis erzielt, eine perfide Fiktion. Erfolgreiche Menschen, die aus eigener Kraft Wohlstand erlangen, sind keine bösen Kapitalisten, die sich auf den Rücken der Armen bereichern. Sie sind vielmehr das Resultat einer Gesellschaft, die es ermöglicht, durch harte Arbeit und Innovation aus dem eigenen Schicksal herauszutreten. Die Linke aber hat sich entschieden, diese individuelle Leistung zu verunglimpfen, um das eigene Weltbild der „Gleichheit“ zu stützen.

Die ironische Pointe: Der Wahnsinn der Gerechtigkeit

Am Ende dieses Diskurses steht die bittere Ironie: Diejenigen, die sich am lautesten als die Hüter der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichheit im Namen des Volkes präsentieren, sind oft die, die die natürliche Ordnung der Gesellschaft am meisten zerstören. Sie schlagen mit einer Faust in die Luft, um gegen die „privilegierten“ Reichen zu kämpfen, aber vergessen dabei, dass auch die „Reichen“ – die ganz normalen Menschen – das Produkt einer Gesellschaft sind, die auf individuellen Leistungen beruht. Sie kämpfen gegen den Erfolg und den freien Willen, als ob der Kapitalismus der größte Feind der Menschheit wäre, ohne zu erkennen, dass der Kapitalismus auch der einzige Mechanismus ist, der Wohlstand und Fortschritt möglich macht.

Und so bleibt uns nur noch ein Fazit: Wer die Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung unterdrückt, nur um eine utopische Gleichheitsvision zu verfolgen, treibt nicht nur die Gesellschaft in den Wahnsinn, sondern auch sich selbst. Der wahre Wahnsinn liegt nicht in der Ungleichheit – er liegt in der ständigen, dogmatischen Suche nach einem universellen Feindbild, das nicht existiert, aber in den Köpfen einer Generation von selbsternannten Gerechtigkeitsaposteln weiterlebt.

Schlusswort: Die Linke hat die Ungleichheit zum Feind erklärt – doch in Wahrheit kämpft sie gegen die Essenz des Menschseins selbst: gegen die Tatsache, dass wir unterschiedlich sind, mit unterschiedlichen Fähigkeiten, unterschiedlichen Zielen und unterschiedlichen Wegen, die wir beschreiten. Der wahre Wahnsinn? Es ist der Versuch, diese Differenzen zu leugnen und sie als Ungerechtigkeit zu bezeichnen, anstatt sie zu akzeptieren und als Teil unserer menschlichen Erfahrung zu feiern.

Die Erfindung von Feindbildern

Was eigentlich passiert

Es gibt Themen, die eine erstaunliche Fähigkeit besitzen, den Verstand zu vernebeln und die Sprache zu entweihen. Und dann gibt es Israel – ein Land, das für seine Kritiker unermüdlich der Inbegriff von allem zu sein scheint, was an „bösen“ und „unmenschlichen“ politischen Systemen denkbar ist. Israel wird regelmäßig mit den schwersten Begriffen der Geschichte konfrontiert – mit Genozid, Kolonialismus und Apartheid. Aber was steckt wirklich hinter diesen Vorwürfen? Und noch wichtiger: Was ist die Agenda, die diese Begriffe in solch einer grotesken Weise entfremdet?

Es ist eine bizarre, fast schon surreale Entwicklung, dass diese Begriffe, die historisch so schwer beladen sind, von so vielen Menschen heute mit einer unheilvollen Leichtigkeit verwendet werden. Als hätte der Maßstab für das Grauen der Menschheit nie existiert. Die Ungeheuerlichkeiten des Nationalsozialismus, die Verbrechen des Kolonialismus oder das Apartheidsregime in Südafrika – all das wird in einem Atemzug mit Israel genannt, als ob der jüdische Staat diese Verbrechen begangen hätte. Man könnte meinen, man befinde sich in einem absurde Umkehrung der Geschichte, in der Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern werden. Aber lassen Sie uns der Sache auf den Grund gehen.

Genozid: Eine perfide Verdrehung der Realität

Genozid. Ein Wort, das für viele eine schmerzliche, unvorstellbare Tragödie heraufbeschwört. Genozid ist das systematische, absichtliche Auslöschen eines Volkes – ein Verbrechen, das keine Entschuldigung kennt und dessen Schatten für immer auf der Geschichte lasten. Und doch wird Israel immer wieder des Genozids bezichtigt. Ein Land, das sich seit seiner Gründung im Jahr 1948 ununterbrochen gegen Feinde verteidigen muss, die nicht nur das Existenzrecht Israels infrage stellen, sondern auch die Existenz der Juden selbst. Ein Land, das auf seinen Kriegseinsätzen immer wieder betont, so präzise wie möglich zu agieren, trotz der Herausforderungen, die ein solcher asymmetrischer Krieg mit sich bringt.

Und hier wird es tragisch. Die Anklage des Genozids, die gegen Israel erhoben wird, ist eine politische Lüge, die die wahre Bedeutung des Begriffs entwertet. Wer von Genozid spricht, wenn es um Israel geht, tut genau das – er relativiert den Holocaust. Die Opfer der Nazis werden auf einen Level gestellt, auf dem sie schlichtweg nicht hingehören. Es ist ein Hohn gegen die überlebenden Opfer des Holocaust, gegen die Millionen von Menschen, die wirklich der systematischen Vernichtung durch einen ganzen Staat ausgesetzt waren. Diese groteske Verzerrung der Realität ist nichts anderes als eine perfide Manipulation der Sprache und der Erinnerung.

Und noch schlimmer: Diese Missbrauchskampagnen erwecken den Eindruck, dass Israel keine Legitimität mehr hat, sich zu verteidigen – dass der jüdische Staat in jeder Auseinandersetzung automatisch der Aggressor ist, selbst wenn er schlichtweg auf einen Terrorangriff reagiert. Der Krieg gegen die Hamas, eine Organisation, die das Ziel verfolgt, alle Juden zu töten, wird von vielen als israelischer Übergriff gedeutet, obwohl Israel in Wahrheit um das Leben seiner eigenen Zivilisten kämpft.

Kolonialismus: Eine historische Verzerrung in reinster Form

Wenn wir den Begriff „Kolonialismus“ hören, denken wir an das 19. Jahrhundert, an das europäische Imperium, an die Erschließung von Ländern durch Gewalt, an die Ausbeutung indigener Völker und die Schaffung von Herrschaftsverhältnissen durch die europäische Übermacht. Doch was hat Israel mit all dem zu tun? Die Antwort lautet: nichts.

Der Vorwurf des Kolonialismus basiert auf einer ideologischen Verwirrung, die den Zionismus als eine Bewegung des imperialistischen Expansionismus missversteht. Aber wer sich mit der Geschichte des Zionismus beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es hier nicht um die Eroberung eines fremden Landes geht, sondern um die Rückkehr eines Volkes in sein historisches Heimatland. Jene, die heute den Kolonialismus rufen, ignorieren bewusst die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der jüdischen Israelis aus Ländern stammt, die ebenfalls unter kolonialer Unterdrückung und Gewalt litten – aus arabischen Staaten, die die Juden in vielen Fällen vertrieben und verfolgt haben.

Zionismus war nie eine kolonialistische Bewegung im klassischen Sinn. Er war das Streben eines Volkes, das Jahrhunderte der Verfolgung und Vertreibung erlebte, nach einem sicheren Hafen. Israel ist das Ergebnis der Rückkehr der Juden in ihr eigenes Land, nicht die Schaffung eines neuen Imperiums. Wer Israel als kolonialistische Macht darstellt, vertauscht Opfer und Täter und missbraucht historische Begriffe für einen politischen Aktivismus, der auf Ideologie und nicht auf Wahrheit basiert.

Apartheid: Ein Begriff im Missbrauch

Natürlich gibt es auch den Vorwurf der Apartheid. Und auch hier zeigt sich, wie sehr Begriffe aus der Geschichte heute instrumentalisert werden, um das Bild Israels in der Weltöffentlichkeit zu verzerren. Apartheid war das grausame, gesetzlich verankerte System der Rassentrennung in Südafrika – ein System, das Schwarze in jeder erdenklichen Weise diskriminierte und systematisch ausgrenzte.

Wer Israel mit Südafrika vergleicht, verkennt nicht nur die Fakten, sondern betreibt eine gewaltige Umdeutung der Geschichte. In Israel haben arabische Bürger vollständige Rechte: Sie wählen, sie haben Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, sie können in der Regierung arbeiten und ihre Stimme in der Gesellschaft erheben. Ja, es gibt soziale Spannungen, wie in jeder Gesellschaft. Aber die arabische Bevölkerung in Israel ist keine unterdrückte Minderheit – sie ist ein aktiver Teil des demokratischen Prozesses.

Apartheid? Wer diesen Begriff auf Israel anwendet, hat entweder keine Ahnung von der Realität im Land oder verfolgt eine absichtliche Agenda, die darauf abzielt, Israel als ein rassistisches, diskriminierendes Land darzustellen. Diese Verzerrung ist nicht nur faktisch falsch, sondern auch eine Beleidigung für die Opfer der südafrikanischen Apartheid.

Was steckt hinter all dem? Der politische Missbrauch von Begriffen

Wenn wir diese Begriffe einmal entwirren, wird klar, dass sie mehr sind als nur falsch – sie sind gefährlich. Sie sind politisch kalkulierte Waffen im Kampf gegen Israel, ein Versuch, den jüdischen Staat zu delegitimieren und seine Existenz infrage zu stellen. Die Begriffe „Genozid“, „Kolonialismus“ und „Apartheid“ sollen Israel als einen Staat darstellen, der keinen Anspruch auf Selbstverteidigung hat – als einen Staat, der in seiner Existenz verwerflich ist. Aber was dahinter steckt, ist nicht ein politischer Diskurs, sondern ein ideologischer Angriff, der tief in der Geschichte des Antisemitismus verwurzelt ist.

Das Fazit: Wir müssen widersprechen – und zwar laut und deutlich

Die Wahrheit ist oft unbequem, aber sie ist klar: Israel ist kein Täterstaat. Israel ist ein demokratischer Staat, der unter den schwierigsten Bedingungen um seine Existenz kämpft. Wer das nicht anerkennt, hat mit Gerechtigkeit nichts im Sinn. Es ist Zeit, dem entgegenzutreten. Laut und deutlich. Es ist Zeit, sich gegen die Relativierung der Geschichte zu wehren – gegen den Missbrauch von Begriffen, die die schlimmsten Verbrechen der Menschheit beschreiben. Es ist Zeit, Israel als das zu erkennen, was es ist: ein Staat, der sich verteidigt, und der, trotz aller Herausforderungen, immer noch den höchsten moralischen Standard anstrebt.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Sprache der Täter von gestern zur Waffe gegen die Überlebenden von heute wird. Wer Israel dämonisiert, betreibt keine Aufklärung – er betreibt Hetze. Wer die Begriffe der Völkermordforschung für politischen Aktivismus missbraucht, entwertet die Geschichte und gefährdet jüdisches Leben weltweit.

Und solange ich atme, werde ich niemals schweigen.

Was uns der Vormärz heute noch zu sagen hat

Es gibt Momente in der Geschichte, in denen der Schleier fällt. In denen der zivilisatorische Lack, aufgetragen mit demokratischer Rhetorik, Diversitätsbroschüren und Bürgerdialogen, plötzlich aufreißt wie ein schlecht gemachtes Theaterstück – und darunter blickt man nicht etwa auf ein „modernes Gemeinwesen“, sondern auf eine kafkaeske Maschinerie aus Formblättern, Vorschriften, moralischer Erpressung und einer alles verschlingenden Verwaltungssprache, in der Worte wie „Bürgernähe“ ungefähr so realitätsnah wirken wie ein Wellnessprospekt in einem sibirischen Straflager.

Friedrich List, dieser feinnervige Frühdemokrat, Verwaltungsrebell, Wirtschaftstheoretiker und Bürgerschreck seiner Zeit, wusste es bereits vor zwei Jahrhunderten: Wer als Insider das System kritisiert, wird nicht gelobt – er wird eingelocht. Nicht, weil er gelogen hätte, sondern weil er die Wahrheit sagte. Denn Wahrheit, das wissen Bürokratien sehr genau, ist der gefährlichste Stoff, den ein denkender Mensch verbreiten kann. Wer schreibt, dass das System krank ist, bekommt kein Attest, sondern ein Urteil.

Und wenn List seinerzeit schrieb, die Bürokratie sei „eine vom Volk ausgeschiedene, über das ganze Land ausgegossene“ Schicht – dann meint er damit kein Volksekel, sondern ein Präzisionsbild der Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft. Die Beamten, so List, kämpfen gegen jeden Einfluss des Bürgers, „gleich als wäre er staatsgefährlich“. Wie passend für eine Zeit, in der ein satirisches Meme zu Polizeiaktionen führen kann, in der Likes als Sympathiebekundungen für „staatsgefährdende Narrative“ gelten, und in der das grundgesetzlich garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung durch das hinterfotzige Anhängsel „…aber“ ersetzt wird.

Die Bürokratie als Leviathan im Schönsprech-Kostüm

Unsere moderne Verwaltung gibt sich zahm, freundlich, digitalisiert – eine Servicegesellschaft, wie man sagt. Doch der Schein trügt. Der Geist der Amtsstube, dieser kalte, duldende, nicht-lachende Totengräber der Spontaneität, weht noch immer durch die Gänge. Nur hat er heute ein Lächeln aufgesetzt. Er spricht von „Resilienz“, „Transformationsprozessen“ und „inklusiven Teilhabeformaten“. Doch wehe, du willst etwas wirklich frei äußern. Wehe, du fragst nicht nach dem Formular, sondern nach der Wahrheit.

Der neue Leviathan ist nicht der Soldat mit dem Gewehr – er ist der Referent mit der Excel-Tabelle. Die Akte ist seine Waffe, der Datenschutz sein Totschlagargument. Er hört alles, sieht alles, und wer sich ihm zu entziehen versucht, bekommt keine Stasi-Akte mehr, sondern ein „Shadowban“, ein PayPal-Konto-Problem oder eine automatisierte Antwortmail vom „Zentrum für Politische Bildung und Extremismusprävention“. Was früher der Amtsvorsteher mit dem roten Wachsiegel war, ist heute der Twitter-Moderator mit Uploadfilter. Der Übergang war fließend – der Effekt ist derselbe: Wer stört, wird stillgelegt.

Zensur mit Haltung – oder: Wie aus Kritik Hetze wurde

Die Mechanismen der Unterdrückung sind subtiler geworden, dafür aber effizienter. Niemand muss mehr Bücher verbrennen – es genügt, sie vom Algorithmus als „problematisch“ markieren zu lassen. Man muss keine Zensoren mehr anstellen – es reicht, junge Journalisten mit Haltung auszubilden, denen das Wort „abweichende Meinung“ bereits wie ein Verstoß gegen den Pressekodex erscheint. Die Empörung ist die neue Guillotine. Wer die falsche Frage stellt, wird nicht widerlegt, sondern entmenschlicht. Wer den falschen Ton trifft, verliert nicht das Argument, sondern seinen Arbeitsplatz.

Und was damals als „staatszersetzende Umtriebe“ galt, heißt heute „Delegitimierung des Staates“. Ein Begriff, so dehnbar wie ein Gummiband – und mindestens so tückisch. Sagst du, dass unsere Institutionen übergriffig werden, dass der Staat sich zu viel herausnimmt, dass Parlamente zunehmend als Abnick-Organe fungieren – zack, bist du delegitimierend. Sagst du, dass du Angst hast vor der schleichenden Aushöhlung der Grundrechte – bist du plötzlich gefährlich. Und wenn du, ganz im Sinne Friedrich Lists, auf die strukturellen Defekte dieser Ordnung hinweist, darfst du dich warm anziehen: entweder auf dem Weg in den Gerichtssaal oder in die soziale Ächtung.

Vom Geist des Vormärz – und dem Parfüm von heute

Damals, im Vormärz, war die Front klar: Auf der einen Seite das aufbegehrende Bürgertum, hungrig nach Freiheit, nach Mitbestimmung, nach Entfaltung. Auf der anderen Seite: die alte Ordnung, von der „Beamtenschaft“ verteidigt wie ein Besatzer seine Stellung. Heute ist das bürgerliche Lager zersplittert, gespalten, weichgespült. Das Aufbegehren findet nicht mehr auf dem Barrikadenplatz statt, sondern auf Telegram – ein bisschen trotzig, ein bisschen konfus, selten elegant, aber zutiefst menschlich.

Und die Ordnung? Hat sich modernisiert. Sie kommt mit Beratungsangeboten, Antidiskriminierungsstellen, Hassmeldungshotlines und sogenannten Faktenchecks. Der neue Obrigkeitsstaat hat sich das Parfüm der Liberalität übergesprüht – doch der Schweiß der Kontrolle trieft trotzdem darunter hervor. Wo früher eine Zensurbehörde saß, sitzt heute ein Ministerium für „Digitale Aufklärung“. Wo früher Spitzel durch die Wirtshäuser liefen, sammeln heute NGOs Kommentare im Netz. Und wo Friedrich List einst ins Gefängnis wanderte, weil er das Kind beim Namen nannte, wird heute Hausdurchsuchung beantragt, weil jemand ein sarkastisches Meme mit einem falschen Hashtag geteilt hat.

Die Freiheit ist kein Antrag – sie ist eine Bewegung

Doch die Geschichte hat einen Humor, den kein Ministerium voraussehen kann. Je mehr sich Macht verkrampft, je stärker sie sich gegen das freie Wort wappnet, desto sicherer ist ihr Untergang. Nicht heute, nicht morgen – aber unvermeidlich. Die Freiheit ist kein Zustand, sie ist eine Kraft. Und sie lässt sich nicht dauerhaft reglementieren, einsperren, kontrollieren. Sie kommt durch die Ritzen. Sie wächst, wo man sie verbietet. Und sie lacht – selbst im Angesicht des Apparats.

Heute wie damals formieren sich neue Kräfte. In Blogs, in Wohnzimmern, in Leserbriefen, in kritischen Gesprächen auf Parkbänken. Noch wird geschwiegen – aber das Schweigen ist nur der Atem vor dem Satz. Noch herrscht Anpassung – aber sie ist brüchig. Noch sitzt die Bürokratie fest im Sattel – aber auch der bequemste Sessel hat irgendwann Wurmfraß.

Friedrich List lebt. Nicht in Person – aber in jedem, der sich nicht mit der Sprachverhunzung des Politisch-Korrekten abfindet. In jedem, der nicht glaubt, dass das Ministerium immer recht hat. In jedem, der spürt, dass Freiheit mehr ist als ein Eintrag im Grundgesetz – sondern etwas, das man lebt, verteidigt, riskiert.

Wer heute über den Wahnsinn schweigt, macht sich mitschuldig. Wer ihn benennt, macht sich angreifbar. Aber wer ihn auslacht, trifft ihn ins Herz. Und darum dieses Essay.
Ein Contra gegen den Wahnsinn. Ein Gruß an Friedrich List. Und ein leises, hartnäckiges: Noch. Sind. Wir. Da.

Daniel Friedrich List (* spätestens 6. August 1789 in Reutlingen; † 30. November 1846 in Kufstein) war ein deutscher Wirtschaftstheoretiker, Unternehmer, Diplomat und Eisenbahn-Pionier. Er gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen des 19. Jahrhunderts. Mit dem von ihm mitinitiierten Staatslexikon prägte er – gemeinsam mit den Liberalen Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker – maßgeblich die ideologische Entwicklung des deutschen Liberalismus.

Brüssel spricht – und die Welt zittert nicht

Ein Knall. Kein physischer, aber ein rhetorischer. EU-Kommissarin Virkkunen, keine Rampensau, aber eine Funktionärin mit Haltung, tritt vor die Presse. Sie sagt Sätze wie: „Wir werden unsere Regeln durchsetzen.“ Es klingt ein bisschen wie: Ich zähle jetzt bis drei! Und man fragt sich: Glaubt sie das wirklich? Denn während sie mit steinerner Miene Apple, Meta und Elon Musks anarcho-digitale Spielwiese X ins Visier nimmt, blättert irgendwo in Cupertino ein Compliance-Praktikant gelangweilt durch die E-Mails. Facebooks Algorithmus hebt kurz ein digitales Auge, zuckt mit der Schulter, und TikTok tanzt derweil einfach weiter. Die EU spricht – und der Wahnsinn des Netzes murmelt: Wie süß.

Die Strafanzeige als Geste der Weltethik

Man kennt sie, diese Nachrichten: „Die EU leitet Verfahren ein.“ „Die EU warnt.“ „Die EU sendet ein klares Signal.“ Ach, Signale! Brüssel, diese postbürokratische Wunschfabrik mit Renaissancefassade, schickt seit Jahrzehnten Signale in alle Himmelsrichtungen. Man könnte meinen, sie sei ein Leuchtturm der Weltvernunft – doch leider ist sie meist ein Glühwürmchen in der globalen Datenflut. Virkkunen will jetzt also durchgreifen. Verfahren wegen Wettbewerbsverstößen. Wegen zu laxer Moderation illegaler Inhalte. Man hört fast das Tosen der Empörung aus dem Altbau am Berlaymont. Und gleichzeitig – die mediale Unterschrift darunter ist stets: Wir können auch anders. Das Problem ist nur: Sie tun es nicht.

Denn was bedeutet schon „durchsetzen“ in einem Raum, in dem die Tech-Giganten größer sind als viele Mitgliedsstaaten? Wenn Google mehr über unsere Bürger weiß als die Kommunalverwaltung in Wanne-Eickel? Wenn X ein Ex ist, das trotzdem jeden Morgen betrunken im Wohnzimmer steht und lautstark über Meinungsfreiheit diskutiert, während der Hausherr Brüssel milde lächelt und murmelt: Bitte nicht nochmal posten.

Die Mär von der digitalen Souveränität

Die EU, so hört man immer wieder, wolle „digitale Souveränität“. Ein hübscher Begriff. So wie „transatlantisches Gleichgewicht“ oder „klimaneutrales Wachstum“. Man stellt sich darunter eine Art europäisches Internet mit Pastellfarben, Datenschutz, literarischen Tweets und wohldosierter Meinungsvielfalt vor. Ein Ort, wo der Algorithmus Rücksicht nimmt, die Nutzer freiwillig der Faktenprüfung zustimmen und niemand jemals die Kommentarspalte verlässt, um einen Journalisten zu bedrohen. Eine schöne Vorstellung. Etwa so realistisch wie ein veganer Schweinsbraten.

In Wahrheit bedeutet „digitale Souveränität“ oft: Wir verbieten, was wir nicht verstehen. Oder wir erlassen Regeln für Plattformen, die ihre Server ohnehin außerhalb der EU parken, mit einem mittleren Finger auf dem Atlantik. Die Ankündigungen sind oft die Umsetzung. Der Rechtsrahmen wird gebaut wie der Berliner Flughafen: detailliert, teuer, überzogen – aber die Flugzeuge starten längst woanders.

Zuckerbergs Grinsen und Musks Mittelfinger

Und was machen Meta, Apple, Musk & Co, während Brüssel sich moralisch aufplustert? Sie grinsen. Sie lobbyieren. Sie investieren. Und sie spielen das Spiel. Apple murmelt „privacy“ mit heiserer Stimme und kassiert trotzdem an jedem Abo mit, das über die eigene Infrastruktur läuft. Meta gelobt Transparenz und trainiert gleichzeitig KIs mit Milliarden Userdaten. Elon Musk? Er schaltet Werbebanner in Brüssel – und twittert ein Meme, in dem die EU ein trauriger Clown ist.

Die Tech-Konzerne sind keine Konzerne mehr – sie sind de-facto-Gewalten. Staatssimulationen mit Terms & Conditions. Musk betreibt eine Meinungsplattform wie ein Herrscher einen Hofstaat. Zuckerberg will mit seinem Metaverse nicht weniger als die zweite Realität erschaffen. Und Brüssel steht daneben, wedelt mit der DSA und ruft: Hier ist das Recht!

Der Kontrollstaat ohne Serverfarm

Das Absurde ist: Die EU hat gar kein echtes Instrumentarium. Ihre Stärke ist das Regelwerk, nicht der Vollzug. Es ist ein bisschen wie ein Streifenpolizist mit einem Zitatenschatz, der einen Drogendealer zur Reue überreden will. Natürlich: Man kann Bußgelder verhängen, kann Verfahren anstrengen. Man kann auch ein Lied darüber singen. Doch am Ende läuft die Musik nicht aus Brüssel, sondern aus dem Silicon Valley. Und der DJ trägt Hoodie.

Selbst wenn ein Verfahren gewonnen wird – dauert es Jahre. Bis dahin hat Apple drei neue Datenschutzrichtlinien erfunden, Meta zwei Plattformen abgeschaltet und Musk die Meinungsfreiheit abgeschafft und wieder eingeführt, je nach Tagesform. Der Wahnsinn bleibt. Nur die Pressemitteilung ändert sich.

Die Behauptung als Ersatzhandlung

Glaubt sie das wirklich, die Frau Virkkunen? Dass man mit Paragrafen gegen Plattformen ankommt, die sich täglich selbst neu erfinden? Glaubt sie, dass man gegen globale Informationsarchitektur mit kontinentaleuropäischem Bürokratensprech anstinken kann? Vielleicht. Oder – viel wahrscheinlicher – sie glaubt es nicht. Sie sagt es trotzdem. Denn Sagen ist Handeln in Brüssel. Wer einen Skandal benennt, hat ihn schon halb beseitigt. Wer einen Missstand beklagt, beweist damit moralische Integrität. Und wer eine Plattform ermahnt, hat wenigstens etwas getan. Nicht viel – aber genug für ein Zitat in der Tagesschau.

Ein Fazit in Ironie getaucht

Es ist gut, dass sich jemand gegen die digitale Anarchie stellt. Aber es wäre besser, wenn dieser Jemand nicht klingen würde wie eine leicht verstimmte Schuldirektorin, die Facebook einen Tadel gibt, während TikTok das Schulgebäude anzündet. Die EU meint es ernst. Doch Ernst allein ist keine Strategie. In einem System, das auf Geschwindigkeit, Innovation und Manipulation basiert, wirken moralische Prinzipien wie Teelöffel in einem Tsunami.

Die Wahrheit ist: Die Regeln sind gut. Die Absichten sind ehrenwert. Aber ohne Macht, ohne Mut zur Konfrontation, ohne eigene digitale Kraftwerke bleibt Brüssel die Parodie seiner selbst:
Ein Kontinent, der glaubt, sich retten zu können, indem er sich selbst gut zuredet.

Willkommen im globalen Staatskapitalismus

Es gibt Tage, an denen man, nachdem man in die Morgenzeitung geschaut hat, nur noch mit einem Glas Rotwein und einer Schachtel Schmerztabletten auf dem Sofa zusammenbricht. Dieser Tage sind viele in den letzten Jahren entstanden, fast so, als hätten die globalen Mächte beschlossen, sich zu einem Wettkampf der absurden Erfindungen zusammenzuschließen – und die Menschen als Publikum in einem Bizarre-Show-Format zu gebrauchen. Heute also: „Mindestpreise für E-Autos – die EU und China denken nach!“ Willkommen im Jahr 2025, wo der Kapitalismus, als ob er nach einem Kuraufenthalt in China zurückgekehrt wäre, plötzlich wieder in den europäischen Staatssozialismus eingetaucht ist – und das Ganze durch den Umweltfilter.

Wir alle wissen, wie die Sache mit der Europäischen Union läuft. Sie ist das paradiesische Konstrukt eines globalen Finanzkapitalismus, der sich gerne als Friedensapostel tarnt, aber unter der Oberfläche wie ein gut geölter Kessel aus Bürokratie, Lobbyismus und einer übermäßigen Menge an Subventionen für die Industrie riecht. Dass sie sich jetzt tatsächlich ernsthaft mit der Volksrepublik China zusammentut, um Mindestpreise für E-Autos festzulegen, ist weniger ein „fremder” Gedanke als ein derart gewagtes Meisterwerk der politischen Synergie, dass einem der Glaube an die politische Vernunft ganz schnell abhandenkommt.

Freiheit, die frei zu sein scheint – aber nur für die Industrie

Doch was genau bedeutet das, die Preise für Elektroautos in einem globalen Markt zu fixieren? Nun, die EU, jene selbsternannte Bastion des freien Marktes und Hüterin der ökonomischen Freiheit, schwenkt plötzlich um. Vom ruhmreichen Freiheitskampf für den freien Handel zur Großmutter der künstlichen Preissetzung. Wer hätte gedacht, dass das ehemals leuchtende Vorbild für Marktliberalismus (und durch die Bankenkrise hervorgegangene Wohltäterin in Sachen Finanzhilfen für Pleitegeier) sich nun mit einem Regime zusammentut, das sich mit jedem Tag mehr in den grauen Wassern des Staatskapitalismus suhlt?

Wir reden hier nicht von einem kleinen bilateralen „Kooperationsprojekt“, das sich mit dem Austausch von Textilimporten beschäftigt – nein, es geht um die Preispolitik für die schimmernde Zukunft: E-Autos, das grüne Gold des 21. Jahrhunderts. Man fragt sich unweigerlich: Hat der Kapitalismus tatsächlich so wenig zu tun, dass er jetzt den freien Wettbewerb auf den Weg von „staatlich geförderter Monopolbildung“ führt? Was für eine herrliche Ironie! Hier stehen sich nun die Märkte gegenüber, ein kongeniales Paar aus brüchigem demokratischem Idealismus und sozialistischer Produktionsmacht. Und das Ergebnis? Eine kollaborative Anstrengung, bei der am Ende das Wort „Wettbewerb“ in „Wettbewerbsrecht“ die Flügel und den Kopf verliert, nur um eine flauschige Preisobergrenze zu finden, die den Markt in einer wohltemperierten Gleichgültigkeit ersticken lässt.

China als der unverzichtbare Partner der EU – oder: Wie man den Staat in den Kapitalismus einführt

Nun mag der naive Optimist einwenden: „Aber warum nicht? Schließlich geht es um den Umweltschutz und die grüne Transformation!“ Ja, wie oft haben wir diesen beruhigenden Satz gehört, der als politisches Gewissen das trügerische Heil der „grünen Transformation“ verheißt. Man nehme sich einen Moment Zeit und versuche sich vorzustellen, wie eine chinesische Regierung, die durch den Markt den gesellschaftlichen Diskurs kontrolliert, und eine Europäische Union, die von bürokratischen Direktiven getrieben ist, sich in einem harmonischen Tanz zusammenfinden. Und was tanzen sie? Den Walzer des Mindestpreises – ein verdrehter, zynischer Tanz, bei dem die Freiheit des Marktes, die zuvor als das Nonplusultra der westlichen Demokratie verkauft wurde, plötzlich als überflüssig und störend erscheint. Was für eine brillante Idee, gemeinsam ein marktwirtschaftliches Experiment zu schaffen, das sich nicht mehr nach Wettbewerb anfühlt, sondern nach dirigistischer Planung, die ganz im Stil von Mao Zedong zu sich selbst spricht: „Schau, es funktioniert doch!“

Ein Minimum an Markt und ein Maximum an Einfluss – wer würde das nicht als gelungenes Experiment für die Zukunft des internationalen Kapitalismus bezeichnen? Es ist, als würde der Kapitalismus sich eine neue Identität zurechtbasteln, zusammen mit einem Wirtschaftspartner, der den freien Markt als „ideologisch fragwürdig“ abtut, dabei aber jeden Schritt im globalen Spiel exakt kontrolliert. Was früher als „freie Preisbildung“ galt, wird so zu einer charmanter verschleierten Form des totalitären Wettbewerbs.

Warum Mindestpreise? Weil wir wissen, was gut für dich ist!

Und was hat diese wunderbare Zusammenarbeit für den durchschnittlichen Bürger zu bieten? Vor allem: ein grenzenloser Spaß an einem aufgeregten Korrektiv, das von den gleichen Kräften genährt wird, die uns in der Vergangenheit das Marktversagen und die große Finanzkrise beschert haben. Mindestpreise für E-Autos sind der glorreiche Ausdruck einer Gesellschaft, in der man den Konsumenten nicht nur das Gefühl vermittelt, mit einem umweltfreundlichen Produkt zu handeln, sondern ihm auch direkt die „richtige“ Kaufentscheidung aufzwingen möchte.

Natürlich, dass ein Mindestpreis für Elektroautos auch als „sozialverträglich“ oder als „Verbraucherschutzmaßnahme“ verkauft wird, ist kaum mehr als eine Farce. Denn der wahre Nutzen dieses modischen Plans ist keineswegs der Umweltschutz – oh nein, der wahre Grund ist ganz pragmatisch: der Schutz der großen Akteure, die sowieso schon alles kontrollieren. Die großen Autohersteller, die sich auf die Produktion von Elektrofahrzeugen verlegen, müssen sich nicht um schwankende Marktpreise kümmern. Nein, sie können sich einfach auf ein erprobtes Modell der Preisfixierung stützen, das ihre Margen stabil hält. Und der Staat? Nun, der Staat wird zum Partner dieser Machtstrukturen, der das Geschäft der Reichen und Mächtigen mit einer ordentlichen Portion „Verantwortung“ würzt.

Der Wahnsinn als Selbstverständlichkeit

Doch was bleibt uns, wenn wir uns diesem Wahnsinn ausliefern? Ein schales Gefühl der Resignation, das uns von den angeblich „freien Märkten“ zum Staatskapitalismus führt. Und das Schlimme ist: Niemand wird dies ernsthaft in Frage stellen. „Nachhaltigkeit“ und „Klimawandel“ werden als Deckmantel für die neueste Ära der wirtschaftlichen Planung und Kontrolle verwendet, während gleichzeitig der Glaube an die Fähigkeit des Marktes, sich selbst zu regulieren, vorsichtig wie ein Laubblatt in den Wind gesetzt wird.

Wenn wir uns am Ende dieses Wahnsinns umsehen, wissen wir eines: Wir haben es nicht nur mit einem globalen Kapitalismus zu tun, der sich selbst von innen heraus zerstört – wir erleben eine neue Ära, in der der Markt nicht mehr aus Freiheit besteht, sondern aus feiner, staatlich sanktionierter Zensur, der uns freundlich den Weg zeigt, den wir zu gehen haben. Und das Ganze wird uns auch noch als „Fortschritt“ verkauft.

Ein marktwirtschaftlicher Albtraum

Kanste nicht erfinden? Doch, das kann man. Und das tun die Mächtigen da oben jeden Tag. Sie erfinden uns den Wahnsinn in Form von Politik, die uns die Freiheit verspricht, uns aber in ein System zwingt, in dem wir uns selbst die Fesseln anlegen, ohne es zu merken. Und am Ende? Da fahren wir in einem E-Auto mit Mindestpreis auf die Straße, in dem uns der Wind um die Ohren weht – frei, natürlich, aber nur, weil wir es so wollen. Oder weil wir es müssen.

Was wir von Pessach lernen können

Pessach ist mehr als nur ein jüdisches Fest – es ist eine Einladung, über Freiheit, Geschichte und Menschlichkeit nachzudenken. Jedes Jahr erinnern sich Jüdinnen und Juden weltweit an den Auszug aus Ägypten, an den Weg von der Sklaverei in die Freiheit. Doch die Botschaft von Pessach reicht weit über die religiöse Tradition hinaus.

In einer Welt, in der viele Menschen noch immer unfrei leben – sei es durch politische Unterdrückung, Armut oder persönliche Umstände – ruft Pessach uns dazu auf, hinzusehen und mitzufühlen. Es erinnert uns daran, dass Freiheit kostbar ist und dass Wandel möglich ist, auch wenn er Zeit braucht.

Besonders bewegend ist die Rolle der Erinnerung: Durch das gemeinsame Erzählen der Geschichte am Sederabend wird Vergangenheit lebendig. Kinder stellen Fragen, Erwachsene erzählen – und alle werden Teil einer gemeinsamen Geschichte. So wird Erinnerung zur Brücke zwischen Generationen.

Pessach lehrt uns auch, dass Fragen stellen erlaubt ist – ja sogar erwünscht. Eine Kultur, in der Fragen gestellt werden dürfen, ist eine Kultur des Lernens, des Dialogs und des Wachstums.

Letztlich ist Pessach ein Fest der Hoffnung: Dass wir uns verändern können, dass wir gemeinsam für Gerechtigkeit eintreten können – und dass wir nie aufhören sollten, nach Freiheit zu streben – für uns selbst und für andere.

Was gesagt werden muss(te) – aber von diesem Mann besser nie

Es ist eine der schaurigsten Ironien deutscher Nachkriegsgeschichte, dass ein Mann, der einst die Uniform der SS trug, Jahrzehnte später mit gewaltiger Stimme zum moralischen Sprachrohr einer ganzen Republik aufstieg – und schließlich seine Feder zu einer Anklageschrift gegen den jüdischen Staat schwang. Nein, nicht irgendein Antisemit, nicht irgendein alter Nazi auf einer Bierbank irgendwo in Niederbayern. Es war ein Nobelpreisträger, ein weltweit gefeierter Literat, der öffentlich Jahrzehnte lang mit moralischer Gravität den Zeigefinger hob, als hätte er nie mitgehoben, als es wirklich zählte.

Günter Grass – der Inbegriff des deutschen Gewissens, das offenbar so lange blind war, wie es in die eigene Vergangenheit blickte, und erst dann hellsichtig wurde, als es andere anklagen konnte. In seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ sprach Grass 2012 das aus, was viele dachten, aber sich nicht zu sagen trauten. Doch das Problem war nicht der Inhalt. Das Problem war der Absender. Denn aus einem Mund, der so lange geschwiegen hatte über das eigene Schweigen, wirkt jede Wahrheit wie ein moralischer Bankrott, der sich selbst für Bargeld hält.

Wenn die Selbstkritik zur Maske wird

Was gesagt werden muss? Vielleicht: Dass ein Mensch, der sich jahrzehntelang als moralische Instanz inszeniert hat, sich nicht selbst die Absolution ausstellen darf, indem er erst mit 78 Jahren gesteht, was er mit 17 schon wusste. Es ist nicht die Schuld der Jugend, die hier zur Debatte steht, sondern die Lebenslüge der Reife. Dass Grass Mitglied der Waffen-SS war, ist ein historischer Fakt. Dass er dies öffentlich verschwieg, während er anderen die Geschichtsvergessenheit ankreidete, ist ein intellektueller Offenbarungseid – einer, den man nicht mit ein paar Versen aufwiegen kann, wie tiefsinnig sie auch formuliert sein mögen.

Denn der Skandal liegt nicht in dem, was gesagt wurde, sondern darin, wer sich anmaßte, es zu sagen. Der Mann, der einst in SS Uniform stand, als andere deportiert wurden, stand später auf Podien, als wären die Flecken auf seiner Biografie bloß Druckerschwärze. Und als er endlich seine Vergangenheit einräumte, tat er es im Duktus einer Beichte, die mehr Rechtfertigung war als Reue. So wurde aus dem Schriftsteller ein Fall für die literarische Ethikkommission – gäbe es denn eine.

Die Rezeption: Empörung, Verklärung, moralischer Tourismus

Die Reaktionen auf Grass‘ Gedicht schwankten zwischen empörter Ablehnung und verschwörerischer Zustimmung, zwischen feuilletonistischem Entsetzen und altlinkem Schulterklopfen. Und wie immer in Deutschland, wenn es um Schuld und Israel geht, verläuft die Debatte nicht entlang von Argumenten, sondern entlang von Identitäten: Wer sagt’s, wann sagt er’s, und wie viel Unschuld darf man ihm noch unterstellen?

So wird aus einem moralisch ambivalenten Text ein Schlachtfeld kultureller Projektionen: Die einen sehen den mutigen Mahner, der den Finger in die Wunde legt. Die anderen sehen einen alten Mann, der mit kalkuliertem Skandal die eigene moralische Unschuld zurückkaufen will. Und beide haben ein bisschen recht – was die ganze Angelegenheit so unerträglich macht.

Denn der Grass-Fall ist kein literarischer Skandal. Er ist ein nationalpsychologischer. In ihm spiegelt sich das deutsche Bedürfnis nach moralischer Erlösung, nach gerechter Empörung, nach einem letzten Aufbäumen gegen die eigene Geschichte – und sei es auf dem Rücken eines Gedichts.

Vom Sprechen, Schweigen und dem Recht auf Wahrheit

Was gesagt werden muss? Vielleicht, dass das Recht, die Wahrheit zu sagen, nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Integrität des Sprechers abhängt. Wer jahrzehntelang schwieg über das eigene Versagen, hat das moralische Kapital verspielt, um sich als Warner aufzuspielen. Er kann sich äußern, natürlich – das ist sein Recht. Aber er muss damit leben, dass ihm niemand mehr zuhört, ohne einen bitteren Beigeschmack zu verspüren.

Und gerade in Zeiten, in denen politische Haltungen wieder mehr von Gefühlen als von Fakten getragen werden, wiegt das Vertrauen in den moralischen Sprecher schwerer denn je. Wer sich selbst zum Richter erklärt, sollte wenigstens den eigenen Tatbestand offenlegen, bevor er andere verurteilt. Sonst wird aus Kritik nur Projektion, aus Engagement nur Eitelkeit, aus Mahnung nur Pose.

Ein Contra gegen den Wahnsinn: Wenn Täter zu Richtern werden

Wir leben in einer Zeit, in der moralische Autorität schnell beansprucht wird – auf Twitter, auf Bühnen, in Essays. Doch selten wird gefragt, wer sie eigentlich verdient. Günter Grass hat mit seinem Gedicht ein Thema angesprochen, das diskutiert werden darf, muss sogar. Aber sein eigenes Leben hatte ihn dafür disqualifiziert. Es ist, als würde ein Veganer, der heimlich Fleisch isst, auf einem Kongress gegen Massentierhaltung sprechen – mit blutigen Händen in der Jackentasche.

Und darin liegt der eigentliche Wahnsinn: Dass wir verlernt haben, zwischen Argument und Absender zu unterscheiden – nicht, um Argumente zu diskreditieren, sondern um Maß zu halten im moralischen Furor. Wer Täter war und jahrzehntelang dazu schwieg, sollte nicht glauben, dass er durch Worte allein zum Richter wird. Er bleibt – wenn auch literarisch verpackt – Teil des Problems, das er beklagt.

Die Moral von der Geschichte

Was gesagt werden muss? Dass Wahrheit nichts verliert, wenn sie von den Falschen geschwiegen wird – aber alles, wenn sie von den Falschen verkündet wird.
Günter Grass hat uns ein letztes Mal gezeigt, was passiert, wenn persönliche Eitelkeit sich mit moralischer Selbstinszenierung paart: Es entsteht kein Diskurs. Es entsteht ein deutsches Drama in Versform. Mit einem tragischen Helden, der keiner war, und einer Botschaft, die in der Mündung der eigenen Biografie verhallt.

Denn was gesagt werden muss, sollte man nicht jahrzehntelang verschweigen –
und schon gar nicht, wenn man es sich erst sagt, nachdem man selbst erwischt wurde.

Vom Schutz der Demokratie durch ihre Aushöhlung

„Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“
Theodor W. Adorno

Die Demokratie, so lernen es Kinder, ist das System, in dem die Meinungsfreiheit ein unverhandelbares Grundrecht ist – nicht dekorativ, sondern substanziell; nicht symbolisch, sondern fundamental. Aber was, wenn der Schutz der Demokratie selbst zur Gefahr für die Demokratie wird? Was, wenn jene, die sie zu verteidigen vorgeben, in Wahrheit das Fundament mit den glänzendsten Ambitionen untergraben? Wenn die Hüter der Offenheit Türen verschließen, sobald jemand eine Meinung hat, die nicht im offiziellen Farbcode lackiert wurde? Willkommen im Zeitalter des „Desinformationsverbots“. Was so klingt wie ein wohlmeinendes Hygieneprodukt zur digitalen Seelenreinigung, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als der feuchte Traum jedes machtverliebten Politkommissars: eine staatlich sanktionierte Wahrheit, lizenziert, zertifiziert und verwaltungsrechtlich absegnet – mit Gütesiegel für ideologische Reinheit.

Die neue Unfreiheit trägt Turnschuhe

Die Zeiten, in denen autoritäre Tendenzen in Stiefeln dahertrampelten, sind vorbei. Heute kommen sie im Hoodie, genderinkludierend, diversitätsbewegt, und mit dem Smartphone in der Hand, auf dem „Faktenchecks“ laufen wie früher die Parteipropaganda im Volksempfänger. Der große Trick der Gegenwart: Die Zensur verkauft sich als Aufklärung. Wer zensiert, schützt. Wer löscht, heilt. Und wer den Diskurs abwürgt, tut es nicht aus Machtgier, sondern aus Liebe zur Demokratie™. Der „Kampf gegen Desinformation“ wird geführt wie ein heiliger Kreuzzug – nicht mit Schwert und Schild, sondern mit Algorithmen, Richtlinien, Löschknöpfen. Doch unter dem Tarnnetz der digitalen Hygiene verbirgt sich ein altes Spiel: Die Angst vor dem Volk, dem man nicht mehr traut, sobald es nicht mehr exakt das sagt, was man hören möchte.

Wer entscheidet, was Wahrheit ist?

Die zentrale Frage, die im ganzen ideologischen Nebel ungestellt bleibt – oder, schlimmer, als gefährlich gilt –, lautet: Wer, um Himmels willen, entscheidet eigentlich, was „Desinformation“ ist? Wer ist die Instanz, die den Wahrheitsgehalt einer Aussage verbindlich definiert? Der Staat? Der Plattformbetreiber? Der öffentlich-rechtliche Faktenonkel mit Studiorucksack und Kaffeebecher? Oder das neue Wahrheitskomitee bestehend aus NGO-Aktivisten, regierungsnahen Denkfabriken und Journalisten, die ihre Haltung für Objektivität halten?

Sobald der Staat – ganz gleich in welcher politischen Farbe – sich anmaßt, die Grenze zwischen Meinung und Falschinformation zu ziehen, verlässt er den Boden liberaler Demokratie und betritt das Feld des Wahrheitsmonopols. Was früher das Privileg der Kirche war, wird heute von Ministerien übernommen: Ex cathedra wird bestimmt, was „Wissenschaft“ ist, was „diskutabel“ ist und was „gelöscht“ gehört. Man nennt es nicht mehr Inquisition, sondern „Verordnung gegen Desinformation“. Klingt moderner. Wirkt genauso.

Das Ende des Zweifels

Die Tragik der Gegenwart liegt darin, dass sie sich als triumphalistische Fortschrittsbewegung inszeniert, während sie in Wahrheit uralte autoritäre Mechanismen reaktiviert. Das Recht auf Irrtum – ein Grundpfeiler jeder offenen Gesellschaft – wird zunehmend delegitimiert. Wer falsch liegt, muss nicht etwa widerlegt werden, sondern wird gelöscht. Der Diskurs, der sich einst durch Streit, These, Antithese und mühsame Dialektik auszeichnete, wird heute durch das Anlegen offizieller Wahrheitsfilter ersetzt: Ist das noch eine legitime Meinung – oder schon toxisch, gefährlich, entmenschlichend, putinfreundlich, impfskeptisch, demokratiezersetzend? Wer hier mit dem falschen Ton zur falschen Zeit am falschen Ort fragt, riskiert nicht etwa eine Gegenrede, sondern eine digitale Enthauptung.

Und das Tragisch-Komische: Es sind oft dieselben Stimmen, die einst laut gegen Überwachung, Kontrolle und die große „Meinungshegemonie“ des Establishments protestierten, die nun eifrig daran arbeiten, eine neue, linksdrehende Hegemonie zu errichten – eine, in der Abweichung gleichbedeutend ist mit Delegitimierung. Freiheit wird so zur hohlen Hülse, zur PR-Geste, zur Schönwettergrundlage, die verschwindet, sobald es regnet.

Die Orwellisierung der Wirklichkeit

Man braucht kein Prophet zu sein, um die Parallelen zu erkennen. In Orwells 1984 war das Wahrheitsministerium (das „Ministry of Truth“) für die Produktion von Lügen zuständig. Die Partei bestimmte die Geschichte, die Gegenwart und die Realität. Wer widersprach, war kein Gesprächspartner – er war ein Gefährder, ein Feind, ein Krimineller. Das Perverse: In Orwell war das eine Dystopie. Bei uns wird es in den Koalitionsvertrag geschrieben.

Wenn die Regierung sich anmaßt, „Desinformation“ gesetzlich zu definieren und zu ahnden, dann ist das nicht der Schutz der Demokratie – es ist ihre Umprogrammierung. Aus der pluralistischen Ordnung wird eine konsensgestützte Ideologieverwaltung. Wahrheit ist dann nicht mehr das Ergebnis eines offenen Prozesses, sondern ein staatlich verwaltetes Endprodukt. Und wehe dem, der die Produktionsweise hinterfragt.

Die doppelte Gefahr

Die Ironie dieser Entwicklung liegt darin, dass sie ausgerechnet im Namen der Demokratie und des Kampfes gegen Extremismus geschieht. Doch eine Demokratie, die kritische Stimmen nur duldet, solange sie im Takt des politischen Mainstreams marschieren, ist keine Demokratie, sondern eine gut frisierte Fassade mit autoritärem Kern. Und der Extremismus, der bekämpft werden soll, wird dadurch nur genährt: Denn nichts treibt Menschen schneller in die Arme radikaler Bewegungen als das Gefühl, nicht mehr gehört, nicht mehr gesehen, nicht mehr ernst genommen zu werden.

Das Desinformationsverbot ist ein Symptom für eine politische Klasse, die ihre Deutungshoheit nicht mehr durch Überzeugung sichern kann – sondern durch Ausschluss. Es ist der verzweifelte Versuch, den Kontrollverlust über die Narrative mit juristischen Zäunen zu kompensieren. Was aber nicht gelingt. Denn Wahrheit lässt sich nicht verordnen. Sie lässt sich nicht bannen, nicht löschen, nicht dekretieren. Sie lässt sich nur suchen – oder verraten.

Das freundliche Gesicht der Unterdrückung

Vielleicht ist das das Bitterste an der ganzen Entwicklung: Dass sie in einem so freundlichen Gewand daherkommt. Dass sie spricht wie eine Kindergärtnerin, die nur das Beste will. Dass sie sich tarnt als Empathie, als Aufklärung, als Schutzraum für die „Zivilgesellschaft“. Und dass sie doch nichts anderes ist als das Comeback des autoritären Denkens – nur diesmal mit Regenbogenlogo und begleitender Podcastserie.

Adorno hatte recht. Die Faschisten von morgen werden nicht brüllen. Sie werden moderieren. Sie werden Hashtags nutzen. Und sie werden im Namen der Demokratie handeln, während sie sie strangulieren – ganz sanft, ganz diskret, ganz alternativlos.

Kriegswirtschaft? Im Ernst?

Europa – das war einst eine Idee. Eine große, vielleicht zu große, zu gutmütig gedachte Vision. Frieden durch Handel, Verständigung durch Normierung, Einheit durch Bürokratie. Es war das Europa der krummen Gurken, der quietschenden Übersetzungsbudgets und der Kunst, 27 Meinungen in einem Nebensatz unterzubringen, ohne dass ein einziger Mensch weiß, worum es eigentlich geht. Man redete viel von Vielfalt, noch mehr von Werten, und am allermeisten davon, dass man nie wieder das machen wolle, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Lieblingsbeschäftigung des Kontinents gehörte: Krieg.

Und nun, 2025, tritt da ein gewählter Vertreter auf, der kein postpubertärer Internetprovokateur ist, kein AfD-Halbliterat mit Reichsflagge im Souterrain, sondern der Chef der Europäischen Volkspartei – Manfred Weber, ein Mann, dessen Frisur zuverlässig wie das europäische Beihilferecht ist – und sagt, ganz gelassen, aber mit staatsmännischem Brustton: „Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen.“
Aha.
A-Ha.
Wie bitte?

Zugegeben, es ist nur ein Satz. Aber mit Sätzen fängt der Wahnsinn meistens an. Die Weltgeschichte ist voll von ihnen: „Geben Sie mir die Kontrolle über das Geld einer Nation…“ – „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten…“ – „Mit mir wird es keine Impfpflicht geben…“
Und jetzt also: Kriegswirtschaft.
Nicht etwa „Verteidigungsbereitschaft“, „strategische Resilienz“ oder „Rüstungskoordinationskompetenzzentrum“ – das wären die üblichen politisch-kastrierten Euphemismen, weichgekocht und EU-kompatibel. Nein. Jetzt wird reingebuttert. Jetzt kommt die rhetorische Panzerfaust. Jetzt ist Schluss mit Wertegelaber – jetzt wird gedacht wie im Krieg. Oder zumindest so getan.

Vom Zynismus als Methode

Man stelle sich vor: Eine Wirtschaft – also das Gefüge, in dem Menschen arbeiten, konsumieren, erfinden, hoffen, planen – soll jetzt auf „Krieg“ eingestellt werden. Nicht etwa auf Frieden, Nachhaltigkeit oder Gerechtigkeit (zugegeben, diese Worte sind inflationär überstrapaziert). Nein, auf Krieg. Ein Begriff, der bis vor Kurzem im politischen Diskurs nur als historisches Mahnmal diente, als dunkles Kapitel, das bloß nie wieder aufgeschlagen werden sollte. Nun wird es zum Handbuch. Und wer es nicht mitliest, gilt als naiv, putinsympathisch oder als erklärungsbedürftiger Idealist aus dem vorvorletzten Jahrhundert.

Panzer statt Patente, Raketen statt Renten – Die neue Prioritätenliste

Was bedeutet „Kriegswirtschaft“ eigentlich konkret? Die Geschichte gibt uns genug Beispiele. Kriegswirtschaft heißt: zivile Produktion wird zugunsten militärischer Bedürfnisse zurückgefahren. Rüstungsproduktion bekommt Vorrang. Löhne werden eingefroren, Märkte reguliert, Ressourcen zentral gelenkt. Kurz gesagt: Der Staat greift durch – und zwar mit dem Hammer, nicht mit dem Pinsel.

Und hier kommt der eigentliche Wahnsinn: Es geschieht nicht im Notstand, nicht unter realem Beschuss, nicht im Bombenhagel, sondern in vorauseilender Paranoia, in aktivistischem Präventivfuror. Man will die Gesellschaft auf den Krieg einstimmen wie ein Dirigent, der den apokalyptischen Tusch schon einleitet, bevor die ersten Geigen überhaupt gestimmt sind.

Während Krankenhäuser schließen, Bildungssysteme verrotten, Sozialstaaten zerbröseln und ganze Generationen unter der Last von Inflation, Wohnungsnot und Perspektivlosigkeit taumeln, wird in Brüssel also darüber philosophiert, wie man möglichst effektiv Raketenstandorte digitalisiert.

Frieden ist nicht mehr sexy

Vielleicht liegt das Problem auch einfach darin, dass Frieden keine Lobby mehr hat. Er ist schwer zu vermarkten. Frieden bringt keine Schlagzeilen, keine Zuschüsse, keine populistischen Likes. Frieden ist mühsam, langweilig, dialogintensiv. Und was ist langweiliger als ein außenpolitisches Gespräch mit einem Botschafter, wenn man stattdessen einen Rüstungsvertrag auf TikTok präsentieren kann?

Die ehemals pazifistischen Kräfte Europas – Grüne, Sozialdemokraten, liberale Philosophen mit Schafwollpulli – sie alle haben längst kapituliert. Sie marschieren jetzt mit, im Chor der Wehrwirtschaftsfreunde. Sie singen mit, so lange das Lied nicht zu martialisch klingt. Hauptsache, es wird in gendergerechter Sprache formuliert.

Weber ist also kein Ausreißer. Er ist ein Symptom. Ein Seismograf für den tiefen Wandel europäischer Politik: Raus aus der strategischen Ambivalenz, rein in die psychopolitische Hochrüstung. Wer zögert, hat verloren. Wer differenziert, ist verdächtig. Wer an Diplomatie glaubt, lebt geistig in den 1990ern – einer Zeit, in der Russland noch ein Gaspartner war und die NATO ein Anachronismus.
Heute ist sie wieder Religion. Und wehe, du lästerst.

Geschichtsvergessenheit als Zeitgeist

Die Ironie liegt offen zutage: Ausgerechnet Europa, das sich rühmt, aus zwei Weltkriegen gelernt zu haben, beginnt, mit den Begriffen dieser Kriege zu operieren. Man hat aus dem Wort „Frieden“ eine Phrase gemacht und aus „Krieg“ eine Option. Das ist nicht nur gefährlich, das ist auch absurd.

Denn echte Kriegswirtschaft – wie sie etwa im Dritten Reich, in der Sowjetunion oder in den USA der 1940er Jahre etabliert wurde – bedeutete nicht bloß eine politische Willenserklärung. Sie bedeutete Kontrolle. Unterdrückung. Propaganda. Entindividualisierung. Und, nicht zu vergessen: ein Ziel, das mit Blut bezahlt wurde.
Wer heute mit dieser Vokabel spielt, sollte wissen, was sie kostet.

Aber Wissen ist selten geworden. Stattdessen herrscht das Gefühl. Die Angst. Das Sendungsbewusstsein. Man hat keine Zeit für Reflexion, wenn der nächste Konflikt schon wartet. Die Philosophie wird geopfert – zugunsten der Geopolitik.

Vom Denken im Krieg zum Krieg im Denken

Und so marschieren wir also, im Gleichschritt des politisch Sagbaren, in eine Zeit, die gefährlich nahe an das heranreicht, was wir nie wieder wollten. Nicht, weil Panzer durch Brüssel rollen. Noch nicht. Sondern weil sich unser Denken wandelt. Weil der Krieg im Kopf beginnt. In unseren Begriffen. In unseren Vorstellungen. In unserer Sprache.

„Kriegswirtschaft“ – das klingt effizient. Zielgerichtet. Stark. Es klingt nach Tatkraft in Zeiten der Gefahr. Aber es ist in Wahrheit ein Offenbarungseid. Eine Kapitulation des Intellekts.
Und die vielleicht tragischste Pointe: Es wird verkauft als Fortschritt.

Denn der neue Wahnsinn trägt Krawatte, spricht fließend Bürokratendeutsch – und hält „Kriegswirtschaft“ für eine Vision.
In Wahrheit aber ist sie nur eins:
Die Parole des Denkverzichts.

Wie die GroKo das Denken säubern will …

… – für unsere Sicherheit, versteht sich

Schutz mit Beigeschmack: Wenn „staatsferne“ Medienaufsicht plötzlich nach Staatsräson riecht

Es beginnt – wie so oft – mit einem harmlosen Satz. Ein Satz, wie man ihn sich morgens bei der Klausurtagung zum Müsli reicht: leicht verdaulich, voller guter Absicht und doch mit einer gewissen Sprengkraft im Nachgang. „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“
So steht es, schwarz auf weiß, im Koalitionsvertrag 2025 – signiert von CDU/CSU und SPD, jenen beiden Traditionsparteien, die sich nach Jahrzehnten politischer Demenz und klimaneutraler Sinnsuche nun als Verteidiger der Wahrheit inszenieren. Wahrheit – das neue Zauberwort der alten Macht. Und wie so oft, wenn Politiker „Wahrheit“ sagen, sollte man sich fragen: Wahr für wen? Und ab wann? Und wer entscheidet das?

Das klingt zunächst nachvollziehbar, ja fast beruhigend. Schließlich will niemand belogen werden. Niemand mag Falschinformationen. Niemand steht gern dumm da. Doch was hier wie ein wohliger Mantel der Aufklärung daherkommt, ist bei näherem Hinsehen nichts anderes als eine gesetzlich kodifizierte Lizenz zur Meinungslenkung.
Man mag es kaum glauben: Just jene politische Klasse, die über Jahre hinweg die Begrifflichkeiten von „Wahrheit“ und „Falschheit“ in ideologischen Schaum aufgelöst hat, beansprucht nun das Monopol auf Objektivität. Dieselben Akteure, die noch vor kurzem nicht zwischen „biologischem Geschlecht“ und „sozialer Identität“ unterscheiden wollten, wollen nun festlegen, was eine falsche Tatsachenbehauptung ist. Orwell? Gähnt. Kafka? Reicht Popcorn.

Die neue Zensur kommt im Hoodie – und mit Paragrafenschild

Natürlich, man beteuert staatsfern zu bleiben. Die Medienaufsicht soll unabhängig agieren – aber eben gesetzlich „gestärkt“. Die Meinungsfreiheit soll gewahrt bleiben – aber unter klaren gesetzlichen Vorgaben. Was klingt wie ein paradoxes Theaterstück in fünf Akten, ist der deutsche Gesetzgebungsalltag im Jahr 2025.
Man möchte die Meinungsfreiheit retten – notfalls gegen die Meinungen.
Man will die Demokratie verteidigen – durch präventive Inhaltskontrolle.
Man verspricht Neutralität – und reicht die Filterwerkzeuge direkt an jene Institutionen weiter, die seit Jahren Probleme mit neutralem Journalismus haben.

Dabei ist die Idee nicht neu – nur die Verpackung ist edler geworden. Was die DDR einst noch „Desinformation“ nannte – laut MfS-Definition „die bewusste Verbreitung von den Tatsachen grundsätzlich oder teilweise widersprechenden Informationen“ – heißt heute „Informationsmanipulation“. Der Unterschied: Früher kamen die Anweisungen aus der Stasi-Zentrale, heute aus dem Ethikrat, der Medienanstalt oder dem Verfassungsschutz.
Die Ästhetik hat sich gewandelt. Der Anspruch bleibt der gleiche: Kontrolle über das, was gedacht werden darf.

Das Problem mit der Wahrheit: Sie hat die Angewohnheit, unangenehm zu sein

Das fatale Missverständnis, das der neuen Wahrheitspolitik zugrunde liegt, ist die Gleichsetzung von falscher Behauptung und böser Absicht. Dabei ist Irrtum eine der kostbarsten Ressourcen freier Gesellschaften. Nur wer sich irren darf, kann lernen. Nur wer Falsches sagen darf, kann in der Diskussion zum Richtigen gelangen. Wer jedoch bereits die Möglichkeit des Irrtums kriminalisiert, beendet nicht nur das Gespräch – er ersetzt es durch eine Monokultur des moralischen Einverständnisses.
Und wie jede Monokultur ist auch diese anfällig – für Erdrutsche, Parasiten und kollektives Denkversagen.

Wie viele „falsche Tatsachenbehauptungen“ wurden später zu akzeptierten Wahrheiten? Galileo Galilei, erinnern wir uns, war ebenfalls ein Desinformationsverbreiter – nach damaliger Definition. Die Aufklärung begann nicht mit einem Wahrheitsministerium, sondern mit dem Widerspruch. Das Grundgesetz schützt Meinungen – nicht, weil alle Meinungen gut oder richtig wären, sondern weil niemand das Recht hat, sich zum Richter über Gedanken aufzuschwingen. Außer natürlich, man ist Kulturstaatsminister oder Twitterbeauftragter.

Die Hybris der Gesinnungsjuristen: Wenn aus Wahrheit eine Verwaltungsakte wird

Wem nützt das alles? Wer profitiert von einer gesetzlichen Wahrheitskontrolle?
Zunächst: Die Bürokratie. Ein neues Gesetz bedeutet neue Zuständigkeiten, neue Behörden, neue Referentenstellen mit Genderkompetenz. Dann: Die großen Plattformen. Sie können ihre Algorithmen auf staatlich abgesegnete Inhalte trimmen – inklusive digitalem Persilschein. Schließlich: Die Regierenden. Denn wer kontrolliert, was gesagt werden darf, kontrolliert auch, was gedacht wird. Und was nicht gedacht werden darf, wird irgendwann gar nicht mehr gedacht.

Der Bürger? Verliert. Nämlich die Freiheit, sich selbst ein Bild zu machen. Die Freiheit, sich auch mal zu täuschen. Die Freiheit, anderen Unsinn zuzutrauen – und ihn zu entlarven, nicht zu verbieten. Aus der Demokratie wird so ein Erziehungsapparat. Aus dem mündigen Bürger ein potenzieller Gefährder. Aus der Debatte ein kontrolliertes Meinungsaquarium mit künstlicher Beleuchtung.

Schluss mit gefährlich: Die Republik der gefilterten Gedanken

Vielleicht ist das alles gut gemeint. Vielleicht glaubt man wirklich, der Demokratie zu dienen, indem man sie vor ihren eigenen Schatten schützt. Doch die Geschichte lehrt uns: Demokratien sterben nicht an zu viel Debatte – sondern an zu wenig Vertrauen. Und sie überleben nicht durch Gesetze gegen Falschaussagen – sondern durch Menschen, die lernen, damit umzugehen.

Wenn nun also CDU und SPD gemeinsam an einem Wahrheitsgesetz basteln, das den öffentlichen Diskurs in „korrekt“ und „kriminell“ unterteilen soll, dann sollte jedem freiheitsliebenden Menschen ein eiskalter Schauer über den Rücken laufen. Es geht nicht mehr darum, was gesagt wird – sondern wer es sagen darf. Und wer entscheidet, ob es gesagt werden darf. Die Meinungsfreiheit wird nicht abgeschafft. Sie wird lediglich so lange gedeutet, bis nur noch das Sagbare gesagt werden kann.

Letzte Worte – oder: Wie man einen Gedanken erschlägt, ohne Spuren zu hinterlassen

Am Ende bleibt die alte Frage: Was unterscheidet den freiheitlichen Rechtsstaat vom autoritären? Die Antwort war einst einfach: Der freie Bürger darf auch Unsinn reden. Er darf stören. Er darf übertreiben. Er darf sich irren. Und er darf all das ohne Angst tun.

Wenn das nächste Gesetz zur Desinformationsbekämpfung diesen Grundsatz beseitigt, dann hat es seinen Zweck erfüllt: Nicht die Wahrheit zu schützen. Sondern den Zweifel zu verbieten.
Und damit beginnt die eigentliche Desinformation – vom Staat aus, gesetzlich geregelt, medienpädagogisch aufbereitet.

Wer hat’s erfunden?
Früher: Das MfS.
Heute: CDU und SPD.
Und morgen? Vielleicht das Bundesministerium für Wahrheit und Toleranz – mit Siegel.

Russophobie ist eine Geisteskrankheit

Der neue alte Feind

Es ist eine bemerkenswerte anthropologische Konstante: Die Spezies Homo sapiens occidentalensis progressivus benötigt zum Aufrechterhalt ihrer seelischen Hygiene ein klares Feindbild. Früher war es der Klassenfeind, dann der Raucher, später der Klimaleugner – und heute: der Russe. Genauer gesagt: das Russentum. Und das nicht etwa im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit autoritären Tendenzen oder geopolitischem Imperialismus – das wäre ja noch zu rechtfertigen –, sondern als flächendeckende psychische Projektionsfläche für alles, was man selbst nicht sein will, aber im Stillen vielleicht längst ist.

Russophobie ist keine Meinung. Sie ist auch keine Position. Sie ist ein Zustand. Ein Gemütszustand, der sich als Moral tarnt, ein Weltbild, das in sich geschlossen ist wie eine Irrenanstalt. Der Russe – in seiner neuesten medialen Inkarnation – ist nicht einfach ein Mitspieler auf der Bühne der Weltpolitik. Nein. Er ist der Joker im westlichen Kartenspiel, der Antichrist im liberalen Evangelium, das Böse schlechthin. Und wie jedes ultimative Böse wird er nicht diskutiert, sondern erklärt. Diagnostiziert. Pathologisiert. Diffamiert. Mit einem Furor, den man sonst nur aus Exorzismen kennt.

Von der Meinung zur Manie: Wie Kritik zur Obsession wurde

Der Übergang von berechtigter Kritik zur manischen Obsession vollzieht sich bekanntlich leise. Am Anfang steht die nüchterne Analyse von Kriegsverbrechen, Geheimdienstoperationen, demokratieferner Innenpolitik. Am Ende steht eine westliche Intellektuellenkaste, die Dostojewski von der Leseliste streichen möchte, weil er „toxisch patriarchal und latent imperialisierend“ sei.
Man schüttet nicht das Kind mit dem Bade aus – man löscht gleich das ganze russische Dorf, aus Furcht, man könne unabsichtlich kulturelle Komplizenschaft signalisieren.

So wird aus einer Nation mit einer komplexen, widersprüchlichen Geschichte ein einziges dunkles Prinzip. Wer einen russischen Komponisten zitiert, outet sich als verkappter Zarenversteher. Wer darauf hinweist, dass der Westen vielleicht auch Interessen hat, muss sich den Hut des Putinverstehers anziehen – maßgeschneidert, aus feinstem moralischen Filz. Die Russophobie ist dabei nicht nur pathologisch, sie ist auch bequem. Denn sie erlöst vom Denken. Sie erlaubt es, alle Graustufen zu überspringen und sich selbst auf der sicheren Seite zu wähnen – im Hochsicherheitstrakt der Tugend.

Von Tolstoi zu Totschlagargumenten: Die kulturelle Auslöschung als Tugendprojekt

Die Cancel Culture hat viele Opfer, aber die Russophobie erhebt das Streichen zur Kunstform. Tschaikowsky? Kolonialist im Taktmaß. Gogol? Ethnonationalistisch. Tschechow? Melancholischer Manipulator. Die russische Kultur wird neu kartografiert, und sie sieht plötzlich aus wie eine Kriegslandschaft, in der jeder Akkord ein Angriff, jede Vokabel ein Vorstoß ist. Selbst die Fabergé-Eier gelten inzwischen als kryptokoloniale Machtsymbole – und der Samowar ist nur noch eine dekadente Kriegsmaschine, mit Tee statt Munition.

So ersetzt der westliche Diskurs den realen Gegner durch ein kulturelles Phantom, das viel handlicher ist als reale Machtpolitik. Russland ist dabei nicht mehr Russland, sondern ein Mythos, ein Folkloregespenst, das alles symbolisiert, was man selbst nicht sein will, aber instinktiv fürchtet: archaisch, maskulin, orthodox, unironisch, leidensfähig – und voller Tiefe. Die Russophobie ist nicht nur ein intellektueller Reflex, sie ist auch ein psychologischer Abwehrmechanismus gegen das Fremde im Eigenen. Der Russe wird zum inneren Schatten des Westens – verdrängt, verleugnet, dämonisiert.

NATO-Narrative und News-Neurosen: Die Symbiose von Meinung und Massenwahn

Natürlich, sagen die Verteidiger der heiligen Phobie, gibt es Gründe zur Kritik. Die Ukraine. Die Annexion. Die Autokratie. Mag ja sein. Nur: Wenn Kritik nicht mehr unterscheidet, wird sie zur Waffe. Und wer jede Nuance tilgt, hat nicht mehr Recht – er hat nur noch Rechthaberei. Der Phobiker will nicht verstehen, er will verurteilen. Er verwechselt Geopolitik mit Moral und Diplomatie mit Exorzismus.

Die mediale Landschaft – ohnehin längst zu einem Rauschraum aus Daueralarmismus und tagesaktueller Weltuntergangsprognose verkommen – übernimmt das mit Inbrunst. „Russland provoziert“, „Russland destabilisiert“, „Russland droht“ – der Duktus gleicht einer postmodernen Offenbarung. Dass dabei keine Silbe über westliche Rüstungsexporte, über aggressive NATO-Erweiterung, über die systematische Störung diplomatischer Kanäle fällt? Geschenkt. Der Phobiker lebt gut mit blinden Flecken – solange sie auf der richtigen Seite der Linie liegen. Moralisch asymmetrisch blind, aber dafür mit LED-Binde.

Die Symptome der Krankheit: Projektion, Paranoia, Pose

Man erkennt den Russophobiker an drei Kernsymptomen:

  • Projektion: Alles, was dem Westen selbst peinlich ist, wird Russland unterstellt. Autoritarismus, Propaganda, Korruption, Machismo – ein russisches Best-of der eigenen Unzulänglichkeiten.
  • Paranoia: Hinter jeder Energiekrise, jeder Wahl, jeder Protestaktion ein russischer Hacker. Der Strom fällt aus? Putin. Die AfD steigt in den Umfragen? Putin. Der Kaffee schmeckt seltsam? Wahrscheinlich Nowitschok.
  • Pose: Der moralische Hochsitz ist wichtiger als jedes Argument. Man trägt Ukraine-Flaggen im Twitterprofil, hat aber keine Ahnung von der Geschichte der Krim. Man spendet an Hilfsorganisationen, deren Chefetage aus NATO-Think-Tanks stammt. Die Welt ist ein Theater – und Russland der vorgeschobene Bösewicht, gegen den man sich selbst inszenieren kann.

Russophobie als Selbstverleugnungskunst

Russophobie ist also mehr als ein Problem des Feindbildes – sie ist eine Störung des Selbstbildes. Eine tiefenpsychologische Abwehrhandlung eines Westens, der seine eigene Hybris nicht mehr erkennen will. Der Westen, der sich für universell hält, kann mit dem Partikularen nicht umgehen. Russland – widersprüchlich, roh, eigenständig – ist ihm ein Skandal. Nicht, weil es böse ist. Sondern weil es nicht westlich sein will.

In dieser Ablehnung liegt kein Mut, sondern Angst. Die Angst, dass es noch andere Modelle gibt. Dass Leid nicht nur Elend, sondern auch Würde bedeuten kann. Dass Rationalität nicht alles ist. Dass Geschichte nicht linear verläuft. Und dass vielleicht – nur vielleicht – der Westen nicht das Ende, sondern nur ein Kapitel der Geschichte ist.

Russophobie ist heilbar – aber nicht mit Waffen

Was hilft gegen diese Geisteskrankheit? Ironie. Bildung. Geschichte. Ein Buch lesen. Ein Tschechow-Stück anschauen. Eine Balalaika hören, ohne das Bedürfnis zu verspüren, sie zu verbieten.
Und vor allem:
Das eigene Spiegelbild betrachten – mit dem Mut, auch das Fremde darin zu erkennen.

Denn wer Russland wirklich verstehen will, muss lernen, sich selbst auszuhalten.
Und das – ist die wahre Zumutung.

Willkommen in der postironischen Republik

Was haben Diktaturen und demokratische Staaten gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel, doch spätestens wenn ein Satiriker wegen Regierungskritik mit einer Gefängnisstrafe rechnen muss, beginnt die Trennlinie zwischen freiheitlicher Demokratie und autoritärem Reflex zu verschwimmen wie die Schrift in einem zu oft gefilterten Instagram-Statement der Bundesregierung.
Wenn also ein Journalist – Verzeihung: ein „sarkastischer Regierungskritiker“, was allein schon wie ein Straftatbestand aus dem Handbuch für innere Sicherheit klingt – vor Gericht gezerrt wird, weil er es gewagt hat, seine Feder gegen die Obrigkeit zu richten, dann ist das kein „bedauerlicher Einzelfall“, sondern ein ziemlich lauter Alarmruf in einem Land, das sich ansonsten so gerne an seine Pressefreiheit kuschelt wie an eine elektrisch beheizte Wärmflasche aus Artikel 5 GG.

Dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser in diesem Fall nicht umgehend einen presserechtlichen Schutzschirm aufspannt, sondern sich in Schweigen hüllt wie ein Croupier in Las Vegas, der beim Verteilen der Karten ertappt wurde, lässt tief blicken. Und zwar nicht etwa in staatsrechtliche Grauzonen oder juristische Detailfragen, sondern in das schillernde, doppelbödige, schattendurchwehte Innenleben jener „Haltungsdemokratie“, die Meinungsfreiheit nur noch dann liebt, wenn sie brav mit Maske auf der richtigen Seite der Debatte steht.

Die Meinungsfreiheit als Dekorationsobjekt

Man muss sich das einmal vorstellen: Da schreibt ein Journalist etwas Freches, vielleicht sogar etwas Übertriebenes – also etwas, das in einer gesunden Demokratie als ganz normaler Bestandteil der politischen Auseinandersetzung gelten sollte – und plötzlich steht er vor dem Kadi, als hätte er beim BND eingebrochen oder ein Interview mit einem Impfgegner geführt.
Der Gedanke, dass sarkastische Regierungskritik mit Repressalien beantwortet wird, ist nicht nur juristisch absurd, sondern kulturell eine Kapitulation. Eine Demokratie, die Ironie für Majestätsbeleidigung hält, hat offenbar vergessen, dass sie ihre Stabilität nicht aus Uniformität, sondern aus Dissens bezieht – und dass Freiheit eben nicht darin besteht, „alles sagen zu dürfen“, solange es niemanden stört.

Wenn Ministerinnen, die in Hochglanzinterviews gerne vom „Kampf gegen rechts“ schwärmen, bei offensichtlicher Meinungsunterdrückung plötzlich auf Tauchstation gehen, dann ist das kein Zufall, sondern systemisch. Es ist das Prinzip des politischen Wetterhuhns: Empörung nach Bedarf, Prinzipientreue auf Abruf, Rechtsstaatlichkeit nur solange, wie sie nicht unbequem ist. Die Pressefreiheit wird dabei zur rhetorischen Rasenfläche – öffentlich betreten, intern zubetoniert.

Satire als Staatsfeind? Ein Missverständnis mit Tradition

Man könnte nun sagen: „Naja, vielleicht war die Kritik ja zu polemisch, vielleicht war sie verletzend, vielleicht hat sie die Grenze überschritten.“ Aber das ist exakt der Punkt: In einer Demokratie ist die Grenze des Erträglichen nicht das persönliche Befinden der Regierenden. Wenn Satire, Polemik oder Sarkasmus strafbar werden, weil sie jemandem nicht gefallen, dann hat man den Unterschied zwischen liberalem Rechtsstaat und autoritärer Anwandlung nicht verstanden – oder, schlimmer noch: bewusst verwischt.

Die politische Satire war schon immer ein gefährlicher Beruf. Vom preußischen Zensurapparat über das Dritte Reich bis zur DDR wusste man stets: Wer lacht, denkt. Und wer denkt, gehorcht nicht. Die Tatsache, dass heute in einem angeblich gefestigten demokratischen Rechtsstaat wieder über Haft für Journalisten diskutiert wird, ist also keine Randnotiz – es ist ein Menetekel. Und der erschreckendste Teil daran ist nicht, dass es geschieht, sondern wie still es geschieht.

Nancy, sag doch was – oder: Wenn Schweigen politisch wird

Dass sich die Innenministerin nicht klar von einem Urteil distanziert, das sinnbildlich für das Einschüchtern kritischer Stimmen steht, lässt eigentlich nur zwei Interpretationen zu.
Erstens: Sie hat es nicht mitbekommen. Das wäre fahrlässig.
Zweitens: Sie hat es mitbekommen – und findet es vielleicht gar nicht so schlimm. Das wäre fatal.

Natürlich wird nun der Pressesprecher rotieren, die juristischen Feinheiten beschwören, auf richterliche Unabhängigkeit verweisen und beteuern, man wolle keine Einzelfallbewertung aus dem Ministerium heraus vornehmen. Aber der politische Reflex zählt. Und der hätte lauten müssen: „Pressefreiheit ist nicht verhandelbar – auch nicht für unbequeme Stimmen.“
Dass er nicht kam, sagt mehr über den Zustand dieser Republik aus als jeder regierungskritische Leitartikel.

Wohin mit der Ironie in Zeiten der Ernsthaftigkeit?

Wir leben in einer Ära der Überempfindlichkeiten. Alles ist politisch, alles ist persönlich, und alles ist beleidigend – für irgendwen. In dieser Atmosphäre hat sich ein neues Verständnis von „freiheitlicher Ordnung“ etabliert: Du darfst alles sagen, solange du dabei nicht aneckst, niemanden verletzt, und – vor allem – nicht regierungskritisch bist, es sei denn, du kritisierst die falsche Regierung.

Ironie hat in dieser Welt einen schweren Stand. Denn sie spielt mit Mehrdeutigkeiten, unterläuft Eindeutigkeit, macht sich über das heilige „Narrativ“ lustig – und das ist in der Ära der narrativen Monokultur ein Affront. Wer heute sarkastisch auf die Regierung zeigt, der wird nicht etwa als kritischer Geist gefeiert, sondern als Spaltpilz verdächtigt. Die Ironie, einst das Schutzschild des freien Geistes, ist zur potenziellen Straftat mutiert. Und das in einem Land, das sich so gerne auf seine Dichter und Denker beruft – solange die keine Meinung haben, die stört.

Freiheit – das unbequeme Erbe

Man darf sich fragen: Wie stabil ist eine Demokratie, in der man ständig betonen muss, dass man Meinungsfreiheit aushalten müsse? Wie liberal ist ein Staat, in dem das bloße Fordern nach Toleranz für abweichende Meinungen bereits als Sympathiebekundung für das Falsche gilt? Und wie integer ist eine Innenministerin, die Freiheit in Sonntagsreden beschwört, aber schweigt, wenn sie werktags mit Füßen getreten wird?

Die Antwort ist unbequem. Aber nötig.
Denn Freiheit zeigt sich nicht dort, wo sie populär ist.
Sondern dort, wo sie wehtut.

Wer hat’s erfunden?

Die Frage, wer’s erfunden hat, klingt in unseren Ohren längst nicht mehr wie die neckische Pointe einer Halsschmerzpastillen-Werbung, sondern vielmehr wie das zynisch-historische Rätsel, das über jeder aktuellen Debatte schwebt wie ein müder Wetterballon über einem ausgebrannten Talkshowstudio. In einem Land, dessen moralische Seismographen bei jedem „falschen“ Tweet Amok laufen, wird die Ursprungsfrage zur heiligen Inquisition der Gegenwart: Wer hat zuerst gehetzt? Wer hat zuerst diffamiert? Wer hat begonnen, mit dem moralisch aufgeladenen Flammenwerfer durch die demokratische Landschaft zu pflügen? Die Antwort liegt – wie immer – irgendwo zwischen den Zeilen, zwischen den Gesetzesbüchern, zwischen der selektiven Empörung der jeweiligen Lager, also genau dort, wo sich Wahrheit am liebsten verkriecht: im Schatten der Lauten.

Der zitierte Paragraph, aus dem sich wie aus einer Verfassungspastille die moralische Pflicht zur permanenten Zivilcourage saugen lässt, formuliert es mit der Klarheit eines chirurgischen Schnitts: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militärische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen
im Sinne des Strafgesetzbuch
.“ 1
Punkt.
Unmissverständlich.
Unstrittig.
Und dennoch: nie war es einfacher, mit genau diesen Begriffen um sich zu werfen, wie ein Pubertierender mit unpassenden Fremdwörtern. Wer heute von „Boykotthetze“ spricht, meint nicht selten einen empörten Tweet gegen die GEZ-Gebühren. Wer „Mordhetze“ ruft, hat womöglich eine satirische Karikatur nicht verstanden. Und „Rassenhass“? Ein dehnbarer Begriff, solange man selbst auf der richtigen Seite steht – also der moralisch überlegenen, selbstverliebt strahlenden Seite der Erleuchteten.

Wie der gute Zweck seine Abgründe offenbart

Es gehört zu den Ironien der postliberalen Demokratien, dass jene, die am lautesten „Wehret den Anfängen“ rufen, oft selbst den Anfang der nächsten Eskalationsstufe markieren. Wo früher Gesetze zum Schutz der Schwachen dienten, dienen sie heute nicht selten der Immunisierung der Lauten. Aus dem Schutzschild der Gleichberechtigung wurde ein Rammbock der Rechthaberei. Aus dem hehren Ideal der Demokratie ein Sprachregelungskatalog, durch den sich jede Abweichung in den Verdacht des Menschenhasses hineinziehen lässt.

Wer gegen das Gendern argumentiert, steht angeblich am Vorabend des Faschismus. Wer für einen differenzierten Blick auf Migration plädiert, rutscht schneller in den Verdacht des „strukturellen Rassismus“ als eine E-Mail in den Spamordner. Die Moralphalanx marschiert – und hinter ihr bleibt nicht etwa verbrannte Erde, sondern ein moralisch frischkompostiertes Feld voller Sprechverbote, Rücktrittsforderungen und Twittertribunalen.

Die ehemals bürgerliche Mitte? Von beiden Seiten beschossen. Die Linke sagt: Ihr habt zu lange geschwiegen. Die Rechte schreit: Ihr habt alles verraten. Und dazwischen sitzen die Letztverbliebenen, starren auf ihre Wahlzettel wie auf Sudoku-Felder voller Schuldgefühle, und fragen sich: Wer hat’s eigentlich erfunden, dass man in einer Demokratie nur noch mitschwimmen darf, wenn man dabei den richtigen Schwimmstil zeigt?

Von der Sprachpolizei zur Empörungsindustrie

Sprache ist Macht, sagte schon Foucault, und heute sagen das auch die Community Guidelines von Facebook. Was früher philosophisches Nachdenken war, ist heute Algorithmus: Inhalte werden sortiert, gelöscht, gewichtet, markiert – nicht mehr nach Wahrheitsgehalt, sondern nach emotionaler Verträglichkeit. Die Plattform entscheidet, was Hass ist. Die Redaktion entscheidet, was Hetze ist. Die „Zivilgesellschaft“ entscheidet, wer dazugehört. Der Rechtsstaat? Beobachtet derweil mit gerunzelter Stirn seine eigene Irrelevanz.

Denn „Hassrede“ ist heute das Gegenteil von Liebe zur Kontroverse. Sie ist das Etikett, das man über Argumente klebt, die man nicht hören will – oder nicht entkräften kann. Wer von offenen Grenzen spricht, ist mutig. Wer sie kritisiert, ist gefährlich. Wer soziale Gerechtigkeit fordert, ist engagiert. Wer Steuern kritisiert, ist neoliberal. Der moralische Bewertungsalgorithmus läuft rund um die Uhr – klimaneutral, aber meinungstödlich.

Dabei ist es kein Zufall, dass sich diese Form des hypermoralischen Aktivismus nicht in dunklen Kneipen, sondern in den Sitzungssälen von Stiftungen, NGOs und öffentlich-rechtlichen Redaktionen eingenistet hat. Die neue Zensur ist nicht mehr repressiv, sondern performativ. Sie zwingt niemanden zu schweigen – sie sorgt dafür, dass Schweigen das einzig Karriereförderliche bleibt.

Historisches Gedächtnis mit selektiver Lesebrille

Erinnerungspolitik ist das große Spielfeld der Selbstvergewisserung. Man bezieht sich auf Weimar, wenn man sich vor Populismus fürchtet. Auf 1933, wenn man politische Gegner diffamieren will. Und gerne auf 1945, um eigene Banalitäten in einen antifaschistischen Heiligenschein zu tauchen. Die Vergangenheit dient nicht mehr der Erkenntnis, sondern der Legitimation des Jetzt. Wer sich auf „Nie wieder“ beruft, sagt heute oft: „Nie wieder Meinungsvielfalt“.
Die Geschichte ist kein Mahnmal mehr, sondern ein Werkzeugkoffer.
Und wie bei jedem Werkzeugkoffer gilt: Wer nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Argument aus wie ein Nazi.

Dabei war die Idee des Antifaschismus nie als Dauerzustand gedacht, sondern als Schutzwall gegen konkrete Gefahren. Heute aber hat sich dieser Wall in eine Burg verwandelt, in deren Innenhof sich Funktionäre und Berufsempörte gegenseitig versichern, dass draußen nur Barbaren lauern. Die Demokratie verteidigt sich tot, wenn sie vergisst, dass sie von Widerspruch lebt.

Schluss mit heilig – Zeit für Ironie

Und so kehren wir zurück zur Frage: Wer hat’s erfunden?
Die Boykotthetze? Die sprachliche Abrüstung der Gegenwart? Die inflationäre Empörung über alles, was nicht ins Weltbild passt? Die gezielte Moralisierung des Rechtsstaats?
Die Antwort lautet: alle. Jeder. Niemand. Der Zeitgeist. Die Algorithmen. Die Angst. Die Bequemlichkeit. Die Gier nach Deutungshoheit.
Und ja – auch wir selbst, wenn wir die Stirn runzeln und gleichzeitig schweigen.

Es ist Zeit, die moralische Kinnlade wieder zu schließen, das Denken zu entideologisieren – und vielleicht, ganz vielleicht, wieder zu lachen. Über uns selbst. Über das System. Über die Tatsache, dass man für diese Art von Essay bereits Applaus und Shitstorm zugleich erwarten darf.

Denn das ist das wahre Problem der Gegenwart:
Nicht der Hass.
Nicht die Hetze.
Sondern der völlige Verlust an Selbstironie.

1 DDR, Art. 6 Abs. 2 der Verfassung

Alte und Kranke – das Sparschwein des IWF

Wenn der Internationale Währungsfonds – dieser wirtschaftspolitische Batman in Anzug und Zahlenfetisch – den Zeigefinger hebt, dann beugt sich die Politik brav wie ein Chorknabe bei der Sonntagsmesse. Denn was der IWF sagt, ist keine Meinung, es ist – im modernen Regierungssprech – alternativlos. Die Nachricht klingt harmlos, fast fürsorglich, wie ein Anruf der eigenen Bank, der einem mitteilt, dass man „vorsichtiger wirtschaften“ sollte, ehe das Konto endgültig in den Bereich „archäologische Ruine“ kippt. Die „heuer beschlossenen bzw. angekündigten Maßnahmen“, wie es bürokratisch so schön heißt, seien bereits ein erster Schritt, um den Schuldenanstieg zu bremsen – oder, mit anderen Worten: Der Patient Staat hat Fieber, aber statt Medikamente gibt’s erstmal Diät. Zuckerfrei, freudlos, und vor allem: solidarisch. Denn gespart wird an denen, die sich am wenigsten wehren – den Alten und den Kranken.

Natürlich sagt das keiner so direkt. Der IWF spricht von „Effizienzpotenzial“, die Politik von „nachhaltiger Finanzarchitektur“ – und das Echo in den Medien klingt wie eine harmonische Symphonie aus ökonomischer Vernunft und moralischer Alternativlosigkeit. Die Rentner? Werden „an der Lebenserwartung beteiligt“. Die Kranken? Werden zu „verantwortungsvoller Inanspruchnahme der Systeme“ ermuntert. Sparen heißt heute nicht mehr: etwas wegnehmen. Es heißt: neue Anreize setzen. Und wenn jemand auf dem Weg zum OP-Tisch zusammenbricht – na gut, dann war der Anreiz eben zu hoch.

Wirtschaftliche Vernunft oder politische Schizophrenie?

Merkwürdig nur, dass dieselbe Regierung, die heute den Gürtel enger schnallt, gestern noch voller Euphorie Milliardenpakete für alles Mögliche geschnürt hat: Klimarettung, Corona-Kompensationen, Beamtenpensionen im Paralleluniversum. Da floss das Geld wie Apfelsaft auf einer Kinderparty – großzügig, unreflektiert, und nach dem dritten Glas leicht erbrechlich. Jetzt plötzlich: Katerstimmung. Aber nicht bei denen, die getrunken haben, sondern bei denen, die schon vorher nüchtern waren. Denn sparen müssen jetzt nicht etwa jene, die politische Träume auf Pump finanziert haben, sondern die, die keine Lobby haben. Die Rentnerin, die sich zwischen Heizung und Butter entscheiden muss. Der Kassenpatient, der monatelang auf ein MRT wartet, während das Gesundheitsministerium ein neues Digitalprojekt mit Beratungsfirmen testet.

Und das Beste: All das geschieht im Namen der Generationengerechtigkeit! Man müsse „die Systeme für die Jungen erhalten“, sagen dieselben Politiker, die gerade Milliarden in Kurzzeitmaßnahmen pumpen, die exakt jenen Jungen eine Zukunft verbauen. Es ist die ökonomische Form der Schizophrenie: Man stiehlt den Enkeln das Erbe und nennt es Reform.

Pensionisten als Staatsfeinde

Der neue Lieblingsfeind der Spararchitekten ist der Pensionist. Nicht der Steuervermeider, nicht die Bankenrettung, nicht das Beraterwesen in Ministerien – nein, es ist die alte Dame mit Rollator, die mit ihrer Existenz die Statistik verhagelt. Man hört es durch die Blume, aber deutlich: Wer zu lange lebt, ist ein Kostenfaktor. Die Subtilität dieser Erzählung ist bemerkenswert. Früher galt das Alter als Lebensleistung, heute ist es eine fiskalische Unverschämtheit.

Pensionen werden eingefroren, angepasst, entkoppelt – nicht an die Lebenshaltungskosten, sondern an die Laune des Finanzministers. Gleichzeitig steigen die Gehälter im staatsnahen Bereich weiter, so planbar wie der Sonnenaufgang – und genauso alternativlos. Der Mythos, dass „alle ihren Beitrag leisten müssen“, gilt eben nur für jene, deren Beitrag keine politischen Konsequenzen hat. Oder, wie es der IWF ausdrücken würde: Low resistance, high yield.

Der schönste Ort zum Sparen – solange man gesund ist

Noch perfider wird’s im Gesundheitswesen. Der IWF empfiehlt Einsparungspotenzial, die Regierung nickt. Schließlich ist der Mensch am Ende seines Lebens teuer. Notfallstationen, Medikamente, Pflege – das alles kostet. Und was nichts einbringt, wird rationalisiert. Immerhin handelt es sich hier nicht um Produktivität, sondern um Menschlichkeit – ein schlecht kapitalisierbarer Wert. Und daher: zu streichen.

Die geplanten „Strukturmaßnahmen“ – herrlich, dieses Wort – bedeuten in der Praxis: Krankenhäuser zusammenlegen, Leistungen kürzen, Digitalisierung als Ersatz für Personal feiern. Chatbots statt Pflegekräfte, automatisierte Diagnosen statt Fachärzte, „Triage by Algorithmus“. Wer Glück hat, stirbt schnell. Wer Pech hat, wird weitergeleitet.

Dass genau dieses System von denselben Leuten beklatscht wird, die bei jeder Gesundheitskampagne betonen, wie wichtig Prävention und Menschlichkeit seien, ist kein Widerspruch – es ist das neue Normal. Heuchelei wurde professionalisiert, mit Logo, Farbpalette und PR-Berater.

Die absurde Logik der Zahlenheiligen

Die Politik der Gegenwart gleicht einem absurden Theaterstück, in dem niemand mehr weiß, ob er Schauspieler oder Zuschauer ist. Die Schuldenbremse wird angebetet wie eine goldene Kalbsleber – selbst wenn sie dem Patienten auf der Trage das Atmen erschwert. Sparen wird nicht mehr hinterfragt, sondern als Tugend gefeiert, selbst wenn es ökonomisch widersinnig ist. Denn jeder Ökonom weiß: Man kann sich nicht aus einer Krise herausknausern. Aber man kann so tun, als hätte man keine andere Wahl.

So lebt man von der Illusion der „verantwortungsvollen Haushaltsführung“, während man gleichzeitig das Fundament des Sozialstaates aushöhlt. Und alle machen mit: Medien, weil sie Reformen gut finden, solange sie nicht selbst betroffen sind. Experten, weil sie sich in Studien verlieren. Und Bürger, weil ihnen niemand erklärt hat, dass auch ein „sparsamer Staat“ arm machen kann – vor allem die Falschen.

Applaus vom IWF, Apnoe beim Volk

Man möchte lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Aber zum Glück hat Satire ihre stärksten Momente im Angesicht der Absurdität. Und was ist absurder als eine Regierung, die sich von internationalen Institutionen diktieren lässt, bei wem im Land zu kürzen sei? Der Internationale Währungsfonds hat gesprochen. Die Regierung gehorcht. Die Alten zahlen. Die Kranken warten. Und die Jungen? Die sollen später irgendwann mal dafür danken, dass man ihnen den Weg in eine finanziell stabile, aber moralisch bankrotte Zukunft geebnet hat.

Und wenn das alles nicht hilft, dann kann man ja noch ein bisschen an der Bildung sparen. Wer nicht versteht, was mit ihm passiert, protestiert auch nicht. Effizienzpotenzial, eben.

Studenplan: Mathe, Deutsch, Krieg

In einer Zeit, in der das deutsche Bildungssystem bereits an der Integration des Digitalen scheitert wie ein W-LAN-Router in der Turnhalle, wirkt der neueste Vorstoß konservativer Sicherheitspolitik wie ein tragikomischer Versuch, dem Schulalltag endlich wieder Ernsthaftigkeit zu verleihen – mit Betonung auf Ernst. Roderich Kiesewetter, laut Visitenkarte ein Verteidigungspolitiker, laut Interview eher eine Kreuzung aus Airbag und Alarmglocke, fordert Krisentraining an Schulen. Nicht etwa, weil der nächste Mathetest für viele Kinder bereits eine Form von Katastrophenerfahrung darstellt, sondern weil Russland – so seine Einschätzung – in ein bis zwei Jahren möglicherweise NATO-Gebiet angreift. Inklusive Hausaufgabenkontrolle, versteht sich.

Dass Kinder heute kaum noch wissen, wer Konrad Adenauer war, dafür aber die emotionale Biographie von Influencern rezitieren können, scheint nicht das Problem zu sein. Nein, das eigentliche Versäumnis besteht laut Kiesewetter darin, dass sie sich im Falle eines Luftangriffs nicht korrekt verhalten würden. Dass sie im Angesicht geopolitischer Verwerfungen weder mit Sandsack noch mit stoischer Miene aufwarten können. Dass sie – wie er es nennt – „besonders anfällig“ sind. Also keine Soldaten, sondern halt nur: Kinder.

Resilienzunterricht statt Religionsunterricht: Beten hilft nicht mehr

Der Begriff der Resilienz, ursprünglich aus der Psychologie kommend und dort als gesunde Widerstandskraft gegen traumatische Erlebnisse gefeiert, wird nun also aus dem kuscheligen Kontext von Achtsamkeit und Feelgood-Coaching herausgerissen und in die martialische Wirklichkeit überführt. Was früher als „innere Stärke“ galt, heißt heute: Wie verhalte ich mich bei Luftalarm? Was in der Vergangenheit vielleicht mit einer pädagogischen Wanderung durch den nahegelegenen Wald erledigt war („Natur stärkt die Seele“), soll jetzt offenbar durch Planspiele ersetzt werden: Wo finde ich den nächsten Bunker? Wie entziffere ich NATO-Funkfrequenzen? Und was ist der Unterschied zwischen Atombunker und Fahrradkeller?

In den nordischen Ländern – so die neidische Anmerkung Kiesewetters – sei man da weiter. Dort gibt es Notfallrationen, Evakuierungspläne, Sirenen-Apps. Vielleicht auch ein Schulfach „Geopolitisches Überleben für Fortgeschrittene“. In Deutschland hingegen traut man Kindern nicht mal zu, ohne Helmpflicht auf dem Schulweg unterwegs zu sein. Der Ruf nach „mehr Resilienztraining“ wirkt da wie ein verzweifelter Versuch, der Jugend wenigstens noch irgendetwas beizubringen – wenn schon keine Rechtschreibung, dann eben Kriegsvorbereitung.

Bildungspolitik als Theaterprobe fürs Schlachtfeld

Man stelle sich vor: der Stundenplan des Jahres 2026.
08:00 – Mathematik (Grundrechenarten und ballistische Flugbahn)
09:00 – Deutsch (Erörterung: Sollten Drohnen genderneutral benannt werden?)
10:30 – Politik (Die NATO: Geschichte eines kollektiven Nervenzusammenbruchs)
12:00 – Kriegsvorbereitung (Praktikum: Tarnen, Täuschen, TikTok meiden)
14:00 – Ethik (Moral in der Atomruine – eine Fallstudie)

Der Klassenraum wird zur Bunkerattrappe. Die Pausenglocke klingt wie Fliegeralarm. Und die Schulpsychologin wird zur Feldärztin mit Seelsorgeoption. Das klingt grotesk? Ja, aber nicht grotesker als die Idee, dass dieselbe Politikergeneration, die es nicht schafft, Lehrpläne zu digitalisieren oder Lehrermangel zu beheben, nun über Nacht das Land auf den Verteidigungsfall vorbereiten möchte. Was kommt als Nächstes? Bundesjugendspiele mit Scharfschützeneinlage?

Natürlich, wir leben in Zeiten der Unsicherheit. Natürlich ist es nicht falsch, über Zivilschutz nachzudenken. Aber die perverse Logik, nach der Kinder nun an vorderster Front der politischen Symbolik geparkt werden – weil man sich nicht traut, Erwachsenen zumutet, Vorräte anzulegen oder sich mit geopolitischen Realitäten auseinanderzusetzen – ist nichts anderes als eine weitere Form der Verantwortungsdelegation. Die Jugend wird zur Projektionsfläche für das, was die Politik selbst nicht zu leisten vermag: Klarheit, Mut, Vorbereitung. Und dann wundert man sich, warum die Fridays-for-Future-Generation lieber demonstriert als Dienst tut.

Pädagogik im Camouflage-Mantel

Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Schulen zur Vorhut politischer Experimente gemacht werden. Schon die Pisa-Schocks der 2000er hatten mehr mit politischer Symbolik zu tun als mit echter Reform. Die Inklusionsdebatte wurde von oben verordnet, ohne Ressourcen. Und jetzt also das: Militarisierte Pädagogik, weil irgendwo die Sirenen heulen könnten.

Wer als Kind in einem Schulsystem aufwächst, das ihm beibringt, jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen, lernt nicht Resilienz – er lernt Angst. Wer Krisentraining mit Lebenskompetenz verwechselt, verlegt das Bildungsideal vom Denken ins Ducken. Und wer Schüler*innen zur Verteidigungslinie der Innenpolitik macht, braucht sich nicht wundern, wenn die nächste Generation nicht rebelliert, sondern resigniert.

Krieg als Horizont der Bildungsdebatte

Kiesewetter ist dabei nicht das Problem – er ist nur das Symptom einer politischen Klasse, die ihre eigene Ratlosigkeit in martialischen Formulierungen versteckt. Weil echte Prävention teuer, komplex und unpopulär ist, gibt man lieber psychologische Ratschläge: Die Kinder sollen bitte stabil bleiben, während man selbst keine Stabilität zustande bringt. Die Schulen sollen Katastrophenräume werden, weil die Politik keine Vision für friedliche Bildung hat. Und alle sollen sich vorbereiten – aber niemand fragt, worauf eigentlich.

Denn am Ende dieses Weges steht nicht die Resilienz, sondern die Resignation. Wenn Bildung nicht mehr bedeutet, die Welt zu verstehen, sondern sich vor ihr zu fürchten, dann ist nicht der Schüler gefährdet, sondern die Demokratie.

Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden, sondern Bildung

Vielleicht wäre es an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Statt Resilienztraining: Rhetorikkurse für Politiker. Statt Fluchtrouten im Schulflur: Debatten über Außenpolitik in der Mittelstufe. Statt Tarnfarbe auf dem Lehrplan: der Mut, Schüler ernst zu nehmen, ohne sie gleich zu Soldaten der Resilienz zu machen.

Denn Resilienz beginnt nicht bei Sandsäcken. Sie beginnt bei Sinn. Und wenn das Bildungssystem der Ort sein soll, an dem junge Menschen lernen, dieser Welt standzuhalten, dann sollte man ihnen vielleicht beibringen, wie man denkt – nicht nur, wie man duckt.

Die große Erleichterung in kleinen Gläsern

Man muss sich das politische Drama der Gegenwart in seinem vollen Ausmaß vorstellen: Da taumelt die Welt in ein neues multipolares Zeitalter, während Kriege, Krisen und Klimakollaps sich wie Aktienpakete um die Aufmerksamkeitsspitze der Medien kloppen – und just in dieser Kulisse atmet Europa auf, denn: Der Whiskey bleibt zollfrei.

Ja, richtig gelesen. Kein Scherz, kein metaphorischer Hustenanfall diplomatischer Natur – ganz real: Die Europäische Kommission, dieses wankelmütige Wesen zwischen Technokratie und Tagtraum, hat beschlossen, vorerst keine Strafzölle auf US-amerikanischen Bourbon zu erheben. Die erste Liste von Vergeltungsprodukten im transatlantischen Zollkrieg ist veröffentlicht – und siehe da: Der Whiskey wurde ausgeladen wie ein betrunkener Onkel von einer Familienfeier, bei der man endlich mal seriös wirken wollte.

Gerade noch mal Glück gehabt. Für die transatlantischen Beziehungen. Für die Happy Hour. Für jeden, der seine Welterklärung gerne mit einem rauchigen Unterton genießt.

Whiskey als Weltpolitik: Flüssiger Frieden in Eichenfässern

Denn machen wir uns nichts vor: Im postfaktischen Zeitalter, in dem Pressemitteilungen länger halten als Koalitionen, ist der Bourbon längst mehr als nur ein Destillat. Er ist Symbol, Seismograph und semiotischer Supergau zugleich. Wer ihn besteuert, legt die Axt an das transatlantische Narrativ, das da lautet: Freiheit, Gleichheit, Kater.

Strafzölle auf Bourbon wären nichts Geringeres als die rituelle Beleidigung des amerikanischen Mythos, der in jeder Flasche Jack Daniel’s mitverkorkt wird. Ein Angriff auf das heilige Gleichgewicht zwischen Mais, Eiche und Marktliberalismus. Und wer weiß – wäre es dazu gekommen, hätten sich womöglich ganze NATO-Gipfel in tränenreichen Whisky-Tastings aufgelöst. Stoltenberg mit feuchtem Blick über einem Glas „Knob Creek“. Macron, der versucht, einem texanischen Abgesandten das französische Konzept von „Appellation d’Origine Contrôlée“ zu erklären, während Ursula von der Leyen nervös mit einem Flaschenöffner spielt. Tragisch-komisch, hochprozentig.

Die Kommission und ihr Einkaufszettel der Eskalation

Natürlich hatte man – ganz EU-typisch – vorerst nur geplant. Es war, wie immer, alles in einem frühen Stadium, „eine von vielen Optionen“, „kein endgültiger Beschluss“, „Teil eines fortlaufenden Prüfprozesses“. Oder, wie man es in Brüssel nennt: ein halbfertiger Kompromiss in Kommasetzung.

Die ursprüngliche Strafliste war dabei ein Kuriositätenkabinett europäischer Wertewahrung: Harley-Davidson, Jeans, Erdnussbutter – kurzum, alles, was nach amerikanischer Folklore riecht. Dass der Whiskey es nun nicht mehr auf die Liste geschafft hat, ist keine sachliche Entscheidung, sondern ein kulturpolitischer Gnadenakt. Die EU sagt: Wir sehen eure Flugzeugsubventionen – aber wir nehmen euch nicht den Drink weg. Wir sind nicht barbarenhaft. Wir sind europäisch.

Kant hätte wohl gesagt: Das ist kategorischer Imperativ auf Kornbasis. Schiller hätte es besungen. Churchill hätte es gesoffen.

Die Rettung des Bourbons – oder: Der Alkohol als letzter Globalist

Was bleibt uns denn sonst noch, wenn alles andere auseinanderbricht? Die EU klebt am Zahnfleisch, das transatlantische Bündnis knirscht wie ein schlecht geölter Sargdeckel, und das Vertrauen in die regelbasierte Weltordnung ist ähnlich standfest wie ein belgischer Sommer. In solchen Zeiten braucht es stabile Konstanten. Und was wäre stabiler als 45 Volumenprozent in einer Glasflasche mit Sternenbanneretikett?

Bourbon ist der letzte Globalist, der noch in jeder Zunge Verständnis auslöst. Er kennt keine Zollgrenzen, nur Durststrecken. Er stellt keine geopolitischen Forderungen – nur gelegentlich das Gleichgewicht der Leber. Er ist weder rechts noch links, sondern ganz einfach: runter. Und das eint.

Darum ist es nur folgerichtig, dass man ihn aus dem Strafzollgewitter herausgehalten hat. Denn würden wir anfangen, Whiskey zu sanktionieren – was käme als Nächstes? Brieffreundschaften mit Kanada unter Genehmigungsvorbehalt? Moralabgaben auf Netflix-Serien mit unkorrektem Humorgehalt?

Europa, du alter Gentleman mit schwankender Hand

Natürlich muss man die EU an dieser Stelle auch loben – zumindest kurz, bevor man wieder in gewohnter Manier an ihr herumnörgelt wie ein Pariser Barkeeper an einem schlecht gemixten Manhattan. Es gehört Mut dazu, eine Drohkulisse aufzubauen und dann feierlich einen Rückzieher zu machen, der aussieht wie eine strategische Entscheidung. Europa ist in diesem Sinne der Gentleman unter den geopolitischen Akteuren: zu höflich zum Zuschlagen, aber stets bereit, die Waffe auf den Tisch zu legen und dabei bedeutungsvoll zu nicken.

Man kennt das von Familienfesten: Die Oma sagt, sie kommt diesmal wirklich nicht, wenn ihr wieder über Politik redet – steht dann aber trotzdem mit Kartoffelsalat in der Tür. So auch die Kommission: „Wir erheben Zölle, jawohl – aber nicht auf das Zeug, das uns gefällt. Wir haben ja schließlich auch unsere Prinzipien. Sie sind halt nur… selektiv.“

Schlussgedanke mit Schuss

Und so endet die Posse, wie sie begann: mit einem Verwaltungsakt, den niemand verstanden hat, aber alle mit einem kurzen Nicken akzeptieren – wie einen besonders absurden Theaterabend im Berliner Ensemble.

Der Whiskey bleibt frei. Die Würde des Freihandels ist gerettet. Europa zeigt sich einmal mehr als die Tante, die zwar droht, dir das WLAN abzudrehen, aber dann doch heimlich dein Handy auflädt, weil sie dich ja irgendwie doch lieb hat.

Gerade noch mal Glück gehabt.
Zum Wohl.