Willkommen in der DDR 2.0

Vorspiel der Rechthaber: Über die Rückkehr des betreuten Denkens

Es ist ein eigenartiger Zustand, den wir im Jahre 2025 mit einer Mischung aus abgestumpfter Resignation und hysterischer Betriebsamkeit zur Kenntnis nehmen – nämlich der, dass ausgerechnet jene westlichen Demokratien, die sich über Jahrzehnte hinweg als Bollwerke individueller Freiheit und pluralistischer Meinungsvielfalt inszenierten, nun in einer grotesken Kopie jenes Systems angekommen zu sein scheinen, das man dereinst stolz und siegestrunken überwunden glaubte. Willkommen, meine Damen und Herren, liebe non-binäre Geschlechtsidentitäten, in der Demokratisch-Digitalen Regulativrepublik, kurz: DDR 2.0 – nur diesmal mit besserer Grafik und flüssigerem Scrollverhalten.

Was einst mit dem schleichenden Verfall argumentativer Kultur begann – einem pseudotoleranten „Debattenklima“, das man eher als stickige Kammer mit Sauerstoffmangel bezeichnen müsste –, kulminiert nun in einem System permanenter pädagogischer Korrektur. Denken wird nicht mehr gefordert, sondern vorformuliert. Haltung ersetzt Erkenntnis, Moral ersetzt Fakten, Empörung ersetzt Differenzierung. Und wie in jedem guten Spätstadium eines Kontrollsystems glaubt die Mehrheit, frei zu sein – weil man sie gelehrt hat, dass Freiheit darin bestehe, exakt das zu wollen, was man ihr vorgibt.

Die neue Unfreiheit: Algorithmen als Agitatoren

Man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen wie einen zu stark gesüßten Ersatzkaffee aus dem real existierenden Sozialismus: Während man früher Wanzen fürchtete, trägt man heute freiwillig ein Mikrofon in der Tasche – mit Standortfreigabe und Gesichtserkennung, versteht sich. Big Brother hat sich nie so charmant gegeben wie durch das Apple-Logo auf der Rückseite deines Smartphones. Der Unterschied zwischen freiwilliger Selbstüberwachung und staatlich verordneter Kontrolle ist, wie sich zeigt, keiner der Struktur, sondern einer der Benutzeroberfläche.

Die Algorithmen, jene scheinbar neutralen Priester des Digitaltempels, sind heute Meinungsmacher, Zensoren und Erzieher in Personalunion. Sie entscheiden, was sichtbar wird, was gesagt werden darf, wer „relevant“ ist – und vor allem, wer nicht. Die „Richtlinien der Gemeinschaft“, diese Orwell’sche Phraseologie in Zuckerwatte, sind der neue Paragraf 106: Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt, darf sehen, wie schnell man in den digitalen Gulag der Deplattformierung verschwinden kann – ohne Anklage, ohne Verteidigung, ohne Revision. Statt politischer Lagerhaft gibt es heute Shadowbans. Komfortabler, aber nicht weniger wirksam.

Umerziehung 2.0: Das Betroffenheitsregime der Gutmeinenden

Früher, so erzählt man sich heute wie aus einem Märchenbuch, wurden Menschen noch nach ihrer Leistung beurteilt, nach ihrem Charakter, nach ihrer Fähigkeit zur Kritik. Heute jedoch zählen einzig die heiligen Abzeichen identitärer Zugehörigkeit: Wer ist marginalisiert genug, um gehört zu werden? Wer ist betroffen genug, um nicht widersprochen werden zu dürfen? Wer ist korrekt genug, um von der Cancel Culture verschont zu bleiben?

Die neue Elite, die sich als unterdrückte Minderheit geriert, beherrscht die Kunst der moralischen Erpressung wie einst die Funktionäre ihre Floskeln vom Klassenfeind. Es geht nicht mehr um Wahrheit, sondern um Empfindlichkeit. Und wehe, man verletzt ein Tabu – nicht etwa durch Intention, sondern durch Interpretation! Denn was zählt, ist nicht, was gesagt wurde, sondern wie es gefühlt wurde. Willkommen im Regime der hypermoralischen Schneeflocken, die bei der leisesten Erwähnung von Ambivalenz zu schmelzen beginnen – und danach den Thermostat auf „Ewige Betroffenheit“ drehen.

Die Rückkehr der Planwirtschaft – diesmal ökologisch korrekt

In der DDR 1.0 scheiterte der Sozialismus an der Banalität seiner Ineffizienz: leere Regale, schmierige Butter und Trabant-Wartelisten. In der Version 2.0 tritt die Planwirtschaft erneut auf die Bühne – diesmal im grünen Gewand und mit dem Segen der Apokalypse. Unter dem Banner des „Klimaschutzes“ wird nicht nur das Thermostat reguliert, sondern gleich der gesamte Lebensstil. Verzicht wird zur Tugend verklärt, Degrowth zum Erlösungsversprechen, und wer noch Fleisch isst oder in den Urlaub fliegt, gilt als Klimasünder erster Klasse – selbst wenn er am Rande des Existenzminimums lebt.

Das Paradoxe daran? Die neue ökologische Planwirtschaft zementiert soziale Ungleichheit. Denn der ökologisch korrekte Lebensstil ist ein Luxus: Bioladen, Lastenrad und urban gardening sind kaum Realitäten des Proletariats, sondern Statussymbole einer saturierten Bionade-Bourgeoisie, die sich für ihre Tugendhaftigkeit gegenseitig auf LinkedIn applaudiert. Und während man dem kleinen Mann das Heizen verbietet, fliegen die Apostel des Weltklimas in Privatjets zu Nachhaltigkeitsgipfeln.

Der neue Sozialismus ist digital, global – und freiwillig

Was macht diese DDR 2.0 so perfide? Es ist der Umstand, dass sie sich nicht aufzwingt, sondern einschmeichelt. Sie kommt nicht mit Uniformen und Stasi-Akten, sondern mit „Nudging“ und Benutzerfreundlichkeit. Sie will dich nicht brechen, sondern überzeugen. Sie arbeitet nicht mit Zwang, sondern mit Zustimmung. Und genau darin liegt ihre Tücke.

Denn wo früher Macht sich durch sichtbare Gewalt manifestierte, hat sie heute die Form der Zustimmung angenommen: Du willst digital sein, du willst kontrolliert werden, du willst dich anpassen – weil die Alternative Isolation, Unsichtbarkeit, Cancel ist. Die neue Konformität ist freiwillig – und deshalb so alternativlos wie einst die Einheitsliste.

Finale Furioso: Warum Satire das letzte Asyl des Denkens bleibt

Wer heute satirisch schreibt, tastet sich blind durch ein Minenfeld hypersensibler Ideologien, durch die Nebelschwaden algorithmischer Zensur und durch die Floskelwüsten eines politmedialen Komplexes, der längst aufgehört hat, sich für Wahrheit zu interessieren. Satire ist keine Waffe mehr – sie ist eine Notwehr. Sie ist das letzte Refugium für jene, die sich der sanften Tyrannei des Betreuten Denkens nicht beugen wollen.

Und so bleibt uns nur das Schreiben, das Spotten, das ironische Zwinkern aus dem Untergrund der Vernunft. Während draußen die neue DDR 2.0 ihre gläsernen Paläste errichtet und den Menschen einflüstert, dass sie frei sind – solange sie nur sagen, denken und fühlen, was erlaubt ist.


Nachsatz:
Ob das alles so kommen muss? Nein.
Ob es trotzdem so gekommen ist? Frag dich mal selbst.
Und wenn du das Gefühl hast, dass dieses Essay übertrieben ist, sei dir sicher: Das dachte man 1984 auch.

Was kommt als Nächstes, Schädelvermessungen?

Von der Neurowissenschaft zur neuen Menschenordnung – oder: Die Rückkehr der Messzirkel im Dienste der Moral

Es ist wieder soweit. Die Wissenschaft, dieses eigentlich neutrale, angeblich der reinen Erkenntnis verpflichtete Feld, hat sich mal wieder einmischen müssen – diesmal nicht in Fragen der Impfung, der Biologie oder der Moralökonomie, sondern gleich ins Allerheiligste des demokratischen Selbstverständnisses: ins Wahlverhalten. Genauer gesagt: in den Schädel dessen, der wählt. Der Mensch, so erfahren wir nun von einer Studiengruppe unter Leitung von Ryota Kanai am University College London, entscheidet sich nicht etwa auf Grundlage seiner Erfahrungen, seiner Werte oder gar seiner Überzeugungen – nein, sondern auf Grundlage seiner Hirnmasse. Der liberale Geist – man stelle sich das bitte in ehrfürchtigem Flüsterton vor – verfügt über ein größeres Volumen grauer Zellen im anterioren cingulären Cortex. Der Konservative hingegen – und hier dürfte das Raunen in der moralisch erregten Blase unüberhörbar sein – weist ein ausgeprägteres „Angstzentrum“ auf. Und so kommt, was kommen muss: Der freie Wille war gestern. Heute ist politische Gesinnung eine Frage der neuronalen Topografie.

Von grauer Substanz und grauen Vorurteilen: Die Neuro-Phrenologie der Jetztzeit

Das hat doch Charme, nicht wahr? Endlich eine wissenschaftlich abgesicherte Begründung, warum der Nachbar AfD wählt – sein Mandelkern ist schuld. Endlich ein eleganter, fast schon therapeutischer Ausweg aus dem Dilemma der Diskussion: Nicht streiten, nicht überzeugen, sondern scannen. Hätten die Altvorderen des 19. Jahrhunderts gewusst, wie elegant sich Eugenik mit Empathie verschleiern lässt, sie hätten sich vor Freude die Schädel vermessen. Und doch, unter all der grauen Substanz leuchtet eine altbekannte Farbe: die des moralischen Hochmuts. Denn was hier als neurowissenschaftlicher Fortschritt verkauft wird, ist im Kern nichts anderes als ein pseudowissenschaftlich verbrämter Versuch, den Andersdenkenden nicht etwa zu verstehen, sondern ihn in die bio-neuronale Defensive zu zwingen.

So, als würde man sagen: Dein Hirn kann gar nicht anders, du Armer.
Und das mit einem Lächeln, das so viel sagt wie: Wir verstehen dich – neurobiologisch jedenfalls.

Der Traum von der perfekten Demokratie – mit MRT und Zugangskontrolle

Wenn also politische Überzeugung weniger mit Debatte als mit neuronaler Struktur zu tun hat, stellt sich zwangsläufig die nächste Frage: Warum überhaupt noch wählen lassen? Warum die mühsame Auseinandersetzung, warum die Quälerei mit Argumenten, wenn doch ein kurzer Scan im Kernspintomografen genügt? Stellen Sie sich das Wahllokal der Zukunft vor: Kein Wahlzettel, kein Kabinenvorhang. Nur ein freundlicher Mitarbeiter der Wahlkommission mit Kittel und Klemmbrett: „Bitte legen Sie sich kurz hin. Das dauert nur eine Minute.“ Danach: automatische Zuordnung zum Lager Ihrer neuronalen Kohärenz – links, rechts, liberal, autoritär, neurotisch oder einfach hoffnungslos unterkomplex.

Was wie eine Dystopie klingt, ist in Wahrheit schon als Denkfigur gesellschaftlich akzeptiert. Denn wer diese Studien zitiert – und das tun viele mit der Selbstgewissheit pädagogischer Missionare – der will keine Diskussion, der will Einordnung. Wer das Gehirn zum politischen Prüfstein erhebt, der öffnet nicht den Raum der Aufklärung, sondern schließt ihn mit dem Deckel eines MRT-Geräts. Der neue Weltbürger ist nicht etwa mündig, sondern magnetisch resonanzfähig.

Warum Widerspruch bald Hirnsache ist: Die neue Biologisierung des Politischen

Natürlich – so wird man einwenden – handelt es sich hierbei nur um Korrelationen, nicht um Kausalitäten. Es geht nicht darum, jemandem seine politische Haltung „wegzuscannen“. Ach, wirklich? Ist das nicht dieselbe Rhetorik, die man von jenen kennt, die sagen: „Ich will ja nur verstehen, warum du so bist“ – und dabei längst geurteilt haben? Der Weg von der Beschreibung zur Bewertung ist kurz, wenn er über die neuronale Schnellstraße führt.

Wo früher die politische Debatte war, stehen heute Studienverweise. Wo früher Widerspruch als demokratische Qualität galt, reicht heute der Verweis auf das „größere Angstzentrum“. Angst – das Wort ist nicht zufällig gewählt. Es riecht nach Schwäche, nach Impuls, nach Trieb. Der liberale Verstand hingegen – rational, graumassig, aufgeklärt – leuchtet wie ein modernes Heiligenbild im Lichtkegel des Labors.

Die neue Schädelkunde im weißen Kittel

Und so kehrt sie zurück, die alte Lust am Kategorisieren, am Messen, am Zuordnen – nur eben diesmal in High-Tech-Gewand. Die Phrenologen des 19. Jahrhunderts tasteten noch mühsam Schädelwölbungen ab und malten krude Charakterkarten. Heute nimmt man das Gehirn selbst ins Visier. Man spricht von Volumina, von Aktivierungsclustern, von Signifikanzwerten – aber meint doch nur: Wir wissen, wie du tickst.

Das ist keine Wissenschaft, das ist Biopolitik in Reinform. Die Rückkehr der alten Anthropologie durch die Hintertür der Empirie. Und die neue politische Klasse – von der Mitte bis ins akademische Feuilleton – freut sich klammheimlich. Endlich muss man nicht mehr argumentieren. Endlich ist der politische Gegner kein Subjekt, sondern ein Objekt – genauer: ein scanbares Objekt.

Fortsetzung folgt: beim nächsten neuronalen Gruppenfoto.

Wenn der Protest sich selbst verbrennt

Vom Klima, das kippt, und Aktivismus, der entgleist

In einem Studio von oe24.TV, unter grellem Licht und mit jener typisch österreichischen Mischung aus Sensationslust und journalistischer Müdigkeit, ereignete sich kürzlich ein Interview, das weniger informierte als irritierte. Die ehemalige Sprecherin der „Letzten Generation“, Marina Hagen-Canaval, verabschiedete sich medienwirksam von der Bühne des zivilen Ungehorsams – nicht mit einem sanften „Wir haben unser Bestes gegeben“, sondern mit dem Wunsch, eine neue, „viel schlimmere“ Generation möge nun kommen und, Zitat, „alles anzünden“. Man hätte über diesen Satz hinweggehen können, als überspannte Metapher im Hitzerausch – hätte er nicht so präzise das Gefühl einer Bewegung eingefangen, die ihren moralischen Kompass verloren hat und ihre Daseinsberechtigung zunehmend aus der Ablehnung der Realität bezieht.

Hagen-Canaval beruft sich in ihrer Argumentation auf die Suffragetten, die angeblich erst durch das Niederbrennen Londons das Frauenwahlrecht durchsetzten – eine historische Rekonstruktion, die selbst in der Kabarettszene mit einem Stirnrunzeln quittiert würde. Was bleibt, ist der inszenierte Abgesang einer Aktivistin, die sich ausgebrannt gibt, aber rhetorisch Benzin ins Feuer gießt. Während draußen die Hitze tatsächlich Rekorde bricht, friert in diesem Interview das demokratische Gesprächsklima endgültig ein. Es ist nicht nur der Rückzug aus der Aktion – es ist die implizite Absage an alles, was liberalen Diskurs, pluralistische Aushandlung und Gewaltfreiheit bislang ausgezeichnet hat. Der Klimaprotest, so scheint es, will nicht mehr gehört werden – er will nur noch brennen.

Die neue Ästhetik der Unversöhnlichkeit – Anja Windl, Wut und das Mikrofon

Wer dachte, Marina Hagen-Canaval sei ein Einzelfall, wurde kürzlich eines Besseren belehrt. Anja Windl, von Medien gern als „Klimakleberin“ betitelt und von sich selbst als moralisches Frühwarnsystem Europas verstanden, trat kürzlich in einer Live-Diskussion auf, die zu einem bizarren Kammerspiel eskalierte. Geladen waren ein grüner Ex-Vizekanzler, ein Unternehmer, eine Ökonomin und ein Schauspieler – und Windl, die in bockiger Vehemenz jede Frage, jeden Einwand, ja selbst die bloße Existenz anderer Positionen als Beleidigung empfand. Ihr Blick: glühend vor Überzeugung. Ihre Antworten: Ausweichungen in Endlosschleife. Ihre Körpersprache: ein einziges großes Nein.

Diskurs war nicht vorgesehen – nicht als Möglichkeit, nicht als Instrument, nicht als Ziel. Stattdessen: betretenes Schweigen, genervtes Aufstöhnen, und schließlich ein rauschender, selbstgerechter Abgang. Die Szene wirkte weniger wie ein Auftritt in einer politischen Debatte, sondern wie eine Performance im Theater der Selbstbestätigung. Anja Windl führte vor, was in Teilen der Bewegung längst zur Regel geworden ist: Wer widerspricht, wer nicht sofort bekennt, wer nachfragt, ist Teil des Problems – oder schlimmer noch: ein Fossilist. Die Verweigerung des Gesprächs wird zur Tugend erklärt, das Gespräch selbst zur Zumutung. Was sich einst als demokratischer Weckruf verstand, schlägt nun um in dogmatische Absolutheit. Man kennt das aus religiösen Kontexten – weniger aus emanzipatorischen Bewegungen.

Radikal chic – Von Glasscheiben, Pipelines und moralischem Pyromanenpathos

Der Diskurs ist tot, es lebe die Pose. Ob nun auf der Straße klebend, auf dem Bildschirm schreiend oder im Hafen von Gent sabotierend – der neue Klimaaktivismus verlässt das Terrain des argumentativen Austauschs und driftet ab in eine symbolisch überladene Protestästhetik, die zunehmend mit Sachbeschädigung, Grenzüberschreitung und latentem Gewaltfetisch kokettiert. Dass bei der erwähnten Hafenaktion in Belgien im März 2025 Sicherheitsanlagen manipuliert, Maschinen beschädigt und der Schiffsverkehr lahmgelegt wurden, lässt sich kaum mehr unter dem Euphemismus „ziviler Ungehorsam“ verbuchen. Und dass Greta Thunberg bei der Aktion anwesend war, sorgt nicht für Beruhigung, sondern für ein wachsendes Unbehagen: Wird hier ein Vorbild zur Schirmherrin der Eskalation?

Die selbstgerechte Ikonografie der Aktivisten, mit ihrer Mischung aus Opferpathos und Erlösergestus, produziert eine geschlossene Welt, in der jeder Widerspruch als Schuld, jedes Zögern als Verrat erscheint. Aus Farbe auf Kunst wird bald Feuer auf Infrastruktur. Aus „Letzter Generation“ wird „Erste Linie der Klimafront“. Der Begriff „Klimagerechtigkeit“ verliert dabei seine politische Substanz und wird zur Legitimationsformel für ein moralisches Ermächtigungsnarrativ, das zwischen ideologischer Absolutheit und fast schon messianischer Überhöhung oszilliert. Es geht nicht mehr um Lösungen, sondern um Selbstvergewisserung. Nicht mehr um Wandel, sondern um Widerstand – gegen alles.

Was bleibt: Eine verbrannte Bühne und eine schweigende Mehrheit

Wenn nun also eine ehemalige Sprecherin sagt, sie sei „ausgebrannt“, wirkt das wie eine bittere Metapher auf die ganze Bewegung. Der öffentliche Raum, einst Ort des Dialogs, ist zur Bühne für Inszenierungen geworden. Die Fronten sind verhärtet, der Diskurs ist gesprengt, das Publikum zunehmend genervt. Und jene, die noch zuhören wollen, die differenzieren, die zwischen Verantwortung und Realität balancieren möchten, werden wahlweise ignoriert oder beschimpft. Die moralische Fallhöhe des Aktivismus ist so steil geworden, dass man entweder mitspringt – oder als Feind gilt.

Vielleicht ist es Zeit, dass wir über neue Formen des Engagements sprechen, jenseits von Eskalation und Apokalypse. Vielleicht wäre es klüger, an den Institutionen zu arbeiten, statt sie zu verachten. Vielleicht wäre es ratsam, endlich wieder das Gespräch zu suchen – nicht mit jenen, die ohnehin schon überzeugt sind, sondern mit jenen, die zweifeln, zögern oder einfach nur hören wollen, dass es noch Hoffnung gibt, jenseits des Feuers.

Bis dahin bleibt nur die Hoffnung, dass nicht das brennt, was eigentlich bewahrt werden sollte: unser demokratischer Zusammenhalt.

Wenn Geschichte auf Asphalt trifft

Straßenkampf der Erinnerung

In einer Zeit, in der urbane Namensgebung zur Ersatzreligion politischer Selbstvergewisserung verkommt, schlägt nun ein neues Kapitel der semantischen Weltverbesserung auf: Eine Straße in Wien soll nach Mustafa Kemal Atatürk benannt werden. Ja, genau: Atatürk. Der Mann, der das osmanische Reich in die Moderne prügelte, die Kalligrafie verbannte, den Bartwuchs der Religion unterwarf und das Tragen von Hüten staatlich reglementierte. In seiner Heimat ein Heiliger der Säkularisierung, in Europa ein Fremdkörper zwischen Projektion und Unkenntnis – und nun ein Kandidat für die Straßenschilder Wiens? Willkommen in der posthistorischen Komödie der Bedeutungslosigkeit, in der Erinnerungspolitik nicht von Historikern, sondern von Online-Petenten kuratiert wird.

Kolonien der Korrektheit – Wer erinnert, regiert

Straßen sind längst keine Verkehrsadern mehr, sondern moralisch aufgeladene Träger identitärer Signale. Wer in Berlin eine Mohrenstraße umbenennen will oder in München darüber diskutiert, ob ein alter CSU-Bürgermeister noch tragbar ist, der führt keine verkehrsplanerische Debatte, sondern einen Stellvertreterkrieg um die Deutungshoheit der Geschichte. Und nun also Atatürk. Als ob Wien – die ehemalige Hauptstadt eines untergegangenen Multikulti-Großreichs – noch nicht genug Phantomschmerz im Umgang mit seiner eigenen imperialen Vergangenheit hätte.

Doch es geht ja nicht um Geschichte, sondern um Haltung. Um symbolpolitische Selbstveredelung im Zeitalter des digitalen Altruismus. Eine Straße für Atatürk – das klingt nach Versöhnung, nach internationaler Aufgeschlossenheit, nach einem urbanen Multikulturalismus mit Latte-Macchiato-Temperament. Dass der Mann autoritär regierte, die Presse knebelte, Minderheiten assimilierte und das Kurdenproblem nicht löste, sondern verwaltete – geschenkt. Hauptsache, der Name klingt weltläufig und erzeugt auf Google Maps ein gutes Gefühl.

Vom Sultanspalast zur Stadtverwaltung – Identitätspolitik mit Ottomanenstaub

Die Ironie ist kaum zu überbieten: In einer Stadt, die zweimal einer osmanischen Belagerung standhielt, soll nun ein Mann geehrt werden, der das Erbe dieser Osmanen abwickelte wie eine schlecht laufende GmbH. Die K.u.k.-Residenzstadt soll also dem säkularen Totengräber des Kalifats die Hand reichen – und so tun, als sei das alles ein Zeichen von kulturellem Weitblick. In Wahrheit ist es nichts anderes als die kapitulierende Geste einer hypermoralischen Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte lieber externalisiert als aufarbeitet.

Denn während man sich über Atatürk-Straßen freut, diskutiert man in anderen Bezirken darüber, ob man Karl Lueger posthum noch behalten darf oder endlich verbannen muss. Die Vergangenheit wird dabei wie ein Wühltisch auf dem Flohmarkt der Tugendhaftigkeit durchstöbert: Was kann bleiben, was muss weg, und was lässt sich gewinnbringend durch einen moralisch kompatibleren Namen ersetzen?

Die Petition als Passion – Demokratie der Clicks

Das Begehr selbst kommt, wie könnte es anders sein, in Form einer Petition. Die moderne Form der politischen Erhebung – bequem, digital, kostenfrei und vor allem: risikolos. Wo früher Unterschriftenlisten mit Kugelschreiber durch verrauchte Hinterzimmer kursierten, genügt heute ein Klick aus der U-Bahn heraus, um Geschichte umzuschreiben. Es ist die Demokratisierung der Symbolik, entkoppelt von Sachverstand, historischen Tiefenschärfen oder kulturellem Kontext.

Man muss sich das vorstellen: Der öffentliche Raum einer 2000-jährigen Stadtgeschichte wird zum Spielball spontaner Mobilisierungen, zum gestalterischen Wunschzettel der hypervernetzten Empörungskultur. Man votiert nicht mehr für Parteien, sondern für Straßennamen. Die Stadt wird zur Arena politisch-ästhetischer Schönheitschirurgie, bei der jeder meint, er könne mitreden – weil: Warum eigentlich nicht?

Straßen mit Haltung – Asphalt als Weltanschauung

Was früher nach Funktion benannt wurde – Mühlgasse, Ziegelofengasse, Obere Donaustraße – dient heute der weltanschaulichen Zementierung gesellschaftlicher Lager. Es geht längst nicht mehr um Orientierung, sondern um Distinktion. Die Straße ist kein Weg mehr, sondern ein Statement. Und wer sie betritt, marschiert nicht einfach durch ein Viertel, sondern durch eine Erzählung – kuratiert, codiert, korrekt.

In diesem Sinne passt Atatürk hervorragend in die neue Weltordnung des urbanen Symbolismus. Nicht, weil er zu Wien gehört, sondern weil er eben nicht dazugehört. Seine Nennung wäre ein Bruch, ein bewusst gesetzter Akzent, ein semiotischer Stolperstein für alle, die immer noch glauben, Straßen seien bloß Infrastruktur.

Postskriptum aus dem Archiv der Absurdität

Natürlich wird es nicht bei Atatürk bleiben. Hat man einmal damit begonnen, historische Figuren nach Beliebtheit zu sortieren, öffnen sich die Tore der Parodie. Warum nicht auch eine Erdoğan-Promenade, gleich gegenüber der Tibet-Allee? Oder ein Bin-Zayed-Boulevard in Favoriten, als Geste geopolitischer Diplomatie? Vielleicht eine Greta-Thunberg-Sackgasse mit Fahrradständern aus recyceltem Aktivismus? Die Möglichkeiten sind endlos – solange die Ironie noch billig und die Öffentlichkeit kurzatmig ist.

Fazit: Der öffentliche Raum als moralische Projektionsfläche

Es geht nicht um Atatürk. Es geht nie um Atatürk. Es geht um uns. Um das gute Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, auch wenn man sie gar nicht gelesen hat. Um den moralischen Mehrwert einer symbolischen Geste, die keine Konsequenzen kennt. Um die wohldosierte Erregung über Themen, die niemandem wehtun – außer vielleicht dem historischen Bewusstsein.

Die Straße mag neu benannt werden. Die Ironie bleibt.

Die Toleranz der Mehrheit

Eine religionspolitische Feldstudie im Reagenzglas der Macht

Es ist ein alter Fehler, der immer wieder gemacht wird – von wohlmeinenden Multikulturalisten, naiven Intellektuellen und staatsalimentierten Religionsbeauftragten gleichermaßen: Man beurteilt eine Religion, insbesondere den Islam, danach, wie freundlich, friedlich und anpassungsfähig sie sich gibt, wenn sie in der Minderheit lebt – in westlichen Demokratien, unter dem Schutz der Grundrechte, im Schirm der pluralistischen Gesellschaft, behütet vom Rechtsstaat, von Sozialleistungen gestützt und von journalistischer Diskurs-Feigheit flankiert. Doch das ist, mit Verlaub, so zielführend, als würde man einen Wolf danach beurteilen, wie sanft er winselt, wenn man ihm den Napf wegnimmt. Die entscheidende Frage ist nicht, wie eine Religion sich benimmt, wenn sie anpasst, sondern wie sie agiert, wenn sie dominiert. Was geschieht, wenn sie nicht um Duldung betteln muss, sondern duldet? Wenn sie nicht Rechte einfordert, sondern zuteilt – und entzieht? Erst in der Mehrheit, ja noch deutlicher: erst als Staatsreligion, zeigt sich der wahre Charakter eines theologischen Systems. Alles andere ist PR.

Vom Opfer zur Ordnungsmacht – Die Transformation der Theokratie

Der Islam – und das muss man ihm lassen – ist in der Disziplin der politischen Metamorphose ein Weltmeister. Er hat es verstanden, seine eigene Geschichte in zwei Akten zu schreiben: Im ersten Akt das leidende Opfer, benachteiligt, diskriminiert, unverstanden; im zweiten Akt die Ordnungsmacht, die auf göttlicher Unfehlbarkeit besteht, auf Gesetzesexklusivität pocht, auf Dominanz – nicht als Option, sondern als Pflicht. Wo der Islam Mehrheit wird, wird die Scharia zur Struktur, die Andersgläubigkeit zur Herausforderung, die Meinungsfreiheit zur Bedrohung. Das Wort „Toleranz“ schrumpft auf das Maß einer strategischen Geduld zusammen.

Der säkulare Beobachter, in seinem inneren Humanismus gefangen, glaubt noch immer an eine universale goldene Regel – „Was du nicht willst, das man dir tu…“ – doch in dieser Rechnung fehlt das entscheidende Moment: Die eigene Wahrheit als absoluter Imperativ. Wer glaubt, das Paradies sei exklusiv und alle anderen Wege in die Hölle führen, hat keine inneren Gründe zur Duldung, sondern bestenfalls taktische. Die Toleranz endet dort, wo sie nicht mehr nötig ist. Und da beginnt die eigentliche Wahrheit über religiöse Macht.

Pluralismus als Geduldsübung – Ein Experiment, das nur funktioniert, solange es niemand ernst meint

Natürlich kann man mit Theologen aller Religionen Kaffee trinken, sofern sie in Minderheit sind. Die Gesprächskreise, die interreligiösen Foren, die „Feste der Begegnung“ – sie alle sind nette Inszenierungen einer Welt, die so nicht existiert, wenn sie ernst gemacht wird. In pluralistischen Gesellschaften ist der Islam freundlich, weil er muss. In islamischen Gesellschaften ist der Pluralismus geduldet – solange er unbedeutend ist. In Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan gibt es keine liberalen Diskussionen über das Verhältnis von Glauben und Staat. Dort entscheidet nicht das Verfassungsgericht, sondern der Klerus, ob ein Gedanke gedacht werden darf.

Doch wehe dem, der das anspricht – im Westen versteht man unter Kritik des Islam oft schon das, was man bei anderen Religionen „Aufklärung“ nennt. Der Islam ist die einzige Religion, die man nicht rational betrachten darf, ohne sogleich unter Verdacht gestellt zu werden: des Rassismus, der „Islamophobie“, der kulturellen Überheblichkeit. Ein Katholik, der gegen Homosexualität predigt, ist ein Relikt. Ein Imam, der dasselbe tut, ist „Teil einer anderen Kultur“. Und schon wird die Doppelmoral zur Doktrin.

Einheitsgebet oder Einheitsstaat – Was Religion will, wenn sie kann

Religionen haben ein Eigeninteresse, das in ihrer Natur liegt. Doch der Islam hat eine Besonderheit: Er ist nicht nur Glaubenssystem, sondern Rechtssystem, Gesellschaftsordnung, Identitätsmaschine. Er ist nicht nur Kirche, sondern Staat im Wartestand. Dort, wo er Mehrheit wird, beginnt das Projekt der religiösen Umformatierung – von der Kleidung bis zur Strafgerichtsbarkeit, vom Frauenbild bis zur Kunstfreiheit. Alles unterliegt der Revision, der Heiligkeit, der Kontrolle. Und all das geschieht mit einem Lächeln – bis das Lächeln nicht mehr nötig ist.

Man muss sich fragen: Wäre die katholische Kirche in Deutschland heute so „tolerant“, wenn sie noch über inquisitorische Mittel verfügte? Wohl kaum. Die Toleranz des Machtlosen ist nicht Tugend, sondern Notwendigkeit. Und der Islam – das zeigen die Beispiele von Indonesien bis zur Türkei, vom Sudan bis zu den Golfstaaten – versteht diese Dynamik meisterlich. Wo er gestalten kann, gestaltet er nicht Vielfalt, sondern Einheit. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern politische Realität – nachzulesen in Verfassungen, Gerichtsurteilen und Gesetzbüchern.

Fazit unter Vorbehalt – Oder: Warum das Schweigen manchmal klüger scheint als das Reden

Und doch wagt kaum jemand, all das auszusprechen – aus Angst, als „rechter Brandstifter“ zu gelten, als „Spalter“, als „Fundamentalismuskritiker“, was in gewissen Milieus bereits als Schimpfwort gilt. Aber Kritik ist nicht gleich Hass. Und wer das Verhalten einer Religion unter Machtbedingungen analysiert, betreibt keine Hetze, sondern Realismus. Die Frage ist nicht, wie friedlich ein Glaube klingt, sondern wie friedlich er bleibt, wenn er nicht mehr auf Zustimmung angewiesen ist.

Vielleicht ist das das traurige Fazit unserer Zeit: Die Aufklärung hat uns gelehrt, alles zu hinterfragen – außer die Motive religiöser Mehrheiten. Und so bleibt die Kritik des Islam als Machtreligion ein Minenfeld, das man nur mit literarischer Satire betreten darf – und selbst dann nur mit einem Fuß.


Fortsetzung folgt – vermutlich nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Ein Medikament namens Energiewende

Rezeptfrei, aber mit Langzeitnebenwirkungen

Es beginnt, wie viele deutsche Heilserzählungen beginnen: mit dem unerschütterlichen Glauben, dass sich jedes Problem durch Planwirtschaft, Verordnung und moralische Überlegenheit beheben lässt. Die Energiewende, dieses hypertrophe Großprojekt eines narzisstisch überladenen Staatsapparats, folgt einem medizinischen Grundsatz, den selbst mittelmäßig geschulte Kurpfuscher mit Sorge betrachten würden: Wenn das Mittel nicht wirkt, erhöhen wir die Dosis. Und wenn es dann noch nicht wirkt, ja, dann war es entweder noch nicht genug – oder der Patient ist eben schuld. Auf gar keinen Fall jedoch kommt man auf die ketzerische Idee, es könnte das falsche Medikament sein. Denn an der Diagnose darf nicht gezweifelt werden: fossile Energie ist das Böse, CO₂ die metaphysische Ursünde, und Strom muss aus dem Guten kommen – vorzugsweise aus Wind, Sonne oder Gewissensberuhigung.

Dabei hat man sich längst so tief in die ideologische Pharmakologie verstrickt, dass auch der letzte Wirklichkeitskontakt unter Quarantäne gestellt wurde. Die Strompreise steigen? Mehr Windräder! Die Netzstabilität sinkt? Mehr Solardächer! Dunkelflaute? Wärmepumpen und E-Autos! Alles wird gut – man muss nur mehr davon machen. Es erinnert an einen mittelalterlichen Bader, der den Aderlass verdoppelt, wenn der Kranke bleich bleibt. Dass er am Ende stirbt, ist dann ein Beweis dafür, dass der Patient das System nicht verstanden hat.

Der Fetisch der Technikfolklore – Mehr Wind, mehr Sonne, mehr Vision

In Deutschland glaubt man an Technik – aber nicht an Technik als Realität, sondern als Symbol. Das Windrad ist nicht nur ein Generator, es ist ein Fetisch der Moral. Die Solaranlage nicht bloß eine Stromquelle, sondern ein Beweis für Fortschritt, ein Totem der Zukunftsgläubigkeit, das über jedem Reihenhaus thront wie ein säkularer Heiligenschein. Dabei geht es weniger um Energie, als um Erzählung. Die Energiewende ist die deutsche Reinkarnation der Romantik: eine Mischung aus Naturverklärung, Erlösungssehnsucht und bedingungslosem Fortschrittsglauben – nur eben diesmal mit Ladebuchse.

So installiert man mit missionarischem Eifer Technologien, von denen man weder weiß, wie lange sie halten, noch wie sie recycelt werden. Die Stromnetze knacken? Es liegt an der Ungeduld, nicht an der Physik. Die Industrie wandert ab? Dann war sie eben nicht zukunftsfähig. Was man nicht braucht, wird abgeschaltet – erst die Kraftwerke, dann der gesunde Menschenverstand. Und wenn jemand fragt, wie das alles zusammenpassen soll, dann wird freundlich auf das Jahr 2045 verwiesen, in dem sowieso alles besser sein wird, weil man es heute beschlossen hat.

Dosis fatalis – Vom Zuviel des Richtigen und der Absenz des Nötigen

Es ist nicht so, dass es keine Probleme gibt – sie werden nur umetikettiert. Netzinstabilität wird zur „Herausforderung“, Strommangel zur „Chance für neue Geschäftsmodelle“, Blackouts zur „Resilienzprüfung“. Und wie begegnet man diesen Missständen? Mit derselben Strategie, mit der man in der Homöopathie Hoffnung erzeugt: mit Verdünnung durch Verstärkung. Wenn der Strom aus Wind und Sonne nicht reicht, dann bauen wir mehr davon. Dass das Energiesystem exponentiell schwieriger wird, je mehr volatile Quellen man hineinpumpt, wird als „Teil des Lernprozesses“ gesehen. Lernen allerdings darf nur in eine Richtung stattfinden – und niemals rückwärts.

Ein Kohlekraftwerk, das bei Minusgraden zuverlässig Energie liefert, ist heute verdächtig. Ein Windpark, der monatelang stillsteht, ist dagegen ein Hoffnungsträger. So steigert man sich in ein Energiemärchen hinein, das die Dosis zur Therapie erklärt. Dass irgendwann der gesamte Raum voller Solarpaneele, Wärmespeicher und regulatorischer Förderlogik steht, aber trotzdem kein Licht angeht – das ist dann kein Systemfehler, sondern die Schuld derer, die nicht genug geglaubt haben.

Und wenn es das falsche Medikament ist? – Eine verbotene Frage

Die eigentliche Blasphemie liegt nicht im Zweifel an der Technik – sondern im Zweifel an der Erzählung. Denn wer fragt, ob es vielleicht das falsche Medikament ist, ob man vielleicht nicht mehr, sondern anders machen müsste, der stellt nicht nur das System infrage, sondern die Identität einer ganzen politischen Kaste. In Deutschland darf alles diskutiert werden – solange es die Grundrichtung bestätigt. Es darf gezweifelt werden, ob der Windkraftausbau schnell genug geht, nicht aber, ob Windkraft allein überhaupt reicht. Es darf gefragt werden, wie viele E-Autos wir brauchen, nicht aber, ob individuelle Mobilität mit tonnenschweren Batterien der Weisheit letzter Schluss ist.

Der Verdacht, dass man vielleicht ein völlig überdosiertes Placebo verabreicht, darf nicht gedacht, geschweige denn ausgesprochen werden. Denn er würde das moralische Fundament erschüttern, auf dem ganze Karrieren, Parteiprogramme und Industrieumstrukturierungen gebaut sind. Also erhöhen wir weiter die Dosis. Bis der Patient zufrieden schweigt – oder endgültig kollabiert.


Fortsetzung folgt: In einem Land vor unserer Zeit. Oder spätestens nach dem nächsten flächendeckenden Stromausfall.

Freiheit, die ich meine

oder: Warum das Schweigen lauter spricht als das Geschrei

Freiheit ist bekanntlich ein großes Wort. So groß, dass man es auf Demonstrationsplakate pinseln, in Grundgesetze meißeln und in Sonntagsreden aufpolieren kann wie Omas Tafelsilber. Doch wie es mit großen Worten so ist: Sie scheinen oft gerade dann am stärksten zu glänzen, wenn sie am wenigsten gebraucht werden dürfen. Laut Umfragen glauben 60 bis 70 Prozent der Deutschen, ihre Meinung nicht mehr frei sagen zu dürfen. Das ist nicht nichts. Das ist eine Mehrheit. Doch statt Alarmglocken schrillen in den Redaktionen nur die Telefone der Sprachwächter, die nach „Narrativen“ suchen, nicht nach Argumenten. Freiheit, so lernen wir neu, ist nicht etwa das Recht, zu sagen, was man denkt – sondern die Pflicht, zu denken, was man sagen darf.

Natürlich darf man seine Meinung sagen. Nur eben nicht dort, wo es zählt: am Arbeitsplatz, im Hörsaal, im Freundeskreis, auf der Bühne, im öffentlichen Diskurs. Wer den falschen Satz zur falschen Zeit äußert, merkt schnell, wie dünn die Luft ist, selbst wenn man vorher dachte, man stünde auf der richtigen Seite des Sauerstoffzelts. „Freiheit wird nie geschenkt, nur gewonnen“, sagte Heinrich Böll. Was er nicht erwähnte: dass sie einem heute nicht mehr genommen wird mit dem Knüppel, sondern mit einem wohlwollenden Nicken, einem Fördermittelentzug oder einem neuen Leitfaden zur „inklusiven Kommunikation“. Man muss nicht eingesperrt werden, wenn man sich selbst zensiert.

Delegitimierung als Zeitdiagnose – oder: Wer den Staat schützt, muss die Freiheit nicht lieben

Willkommen im Jahr der «verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates». Ein sprachliches Ungetüm, so bizarr, dass selbst Franz Kafka eine Rückfrage gestellt hätte. Wer den Staat kritisiert, delegitimiert ihn – aber wehe, er tut es zu laut, zu ironisch, zu gut begründet. Dann kommt der Schutz, nicht für den Bürger, sondern vor dem Bürger. Man hat es geschafft, eine Grauzone zu institutionalisieren, in der nicht das Gesetz gilt, sondern das Gefühl, dass irgendwas „nicht mehr geht“. Anzeigen wegen Satire. Verfahren wegen Karikaturen. Meldeportale für Gedankenverbrechen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Ein digitaler Blockwartstaat 2.0, der sich nicht durch Uniformen, sondern durch Hashtags organisiert.

Noch vor zwanzig Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass Minister öffentlich zur Denunziation aufrufen – heute ist es Ausdruck „gelebter Zivilcourage“. Ein Begriff, der längst bedeutet: mit der Herde mutig gegen das eine Schaf. Was früher Dissens hieß, gilt heute als Gefährdung. Was einst Opposition war, ist heute toxisch. Die Demokratie, so scheint es, soll geschützt werden, indem man sie vor den Bürgern abschirmt, die in ihrer Naivität glauben, sie hätten Mitspracherecht. Die Hoffnung, dies würde sich mit einem Regierungswechsel bessern, wurde zerknüllt und im Papierkorb der politischen Realität abgelegt – gleich neben dem Koalitionsvertrag.

Von der Illusion des Mitsprechens – oder: Der Bürger als Störfaktor

Man könnte meinen, es sei ein Betriebsunfall der Demokratie, dass ausgerechnet jene Minderheit, die sich für moralisch überlegen hält, die Zügel fest in der Hand hat. Aber es ist kein Unfall – es ist System. Die Politik folgt heute einer Mischung aus Sendungsbewusstsein, Weltrettungspathos und städtischer Entfremdung, die in ihrer Überheblichkeit fast schon religiöse Züge annimmt. Die grüne Elite, die nicht an Bahnhöfen lebt, nicht in Brennpunkten wohnt und keine Grundschule mit 90 Prozent Migrationsanteil von innen gesehen hat, bestimmt die Regeln – und redet vom „gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

Man spricht von „unserer Demokratie“, als sei sie Privateigentum. Als wäre sie ein exklusiver Club, zu dem man Zutritt nur bekommt, wenn man den Dresscode kennt und die richtige Meinung mitbringt. Wer widerspricht, ist nicht etwa Mitbürger, sondern Problemfall. Wer abweicht, wird nicht gefragt, sondern markiert. Die Demokratie als geschlossene Veranstaltung – mit Einlasskontrolle durch den öffentlichen Diskurs. Die Filterblase wird zur Filterinstitution, und wer platzt, fliegt raus.

Migration als Sakrament – oder: Der moralische Imperativ der Selbstabschaffung

Ein weiteres Minenfeld, auf dem man in Deutschland tanzen muss, ist die Migrationspolitik – besser gesagt: Migrationsreligion. Denn längst hat sich hier eine Art säkularer Erlösungsglaube etabliert, in dem jede kritische Frage als Blasphemie gilt. Dass „die, die da sind“, zum Großteil die Falschen sind – nicht alle, aber viele – darf man nicht sagen. Und wenn man es sagt, darf man es nicht meinen. Denn die Moral duldet keine Empirie.

Die Probleme sind real, greifbar, messbar. Und doch werden sie beschwiegen, verdrängt oder unter „rechten Narrativen“ abgeheftet. Dabei ist es nicht rechts, Probleme zu benennen – es ist verantwortungsvoll. Rechts wird es erst, wenn man versucht, aus der Kritik Kapital zu schlagen. Die politische Mitte hat das Problem ausgelagert – an Ränder, an Bürgermeister, an verzweifelte Lehrer. Und wenn es irgendwo knallt, dann ist nicht die Politik schuld, sondern „strukturelle Herausforderungen“. Es ist, als würde man einen brennenden Wald damit löschen wollen, dass man das Wort „Feuer“ aus dem Wortschatz streicht.

Europäische Paralyse – oder: Wenn Berlin will, aber Brüssel darf nicht

Und als wäre das alles nicht genug, kommt auch noch die EU. Ein bürokratischer Koloss, der wie eine alte Uhr tickt, aber nie schlägt. Selbst wenn Deutschland wollte – es dürfte nicht. Selbst wenn es dürfte – es könnte nicht. Und selbst wenn es könnte – es käme jemand aus der SPD und sagte: Das ist aber gegen die EU-Richtlinie 239b, Absatz 17. Man fragt sich unweigerlich: Was genau wollen diese Leute? Wollen sie das Land retten, oder reicht es ihnen, dass sie selbst gerettet sind – in ihren sicheren Sitzen, mit ihren moralischen Bonuspunkten?

Die deutsche Politik ist gelähmt von einer europäischen Bürokratie, die das Denken längst durch Regelwerke ersetzt hat. Und wenn man doch einmal versuchen will, Dinge anders zu machen, kommt sofort die Korrektur von oben, unten oder innen. Es ist, als würde ein Land versuchen zu schwimmen – in einem Netz aus Vorschriften, Moralgeboten und politischer Feigheit. Kein Wunder, dass es untergeht.

Epilog in Moll – oder: Das Schweigen der Mehrheit

Es gibt eine stille Mehrheit in diesem Land. Eine, die längst begriffen hat, dass man zwar noch alles denken darf, aber nicht mehr alles sagen kann. Dass man zwar offiziell frei ist, aber praktisch gebunden. Dass Kritik erlaubt ist – solange sie niemanden stört. Und dass Hoffnung schön klingt, aber wenig nützt, wenn sie keine Werkzeuge hat.

Die Wahrheit ist: Freiheit stirbt nicht mit einem Knall. Sie wird zersetzt, langsam, Stück für Stück – durch Ironieverbote, Empörungsrituale und eine Kultur der Verdächtigung. Was bleibt, ist ein Land, das sich selbst in den Arm beißt, weil es sich nicht traut, in den Spiegel zu schauen. Aber wie immer in der Geschichte gilt: Es kommt nicht auf die Lauten an. Sondern auf die, die endlich aufhören zu schweigen.

Die Postkoloniale Theorie und ihre heiligen Kühe

Die Theorie, die kam, sah – und alles zu Kolonialismus erklärte

Es war einmal eine Theorie, die wie ein wiedergeborener Prophet aus dem akademischen Staub der westlichen Universitäten hervorkroch – durstig nach Gerechtigkeit, bewaffnet mit Adorno in der einen und Edward Said in der anderen Hand, brennend wie ein Fackelzug der moralischen Überlegenheit. Sie nannte sich „Postkoloniale Theorie“, doch ihre Anhänger sprachen bald nur noch in Zungen: „Dekolonisierung“, „Subalterne“, „Epistemische Gewalt“ – Begriffe, so schwer und bedeutungsschwanger, dass man sie nur noch im Rollkoffer durch die Seminare schieben konnte.

Diese Theorie hatte ein Ziel: die Welt vom Kolonialismus zu erlösen, und zwar rückwirkend, global und universal – eine Art Exorzismus mit Fußnoten. Und während es gewiss gerechtfertigt war, die historischen Greueltaten des Kolonialismus nicht dem Vergessen zu überantworten, wurde der Eifer ihrer Jünger bald zur Parodie ihrer selbst: Kolonialismus wurde zur Ursünde aller Gegenwart, zur Erklärung jedes Unglücks, zur ideologischen Mülltonne, in die man alles warf, was unangenehm roch – auch den Zionismus.

Von Palästina bis Paris – Der antisemitische Schatten im postkolonialen Diskurs

Es begann schleichend, wie so vieles, das später stinkt. Erst war es die Kritik an Israel, dann am Zionismus, dann an jüdischer „Komplizenschaft“ mit dem kolonialen Projekt – und ehe man „intersectionality“ sagen konnte, war man bei Thesen angelangt, die einen Goebbels wohl milde hätten lächeln lassen.

Denn siehe: In der Welt der postkolonialen Kritik ist Israel ein weißer, westlicher Kolonialstaat – trotz sefardischer, mizrachischer, äthiopischer Juden, trotz der Flucht aus Pogromen, Shoah, Exil und Diaspora. Der Umstand, dass Juden über Jahrhunderte in der islamischen Welt ebenso gedemütigt, entrechtet und ermordet wurden wie in Europa, fällt unter den Tisch wie ein schlecht geschriebener Fußnotenapparat.

In den endlosen Paneldiskussionen postkolonialer Akademiker wird die Shoah zwar erwähnt – als historische Klammer, als Pflichtschuldigkeit –, doch sie steht zunehmend wie ein ungebetener Gast im Raum, dessen Leid plötzlich relativiert wird, sobald das Stichwort „Nakba“ fällt. Da wird der Holocaust zur Fußnote imperialer Gewalt, Zionismus zum verlängerten Arm des weißen Mannes, und Juden – eine 3000 Jahre verfolgte Minderheit – werden als Agenten der Unterdrückung tituliert. Das alles unter dem Banner des „Dekolonisierens“.

Das heilige Opfer-Narrativ – Und wer darin keinen Platz hat

Die postkoloniale Theorie lebt von binären Codes: Opfer und Täter, Kolonisierte und Kolonisatoren, Marginalisierte und Mächtige. Wer nicht in diese dualistische Welt passt, hat ein Problem – vor allem, wenn er jüdisch ist. Denn Juden sind in diesem Modell nicht länger die entrechteten Flüchtlinge, sondern plötzlich Teil einer globalen „Weißheit“. Der Holocaust? Tragisch, aber passé. Jetzt regiert das Leid anderer – vorzugsweise antiwestlicher, antizionistischer, antikapitalistischer Natur.

Dass Israel nicht mit der gleichen Schärfe kritisiert wird wie etwa China (Uiguren? Wer?), Russland (Tschetschenien? Nie gehört) oder der Iran (Frauenrechte? Dekoloniales Missverständnis!) – das stört niemanden. Man spricht von „Israelkritik“, meint aber jüdische Selbstbestimmung. Man spricht von „Solidarität mit Palästina“, meint aber: „Warum haben die Juden nach der Shoah nicht einfach in Polen weiter gewohnt?“

Das postkoloniale Buffet – Ein Fest für Moralisten, ein Albtraum für Juden

Wer sich die postkoloniale Theorie anschaut, erkennt ein ideologisches Buffet, bei dem sich jeder das nimmt, was ihm gerade schmeckt. Man kombiniert Foucault mit Frantz Fanon, streut etwas Judith Butler darüber und trinkt dazu einen BDS-gefilterten Chardonnay. Was nicht auf der Karte steht: jüdische Geschichte als eigene Geschichte, jüdische Emanzipation als Emanzipation, jüdische Angst als reale Angst.

Stattdessen wird sie zynisch umetikettiert: von „Sorge um das Existenzrecht Israels“ zu „imperialistische Lobbyarbeit“, von „Schutz jüdischen Lebens“ zu „Reproduktion kolonialer Machtstrukturen“. Wer aufbegehrt, wird als Zionist denunziert, als Reaktionär, als Komplize. Und wer wagt, den neuen Antisemitismus zu benennen, wird schnell zum „weißen Mann“, auch wenn er oder sie aus Aleppo geflohen ist.

Die Dekonstruktion der Vernunft – Wenn das Opfer spricht, aber niemand zuhört

Postkoloniale Theorie inszeniert sich als radikale Kritik an hegemonialem Denken – dabei errichtet sie längst ihr eigenes Dogma. Ihre Priester verkünden Wahrheiten ex cathedra: Wer weiß ist, hat zu schweigen. Wer kolonisiert wurde, hat recht. Wer Israel kritisiert, ist mutig. Wer Antisemitismus benennt, ist ein ideologischer Nestbeschmutzer. Das Denken selbst wird zum Kolonialverbrechen erklärt, solange es nicht der reinen Lehre folgt.

Und so schweigt man dort, wo man schreien müsste. Judenhass? Ein „Produkt des Zionismus“. Angriff auf Synagogen? „Verzweiflung der Unterdrückten“. Verschwörungstheorien über jüdische Macht? „Kritik am globalen Finanzkapital“. Die Dialektik der Aufklärung ist tot, es lebe die Dialektik der Diffamierung.

Schluss mit der Romantisierung des Ressentiments

Was bleibt also von einer Theorie, die sich dem Emanzipatorischen verschrieben hat, aber regelmäßig im Ressentiment versinkt? Die mehr über Kolonisatoren spricht als über Menschen, die heute Bomben auf Synagogen werfen? Die Auschwitz zwar zitiert, aber nicht versteht? Die Opferhierarchien zementiert, während sie vorgibt, sie zu sprengen?

Sie bleibt als trauriges Beispiel dafür, wie gute Absichten in ideologische Dogmen umkippen können. Als Warnung, wie leicht Kritik zur Karikatur wird, wenn sie blind ist für eigene Vorurteile. Und als Beweis, dass man selbst als Theoretiker postkolonialer Diskurse nie zu klug sein kann, um antisemitische Denkmuster zu reproduzieren – mit akademischer Eleganz, versteht sich.

Man darf, ja man soll den Kolonialismus kritisieren, seine Verbrechen benennen, seine Nachwirkungen erkennen. Aber wer im Namen der Gerechtigkeit beginnt, Juden zu entmenschlichen, Zionismus zu dämonisieren und den Holocaust zu relativieren, ist nicht Teil einer kritischen Avantgarde – sondern Teil eines uralten Problems in neuem Gewand.

Denn Antisemitismus ist ein Chamäleon. Und in der postkolonialen Theorie hat er längst eine neue Farbe gefunden.

Edward Saids Erben – Zwischen Kulturkritik und kognitiver Dissonanz

Beginnen wir mit dem Kronzeugen: Edward Said, Ikone des postkolonialen Denkens, dessen Werk Orientalism (1978) zur Pflichtlektüre wurde – von Berkeley bis Berlin-Mitte. Said zeigte, wie der Westen den „Orient“ als exotisch-anders und minderwertig konstruierte, um seine eigene kulturelle Dominanz zu rechtfertigen. Das war klug, bahnbrechend, notwendig. Doch wie so oft bei Propheten, wurde sein Werk bald zur heiligen Schrift, und seine Schüler zu orthodoxen Kommentatoren, die aus jedem archäologischen Ausgrabungsbericht koloniale Dominanz lasen.

Problematisch wurde es, als diese Sichtweise nicht mehr als Erkenntnisinstrument, sondern als ideologische Brille benutzt wurde. Alles wurde „Orientalismus“: Israelische Sicherheitskontrollen? Orientalismus. Holocaustgedenken? Eurozentrismus. Juden in Machtpositionen? Postkoloniale „Komplizenschaft“.

Said selbst, Palästinenser, kluger Geist, leidenschaftlicher Kritiker Israels – kritisierte zionistische Politik scharf, ja. Doch er warnte auch vor Verkürzungen. In einem Interview mit Ari Shavit (1999) sagte er:

„I absolutely do not support the idea that anti-Zionism is necessarily antisemitic. But when it becomes a blanket rejection of Israel’s existence, it is.”

Diese Unterscheidung haben viele seiner Schüler nie verinnerlicht. Stattdessen folgt man einem simplen Code: Israel = Siedlerkolonialismus. Zionismus = Rassismus. Juden = Weiße. Die historische Realität – dass Zionismus aus Pogromen, Ghettos und KZs erwuchs – wird zur lästigen Fußnote.

Judith Butler, Achille Mbembe und die Geburt des Salon-Antizionismus

Wo akademische Theorie auf moralischen Exhibitionismus trifft, da wächst der neue Salon-Antizionismus. Paradebeispiel: Judith Butler, Philosophin, poststrukturalistische Virtuosin, gender-theoretisches Genie. Sie schrieb 2006:

„Understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important.“

Man fragt sich: Hat Butler je ein Hamas-Manifest gelesen? Den Satz „Die Stunde des Jihad ist gekommen“? Oder die Hamas-Charta, die von der „Weltherrschaft der Juden“ raunt?

Doch Butler ist kein Einzelfall. Achille Mbembe, afrikanischer Historiker und postkolonialer Superstar, verglich 2020 die israelische Politik mit dem südafrikanischen Apartheidsregime. In einem Text über Kolonialismus mischte er Shoah-Relativierungen mit Begriffen wie „Industrie des Holocaust-Gedenkens“ – ein Framing, das jede Gedenkkultur zur Lüge stempelt. Ein Sturm brach los, man warf ihm Antisemitismus vor – er verteidigte sich mit dem Hinweis, er sei Opfer der „jüdischen Lobby“.

Aha.

So schließt sich der Kreis: Wer Antisemitismus benennt, ist ein Sprachrohr Israels. Wer Israel dämonisiert, ein mutiger Intellektueller. Und wer beides differenziert? Ein Nestbeschmutzer ohne Lehrstuhl.

Der BDS-Komplex – Dekolonisieren, Boykottieren, Dämonisieren

Die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) ist der aktivistische Arm jener Theorie, die Israel als letztes koloniales Relikt stilisiert. Ihre Forderungen: ökonomischer, kultureller, politischer Boykott. Ihre Methoden: Delegitimierung, Dämonisierung, doppelte Standards.

In den Worten der Gründerorganisation PACBI:

„Colonialism and apartheid are not metaphors for Israel’s occupation – they are accurate descriptors.“

Was dabei ignoriert wird: Juden lebten bereits im 19. Jahrhundert in Palästina, bevor es überhaupt britische Kolonialherren gab. Und sie lebten nicht als Siedler, sondern als Einheimische – in Jerusalem, Hebron, Tiberias. Die jüdische Verbindung zum Land ist keine Erfindung von Herzl, sondern tief in Geschichte, Religion und Kultur verwurzelt.

Doch für BDS gilt: Die Shoah erklärt nicht Israels Existenzrecht, sondern sei eine „europäische Schuld“, für die „Palästinenser nun bezahlen“. Hier spricht keine „Israelkritik“, sondern die alte antisemitische Formel mit neuem Lippenstift: „Warum seid ihr überhaupt hier?“

Intersectional Ignorance – Wenn Wokeness blind für Antisemitismus ist

In der Welt der „woken“ Akademie ist Solidarität alles – solange man die richtigen Opfer wählt. Wer aber jüdisch ist und nicht ins weiße Täterprofil passt, stört die Schönheit des Opfer-Narrativs. Das Ergebnis: Juden sind plötzlich „weiß“, „privilegiert“, „nicht rassifizierbar“. Ihre Diskriminierung zählt nicht, weil sie zu erfolgreich sind.

So twitterte die antikoloniale Aktivistin Ruwaida Omar (UK, 2021):

„Zionism is racism. Antizionism is anticolonialism.“

Kurze Nachfrage: Ist Antizionismus auch dann antikolonial, wenn er in Form von Brandsätzen auf Synagogen auftritt? Schweigen. Denn der Postkolonialismus hat kein Konzept für jüdische Emanzipation. Er kennt nur das Opfer, das sich opfert – nicht das, das sich verteidigt.

Fazit: Dekolonisiert die postkoloniale Theorie

Es ist Zeit, die postkoloniale Theorie selbst zu dekolonisieren – von ihren Dogmen, blinden Flecken, moralisierenden Haltungen und ja: von ihrem Antisemitismus. Der Holocaust war keine „weiße Tragödie“, sondern ein zivilisatorischer Abgrund. Israel ist kein Apartheidstaat, sondern ein realpolitisches Paradox in einer feindseligen Region. Zionismus ist keine Kolonialideologie, sondern eine Antwort auf das größte Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts.

Postkoloniale Theorie muss sich fragen: Warum wird Israel härter verurteilt als China, Syrien, Sudan, Russland? Warum ist jüdische Selbstbestimmung weniger legitim als kurdische oder palästinensische? Und warum marschieren in deutschen Universitäten Menschen mit „Free Palestine“-Schildern, während ihre jüdischen Kommilitonen sich nicht mehr in der Mensa zeigen?

Weil der neue Antisemitismus einen akademischen Doktorhut trägt. Und weil er sich hinter Worten wie „Dekolonialisierung“ versteckt, während er alte Mythen neu verpackt: vom „jüdischen Einfluss“, der „zionistischen Lobby“, der „Opferkonkurrenz“.

Europa am rechten Rand

Ich hätte dieses Essay nicht schreiben sollen. Es wird nichts ändern. Es wird gelesen von jenen, die ohnehin schon ahnen, dass wir kollektiv auf einem sinkenden Narrenschiff tanzen, während der DJ lauter dreht und die Bullaugen sich langsam mit braunem Wasser füllen. Die anderen, die man erreichen müsste, werden diesen Text niemals lesen – entweder, weil er zu lang ist, zu polemisch, zu komplex oder schlicht: zu wenig TikTok-tauglich.

Aber wie sagte schon der alte Camus, kurz bevor er mit dem Auto in den Baum fuhr: „Der Kampf gegen das Absurde ist der einzige, der uns bleibt.“ Voilà.

Die Stunde der Rechten – Europa wählt Erinnerungslosigkeit

In mittlerweile sieben westeuropäischen Ländern sind Rechtsparteien in den Umfragen die stärkste Kraft. Lediglich in Deutschland, Schweden und Norwegen landen sie auf Platz zwei, in Spanien und Portugal auf dem dritten. Was früher als Warnsignal galt, gilt heute als normaler Bestandteil der politischen Landschaft: der demokratisch gewählte Autoritarismus im schicken Anzug mit markigen Sprüchen und der intellektuellen Tiefe eines Facebook-Kommentars.

Man könnte fragen: Wie konnte es so weit kommen? Man könnte aber auch sagen: Es war nie anders – wir haben nur nicht hingeschaut. Die Rechten haben nichts Neues erfunden, sie bedienen sich alter Ängste, kleiden sie in neue Sprache und verkaufen Rückschritt als Revolution. Und das Publikum? Applaudiert, weil es endlich wieder einfache Antworten gibt. Auf komplexe Fragen. In einer komplex überforderten Gesellschaft.

Die Medien – Mitgestalter, Mitläufer, Meute

Früher war Journalismus Aufklärung. Heute ist er Aufregung. Die Medien, so sehr sie sich auf ihre Unabhängigkeit berufen, sind längst Teil einer Struktur, die nicht mehr Wahrheit sucht, sondern Aufmerksamkeit. Der rechte Diskurs lebt von Empörung – und die Medien liefern sie frei Haus, täglich, im Liveticker, mit Bauchbinden und Panik-Infografik.

Talkshows inszenieren rechte Positionen als „Stimme des Volkes“, während sie gleichzeitig betroffen die Stirn runzeln. Man lädt den Wolf ein und fragt sich anschließend, warum die Schafe nervös sind. Wer skandalisiert, reproduziert. Und so wird jeder rechte Tabubruch zum Marktwert, jede Grenzüberschreitung zur Quote – und jede Schlagzeile ein weiterer Sargnagel für das, was einmal öffentliche Vernunft hieß.

Die Jugend radikalisiert sich – aber nicht so, wie man denkt

Radikalisierung ist heute ein stiller Prozess. Sie passiert nicht in Kellern, sondern auf Bildschirmen. Nicht durch Flugblätter, sondern durch Follower. Die neue Rechte ist jugendlich, medial kompetent und ironisch – eine Mischung aus toxischem Zynismus, digitaler Maskerade und realem Menschenhass mit Hashtag.

Die Rebellion der Jugend war einmal progressiv – heute ist sie regressiv, weil sie gelernt hat, dass Haltung nichts nützt, wenn sie nichts einbringt. Wer „woke“ ist, wird belächelt. Wer polemisiert, wird gepusht. Die Algorithmen haben den Anstand überstimmt. Und so entstehen junge Milieus, die nicht fragen Was ist gerecht?, sondern Was bringt Reichweite?

Digitaler Tribalismus – Willkommen in der Echokammerhölle

Das Netz war gedacht als Ort der Vielfalt – es wurde ein Spiegelkabinett der Bestätigung. Jeder Algorithmus ein digitaler Schamane, der uns sagt, was wir eh schon glauben. Diskurs wird ersetzt durch Disziplinierung, Zweifel durch Zugehörigkeit. Die Wahrheit ist nicht mehr objektiv, sondern tribal: Wahr ist, was meine Leute glauben.

Die Rechten verstehen das Prinzip perfekt. Ihre Narrative funktionieren wie Religionen: mit Märtyrern, Dogmen und Häresien. Wer widerspricht, gehört „den anderen“. Die Welt wird wieder zweigeteilt: Freund oder Feind. Grauwerte sind Schwäche, Ambivalenz ist Verrat. Willkommen in der Post-Aufklärung, wo Fakten stören und Gefühle wählen gehen.

Die Intellektuellen – Rhetorik im Elfenbeinturm

Es gibt sie noch, die klugen Köpfe. Sie schreiben Bücher, halten Vorträge, sprechen in Lehraufträgen und streiten auf Podien. Nur leider nicht dort, wo es brennt – sondern in wohltemperierten Sälen vor Gleichgesinnten. Die Intellektuellen haben sich abgesetzt – aus Furcht vor Missverständnissen, aus Angst vor Shitstorms oder schlicht: aus Trägheit.

Statt zu intervenieren, kommentieren sie. Statt zu agitieren, analysieren sie. Der Diskurs wird zur Selbstvergewisserung der Klugen, während draußen die Lauten marschieren. Die Rechte hat längst ihre Gegen-Intellektuellen etabliert – aggressive Monotone mit YouTube-Kanälen, die ihre dogmatische Einfalt als „Mut zur Wahrheit“ inszenieren. Und das wirkt, weil es einfach ist. Und einfach ist das neue Wahr.

Historische Amnesie – Europa vergisst, was Europa war

Der Faschismus kam nicht über Nacht. Er war das Resultat einer langen moralischen Erosion, einer Erschöpfung der Mitte und einer schleichenden Verachtung der Vernunft. Heute wiederholen sich diese Symptome – nur unter neuem Design. Der Nationalismus trägt jetzt Krawatte, der Rassismus nennt sich „Migrationskritik“, der Antisemitismus versteckt sich in „Israelkritik“.

Die Geschichte? Wird behandelt wie eine lästige Tante, die beim Familienfest von früher erzählt. Man nickt höflich, aber hört nicht hin. Der Holocaust? Ein Kapitel im Schulbuch. Die Weimarer Republik? Eine multiple-choice-Frage. Erinnerung ist nicht mehr Haltung, sondern Unterrichtseinheit. Und so tritt man wieder dieselben Fehler, mit frischem Anlauf.

Die Kirche – Moral mit Sprechpause

Man müsste meinen, dass in Zeiten der Spaltung, der Verrohung, der Ausgrenzung eine ethische Instanz wie die Kirche laut würde. Aber nein: Man duckt sich. Man mahnt vorsichtig. Man „lädt zum Dialog“. Christus hat den Tempel ausgeräumt – die Bischöfe heute schweigen höflich bei der Abendmahlsausgabe. Die Rechten danken es ihnen – durch religiöse Rhetorik bei gleichzeitiger Menschenverachtung.

Eine Kirche, die sich scheut, Farbe zu bekennen, wird zur Kulisse. Wer gegen Fremdenhass nicht predigt, sondern debattiert, verliert das Recht auf moralische Autorität. Jesus war kein Verwaltungsbeamter – das Christentum kein Ethikzirkel für Wohlfühltheologie.

Bildung – Der Verlust der Frage

Die Schulen Europas bringen immer noch Leistung – aber kaum mehr Orientierung. Wer mit 18 weiß, wie man eine Gedichtsanalyse schreibt, aber nicht, wie Demokratien sterben, ist kein gebildeter Mensch, sondern ein dressierter Prüfungsteilnehmer. Politische Bildung ist nachrangig, Rhetorik ein Wahlfach, Empathie ein nice-to-have.

So entstehen junge Menschen, die sich nicht für das interessieren, was ist, sondern nur für das, was sie betrifft. Bildung wurde entpolitisiert – und damit entmächtigt. Wer sich wundert, warum junge Menschen mit rechtem Gedankengut sympathisieren, sollte fragen, wer ihnen beigebracht hat, was Würde bedeutet. Und wer es versäumt hat.

Postskriptum aus der Zukunft – Ein apokalyptisches Schlusswort

Stellen Sie sich vor: Das Jahr 2045. Europa ist formal noch eine Union, real jedoch ein Mosaik autoritärer Kleinstaaten mit geschlossener Gesellschaft. Die Parlamente funktionieren wie Theater, die Presse berichtet angepasst, die Kirche segnet, was sie nicht mehr versteht. Und irgendwo, in einem Keller, sitzt ein alter Mann, schreibt mit zitternder Hand ein weiteres Essay und fragt: Wie konnte es so weit kommen?

Niemand liest ihn. Niemand hört ihn. Denn es ist längst zu laut geworden in dieser Welt.

Ready for Takeoff – Wenn der Staat abhebt

Berlin, Hauptstadt der föderalen Kompromisse und der chronischen Bauverzögerung, ist wieder einmal bereit für das große Finale der bundesdeutschen Selbstdarstellung: Die Kanzlermaschine soll landen – nicht metaphorisch, sondern ganz konkret, auf einem Sonderlandeplatz in 24 Metern Höhe, auf dem Dach eines sechsgeschossigen Bürogebäudes inmitten der verplanten Republik. Das nennt man dann Fortschritt mit Rotorblättern.

Zwei Jahrzehnte nach dem Einzug ins neue Kanzleramt wird der architektonische Größenwahn um eine neue Dimension ergänzt: Vertikal. Und während der Bürger sich noch fragt, ob er sich die nächste Miete leisten oder lieber doch auf Balkonsalat umsteigen sollte, werden in Regierungsnähe Flugbewegungen geplant – zweihundert pro Jahr, jede zehnte nachts, wie ein diskreter Hinweis auf die flexible Einsatzbereitschaft der Exekutive. Gespräche? Unterbrochen. Fernsehen? Zwecklos. Radio? Verstummt im Schatten der Macht. Aber: keine Lärmschutzfenster, versteht sich. Die Republik bleibt offen – wenigstens akustisch.

Schweben über den Dingen: Die neue Demutsverweigerung

Die Luftfahrtbehörde sieht das alles entspannt. Maximal viermal pro Woche sei mit Störungen zu rechnen. Gerichte halten fünf bis sechzehn Flüge täglich für zumutbar. Schließlich leben wir in einem Land, in dem die Bürger zur Akzeptanz staatlicher Zumutungen erzogen werden sollen, notfalls mit Lärmpegeln über Norm und unterhalb des Bewusstseins für politische Ironie. Was stört schon der Landeanflug eines Regierungshubschraubers, wenn man dafür aus der Küche heraus live an der Staatsinszenierung teilnehmen darf?

Man stelle sich nur das Briefing der Anwohner vor: „Sehr geehrte Damen und Herren, in Ihrer Nachbarschaft wird demnächst ein Regierungslandeplatz in Betrieb genommen. Leider können wir Ihnen keine Lärmschutzmaßnahmen zusichern, aber sehen Sie es positiv: Sie wohnen jetzt direkt an der Schnittstelle zwischen Demokratie und vertikaler Mobilität.“ Der deutsche Steuerzahler hat nicht nur das Recht, sondern offenbar die Pflicht, auch symbolisch überflogen zu werden.

657 Millionen für die Würde der Macht – und 140 Millionen für das Unvorhersehbare

Über die konkreten Kosten der Landeplattform schweigt sich das Bundespresseamt aus – wie es sich gehört, wenn Summen im Raum stehen, die man nur noch mit diplomatischer Höflichkeit in den Haushalt einpflegen kann. Insgesamt aber rechnet man mit 657 Millionen Euro für die Erweiterung des Kanzleramts, dazu 140 Millionen für „Risikovorsorge“ – was vermutlich alles umfasst, von Statikproblemen bis hin zu einer möglichen Protestaktion der letzten Klimakleber auf dem Dach.

Selbstverständlich wird betont, dass der nächstgelegene Landeplatz in Wedding, drei Kilometer entfernt am Virchow-Klinikum, aus flugsicherungstechnischer Sicht „kein Problem“ wäre. Was das Kanzleramt nicht daran hindert, dennoch ein eigenes Landezentrum zu errichten – schließlich könnte in einer echten Krise der Unterschied zwischen drei Kilometern und drei Minuten über das politische Schicksal eines Landes entscheiden. Wenn’s brennt, soll der Rückflug ins Grundgesetz möglichst staufrei erfolgen.

Saigon, Baby! – Erinnerungskultur mit Rotorblättern

In Regierungskreisen wird der Bau wahrscheinlich mit einem historischen Argument verteidigt: Die Amerikaner seien in Saigon sehr froh gewesen, dass ihre Botschaft über einen Hubschrauberlandeplatz verfügte, „falls man mal schnell weg muss“. Ein Satz, der in seiner entlarvenden Lakonie alles sagt über das Verhältnis der Macht zur Bevölkerung. Während der Bürger mit dem ÖPNV zur Tafel fährt, sich über marode Brücken schlängelt und die Bahn-App regelmäßig resigniert, soll sichergestellt werden, dass die Regierung jederzeit in den Sonnenuntergang abheben kann – oder wenigstens ins sichere Ausland, sollte der Volkszorn überhandnehmen.

Es ist diese Mischung aus technokratischer Kaltschnäuzigkeit, symbolischer Selbstüberhöhung und planerischer Hybris, die das Projekt so exemplarisch deutsch macht. Wir bauen keine Flugtaxis, wir bauen Landeplätze für Eventualitäten, die in einem funktionierenden Staatswesen als absurd gelten würden. Und wir nennen das dann „Vorsorge“ – nicht etwa für das Volk, sondern für seine Repräsentanten.

Der Himmel über Berlin – exklusiv für Regierende

Was also bleibt dem Bürger? Ein Stück Resthoffnung vielleicht, dass bei der nächsten Landeanflugstörung doch wenigstens ein wenig Staatskunst aus dem Himmel rieselt. Oder ein Selfie mit der Kanzlerdrohne, falls sie bei der Landung mal zu tief sinkt. In jedem Fall aber die Gewissheit: Die da oben sind jetzt wirklich da oben. Und wer unten steht, sollte besser schweigen – der Rotorlärm übertönt ohnehin jedes Wort.

Friedrich Merz, und der Krieg, der noch gar nicht begonnen hat,

aber schon verloren ist.

Es beginnt, wie es in Deutschland immer beginnt: mit großen Worten, ernster Miene, militärischem Vokabular und dem Unwillen, aus der Geschichte etwas anderes zu lernen als die falschen Lektionen. Friedrich Merz, frisch inszenierter Bundeskanzler und General im Anzug, betritt die Bühne der Republik nicht mit einer Vision, sondern mit einem Feindbild. Russland. Krieg. Notstand. Wiederbewaffnung. Und dazwischen die betonte Feststellung, Deutschland müsse „wieder die stärkste konventionelle Armee Europas“ stellen. Als wäre das ein Qualitätsmerkmal. Als wäre das nicht exakt der Punkt, an dem in der Vergangenheit alles begann, was man angeblich nie wiederholen wollte.

Historisch betrachtet bedeutet ein Deutschland mit der stärksten Armee Europas exakt eines: Krieg. Es ist keine These, es ist kein Alarmismus – es ist ein empirischer Befund. Jedes Mal, wenn Berlin Panzer zählen konnte, bevor es Stimmen hörte, folgte ein Flächenbrand. 1914. 1939. Zwei Weltkriege, zwei deutsche Führungsansprüche, zwei Mal militärische Stärke, die in moralischer Schwäche kulminierte. Und nun also wieder: Friedrich Merz, der Mann mit dem Steuersparmodell für Kriegsfantasien, erklärt das Land für „im Krieg“. Nicht vielleicht, nicht bald – jetzt. Nur diesmal sei er „asymmetrisch“, also praktisch überall, nirgends, fließend, unsichtbar – wie eine Buchhaltungsprüfung bei BlackRock.

Die neue Wehrmacht heißt „Verantwortung“

Was Merz hier betreibt, ist keine Sicherheitspolitik, es ist politisch codierter Größenwahn. Nicht einmal die Generäle der NATO träumen so offen von deutscher Militärdominanz wie dieser Mann, der seine politischen Ambitionen offenbar mit einem Sandkasten verwechselt, in dem er der Größte sein will. Und weil man sich nicht mehr traut, „militärische Hegemonie“ zu sagen, nennt man es jetzt „Verantwortung“. Verantwortung – das klingt nach G7-Gipfel, nicht nach Stahlhelm. Es klingt nach Diplomatie, nicht nach Aufrüstung. Und genau darum ist es so perfide. Denn die „Verantwortung“, von der Merz spricht, ist nichts anderes als die Wiederherstellung eines Machtanspruchs, der Europa schon zweimal in den Abgrund gerissen hat.

Man reibt sich die Augen: Hat dieser Mann wirklich Geschichte studiert, oder nur Rüstungskataloge? Glaubt er im Ernst, man könne gegen eine Atommacht wie Russland mit Leopard-Panzern antreten, oder glaubt er nur, dass die Vorstellung davon reicht, um innenpolitisch durchzuregieren? Denn das ist ja der Trick: Wer Krieg ruft, bekommt Schweigen. Wer „Gefahr“ sagt, erhält Durchgriffsrechte. Wer „Russland“ sagt, braucht keine Debatte mehr zu führen. Nur Panzerlisten.

Russland als Bühnenbild, Berlin als Regisseur

Der „russische Angriff“ ist in dieser Erzählung nicht einmal mehr ein Ereignis – er ist ein Dauerzustand, ein atmosphärisches Element, ein Rechtfertigungshintergrund. Die russische Bedrohung ist das neue „Barbarentum“, der neue Osten, das neue Unheil, das durch Aufrüstung gezähmt werden muss. Als wäre Russland ein Naturereignis. Oder ein schlechtes Drehbuch, das man braucht, um die eigene Rolle zu spielen. Merz braucht Russland nicht als Gegner, sondern als Schatten, in dem Deutschland wieder als Licht erscheinen darf.

Dabei ist es offensichtlich: Russland hat keine Ressourcen für eine europäische Invasion. Es kämpft sich durch die Ukraine, mit zunehmend improvisierter Logistik, Söldnern und verzweifelten Wehrpflichtigen. Das ist keine Großmacht – das ist ein maroder Apparat mit Atomwaffen. Und die Vorstellung, dass Berlin mit „konventioneller Stärke“ diesem Gegner gegenübertritt, ist nicht nur militärisch absurd – sie ist zynisch. Denn sie verkennt, was auf dem Spiel steht. Nicht nur Stabilität, sondern Existenz.

Panzer für den Frieden – ein deutscher Witz

Die gefährlichste Waffe im politischen Arsenal von Friedrich Merz ist nicht der Panzer – es ist das Narrativ. Die Sprache. Der Trick, aus Aufrüstung Friedenspolitik zu machen. Aus Stärke Verantwortung. Aus Wiederbewaffnung Normalität. Es ist dieselbe politische Grammatik, die in Deutschland schon oft als Einstieg in die Katastrophe diente. Merz verkauft das Comeback der Wehrhaftigkeit als moralisches Projekt. Doch es ist nichts anderes als der Rückfall in einen deutschen Exzeptionalismus – diesmal mit NATO-Logo.

Die Behauptung, dass Deutschland „die stärkste konventionelle Armee Europas“ brauche, ist wie ein Echo aus einer Zeit, in der genau dieser Satz unaussprechlich war – weil die Leichenberge noch nicht vergessen waren. Heute aber wird dieser Satz wieder salonfähig. Und mit ihm eine neue deutsche Selbstermächtigung, die als Verteidigung getarnt ist. Die Wahrheit ist: Keine konventionelle Armee der Welt schützt vor einem Atomkrieg. Und niemand in Europa – wirklich niemand – hat vergessen, was passiert, wenn Deutschland glaubt, es müsse militärisch führen.

Geschichte als schlechte Gewohnheit

Es ist wie ein alter Albtraum, den man für verarbeitet hielt. Doch plötzlich sitzt er wieder am Kabinettstisch, in Nadelstreifen und mit Redezeit. Wieder glaubt Deutschland, es müsse sich „ernst nehmen“, indem es Waffen spricht. Wieder redet ein Kanzler von Gefahr, wo Klugheit gefragt wäre. Wieder soll ein Land militärisch vorangehen, das zivilisatorisch oft genug hinterherhinkte, wenn es um Verantwortung wirklich ging.

Das eigentliche Problem ist nicht Russland. Es ist die deutsche Bereitschaft, in Bedrohungsszenarien sofort wieder das zu werden, was es nie wieder sein wollte: bewaffnet, moralisch überhöht, blind für das eigene Echo. Der Weltkrieg beginnt nie plötzlich. Er beginnt in solchen Reden. In solchen Rhetoriken. In solchen Wiederholungen. Und jedes Mal beginnt er mit dem Satz: „Deutschland muss sich verteidigen.“

Merz – ein Name, ein Programm?

Der Name selbst klingt schon wie eine Kriegsparole. Merz. Kurz, hart, deutsch. Man hört ihn und denkt: Vielleicht ist das alles kein Zufall. Vielleicht ist dieser Mann wirklich der perfekte Kanzler für eine Republik, die glaubt, der Krieg sei ein Zeichen von Ernsthaftigkeit. Vielleicht ist es kein Unfall, dass gerade er das Comeback der Bundeswehr nicht als Notwendigkeit, sondern als Identitätspolitik betreibt. Merz ist nicht der Kanzler des Krieges. Aber er ist der Kanzler, der ihn denkbar macht.


Postskriptum: Berlin, bitte keine dritte Staffel

Die Geschichte hat uns zwei Mal gezeigt, was passiert, wenn Berlin militärisch aufrüstet, sich selbst zur Mitte Europas erklärt und die „konventionelle Stärke“ als Heilsversprechen verkauft. Zwei Weltkriege, zwei Zusammenbrüche, zwei Mal verbrannte Erde. Und nun, so scheint es, beginnt der dritte Akt. Wieder nicht mit einem Schuss – sondern mit einer Rede. Und einem Kanzler, der nichts gelernt hat. Außer vielleicht: Wie man Applaus bekommt, wenn man das Wort „Krieg“ oft genug in den Mund nimmt.

Der Rückzug der Schwarzhüte

Wenn der Kapitalismus nicht einmal mehr Hoffnung verkauft

BlackRock zieht sich zurück. Nicht aus dem globalen Derivatehandel, nicht aus der Welt der algorithmischen Allmacht und schon gar nicht aus der Umarmung der politischen Eliten – nein, aus der Ukraine. Genauer gesagt: aus dem frommen Vorhaben, einen Wiederaufbaufonds für das im Krieg verheerte Land zu bewerben. Ein Fonds, der nicht weniger versprach als Erlösung im Dreiteiler – Infrastruktur, Landwirtschaft, Energie. Doch nun heißt es: keine Werbung mehr. Kein Glamour der globalen Rekonstruktion, keine PowerPoints mit Aufwärtskurven und Bruttorenditen im 10-Jahres-Schnitt. Die Börsenpriester von BlackRock, jahrzehntelang Apostel der monetären Transsubstantiation, haben plötzlich kein Interesse mehr an der Wüste der Trümmer und der Unsicherheit – und wo sich der Markt zurückzieht, eilt das moralisch verpflichtete Europa selbstverständlich zur Stelle: Merz wird sägen, Ursula wird lächeln, und wir, das moralisch hochgerüstete Wir, springen brav in die Bresche, schaufeln Milliarden in politisch korrekte Ödnis und nennen es Solidarität.

Der Orange Schmetterling – Wie Trump mit einem Flügelschlag die Investoren vertreibt

Es ist erstaunlich, wie schnell sich der Wind dreht, wenn ein Mann mit der Hautfarbe eines Florida-Sonnenuntergangs in einem Land mit 300 Millionen Schusswaffen gewählt wird. Donald Trump hat die Bühne wieder betreten, diesmal nicht als Clown, sondern als Dirigent geopolitischer Kakophonien. Und siehe da: Die Investoren hören genau hin. Wenn aus Washington nicht mehr das säuselnde Versprechen unbegrenzter Ukraine-Milliarden kommt, sondern das knirschende Geräusch nationalistischer Taschenrechner, wird das Kalkül plötzlich nüchtern. Ein Wiederaufbau ohne politische Rückversicherung aus den USA? Das ist wie ein Hochhaus auf Treibsand. BlackRock, gewieft wie eh und je, hat das Gras wachsen hören – oder vielmehr: den Beton bröckeln sehen – und stellt sich vorsorglich taub. Die geopolitische Landschaft ist nicht mehr das Terrain freundlicher Renditeflüsse, sondern eine unkartierte Geröllhalde voller Stolperfallen.

Wenn selbst die Gier zögert – Milliardenmärkte mit brüchiger Bodenplatte

Man hätte denken können, dass ein Wiederaufbaufonds für ein ganzes Land – inklusive schiefergelegter Stromtrassen, vernarbter Autobahnen, zerbombter Silos und verbrannter Felder – das feuchte Wall-Street-Traumbild vom perfekten Wachstumsmarkt wäre. Aber selbst die Gier, jene hartnäckigste Triebkraft des Spätkapitalismus, zeigt sich plötzlich zögerlich. 400 Milliarden bis 1 Billion Dollar, sagt man, koste das alles. Eine Zahl so monumental, dass sie eigentlich zum Einstieg animieren müsste. Doch die Risiken – politische Instabilität, Krieg, Rechtsunsicherheit – sind nicht mehr nur Randnotizen in Fußnoten juristischer Gutachten. Sie sind Hauptsache. Und so brechen die Verhandlungen ab, nicht wegen Moral, nicht wegen Anstand, sondern aus purem Eigeninteresse. Der Markt glaubt nicht mehr an das Wunder Ukraine. BlackRock stoppt Gespräche mit Investoren aus Deutschland, Italien, Polen – selbst die treusten Freunde des Euro-Atlantischen Projekts werden plötzlich zu Investitionsleprakranken. Die kalte Realität hat die rosaroten Excel-Tabellen aufgefressen.

Von Hoffnungsträgern zu Heuschrecken – Der ukrainische Ausverkauf im neoliberalen Hochglanz

Es ist schon eine Ironie, die der Lauf der Dinge nicht besser hätte schreiben können: Was als Wiederaufbau getarnt war, war immer auch ein Beutezug. Der Markt hatte längst gewittert, was es da zu holen gäbe – fruchtbare Schwarzerdeböden, strategische Pipelines, Energiesysteme mit Modernisierungsbedarf und politischen Lücken. Der ukrainische Wiederaufbau, so wurde gemunkelt, sei nicht nur ein Friedensprojekt, sondern auch ein Privatisierungskarussell – mit West-Label und neoliberaler Drehgeschwindigkeit. Dass nun ausgerechnet die Heilsbringer aus New York, Zürich und Frankfurt das Feld räumen, ist kein Zeichen von Reue, sondern ein Indiz: Es lohnt sich nicht (mehr). Der Krieg frisst die Margen, der Frieden bleibt Hypothese, und die Ukrainer – diese unbequemen, unberechenbaren Subjekte ihres eigenen Schicksals – könnten womöglich doch nicht als passive Anlageobjekte taugen. Die westlichen Heuschrecken fliegen weiter – nach Lateinamerika, nach Afrika, zu stabileren Albträumen.

Symbolpolitik statt Substanz – Der globale Finanzadel zeigt, wie wenig er glaubt

Wenn ein Unternehmen wie BlackRock aussteigt, ist das keine moralische Geste, sondern eine mathematische. Und wenn gleichzeitig Ursula von der Leyen mit staatsmännischem Dauerlächeln vor Trümmerlandschaften posiert und verspricht, dass „Europa helfen wird“, dann wissen alle Beteiligten: Jetzt wird’s teuer. Der symbolische Rückzug des globalen Kapitals ist das Eingeständnis, dass Hoffnung sich nur rechnet, wenn sie versilberbar ist. Was bleibt, ist das „Wir“ – das europa-europäische Pathosgebilde aus Sprechblasen, Schlagworten und Schulden. Es wird investiert, weil investiert werden muss, nicht weil es sich lohnt. Und es wird gerettet, was sich nicht selbst retten will, weil man an der Frontlinie der Moral keine ökonomischen Rückzüge dulden darf. Der Kapitalismus zieht sich zurück – der Etatismus marschiert vor. Und irgendwo in Brüssel wird wieder ein neuer Koordinator für Nachhaltigkeits-Monitoring-Mechanismen ernannt.

Vom Leo bezahlt – Die letzte Bastion der Unschuld

Vielleicht ist es auch das: eine letzte groteske Pointe im Theater der Selbsterlösung. Während sich die Fondsmanager zurückziehen und der Markt die Ukraine aufgibt, zahlt man in Berlin weiter Diäten und Titel. „Im Leo“ zu sein, ist längst mehr als ein Ort – es ist ein Zustand. Der bestbezahlte Zustand der Welt: institutionalisierte Weltverbesserung bei gleichzeitigem Realitätsverlust. Man glaubt, man handelt, man erklärt, man deutet, man beschließt – aber man verändert nichts. Und während Merz sich durch Bilanzen kämpft und Röschen durch Trümmerfelder tänzelt, bleibt die entscheidende Frage offen: Was bedeutet es, wenn selbst das Geld nicht mehr an uns glaubt?

Volkslügenwagen

Es gibt Geschichten, die so absurd sind, dass man sie nicht erfinden könnte, selbst wenn man Kafka, Orwell und den Pressesprecher von VW gemeinsam in einen Raum sperrt. Der Dieselskandal – oder wie es in der Pressesprache heißt: „technische Unregelmäßigkeiten in der Emissionswertdarstellung“ – ist so ein Fall. Ein Epos des systematischen Betrugs, ein Lehrstück über institutionalisierte Verantwortungslosigkeit, ein biblisches Gleichnis, in dem das goldene Kalb nicht mehr angebetet, sondern einfach geleast wird. Und was passiert, wenn ein Weltkonzern auf frischer Tat beim globalen Kundenbetrug ertappt wird? Genau: nichts. Oder genauer gesagt: ein paar Rücktritte mit goldenen Fallschirmen, einige interne Umstrukturierungen mit den immer gleichen Nasen in neuen Etagen, und dann weiter so. Weiterrollen, weiterlügen, weiterdividenden.

Denn das eigentlich Skandalöse am Skandal ist nicht der Betrug selbst – der ist fast schon bewundernswert in seiner Chuzpe – sondern die Abwesenheit jeglicher persönlicher Konsequenz. Während Millionen Kundinnen und Kunden weltweit in dem Glauben fuhren, mit einem umweltfreundlichen Diesel unterwegs zu sein, lachten sich einige Topmanager vermutlich in ihren soundgedämmten Dienstlimousinen kaputt über die Naivität der Öffentlichkeit. Und diese Leute behaupten weiterhin, sie bekämen ihre sieben- bis achtstelligen Jahresgehälter wegen der „Verantwortung“. Ver-antwort-ung! Ein Wort, das in deutschen Vorstandsetagen nur noch als rhetorische Kulisse dient, irgendwo zwischen Vision, Leitbild und ESG-Zertifikat abgeheftet..

17 Millionen Gründe, warum Verantwortung nur ein Wort ist

Martin Winterkorn, der Mann mit dem strengsten Blick seit Einführung der Betriebswirtschaftslehre, wurde dereinst mit Standing Ovations von Gewerkschaftsseite für seine Bescheidenheit in Sachen Boni gefeiert. Der VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh verkündete ungerührt, „Herr Winterkorn ist jeden Cent wert“. Man müsse schon betonen: es ging nicht um Cents. Es ging um 17 Millionen Euro. Jährlich.

Aber warum so viel? Na, wegen der Verantwortung natürlich! Sie wissen schon, jenes mythische Wesen, das in Vorstandskreisen als Argument für siebenstellige Einkommen herhalten muss – so oft beschworen wie die Liebe bei Schlagern, aber ähnlich bedeutungslos.

Die Realität sieht so aus: Wenn es gut läuft, war es die eigene Genialität. Wenn es schiefgeht, war es der Sachbearbeiter, der Praktikant, das System, das Wetter. Verantwortung als Dekoartikel auf der Gehaltsabrechnung.

Krankheit aus heiterem Himmel – Die Wunderheilung der Unantastbaren

Es gibt in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ein epidemiologisches Phänomen, das dringend erforscht gehört: Das plötzliche Auftreten schwerer Krankheiten bei angeklagten Topmanagern. Ein Virus der Verantwortung? Ein Bandscheibenvorfall der Moral? Kaum steht eine Anklage im Raum, knicken Knie ein, knirschen Hüften, bricht die Wirbelsäule unter dem Gewicht des schlechten Gewissens – oder doch eher des eigenen Aktienpakets.

Winterkorn, der Mann mit der chirurgisch präzisen Managementhaltung, wurde „aus gesundheitlichen Gründen“ vom Verfahren entbunden. Hüfte, Knie, das volle orthopädische Programm. Für einen Gerichtssaal zu krank – aber ein Bayern-Match geht noch. Im VIP-Bereich. Aufrecht.

Es ist ja nicht so, dass man Mitleid verweigern möchte. Aber die Frage sei gestattet: Wie war seine Haltung zu Krankenständen der Mitarbeiter? Gab es da auch so viel Nachsicht, so viel menschliche Wärme, so viel Verständnis? Oder galt dort das Prinzip der Effizienz – krank ist, wer sich krank fühlt? Die Ironie ist bitter: Armut macht krank. Reichtum hingegen – der kann sich Krankheiten attestieren lassen.

Der Aufsichtsrat – Witzfigur mit Stempel und Siegel

Wer glaubt, die Verstrickung sei auf den Vorstand beschränkt, hat das System nicht verstanden. Denn da gibt es noch jene Männer und Frauen in den Aufsichtsräten, die halb aus Kapitalinteresse, halb aus Arbeitnehmervertretung bestehen – und zu 100 % im Dienste der eigenen Karriere schweigen.

„Mitwisserschaft“ ist ein zartes Wort für das, was hier praktiziert wurde: kollektives Wegsehen im Maßanzug. Dieselgate war kein Solo, sondern ein Chorgesang aus Feigheit, Opportunismus und Feierstimmung auf Aktionärsversammlungen. Das System war so durchtränkt von Lügen, dass niemand mehr wusste, ob man intern eigentlich die Wahrheit überhaupt noch buchstabieren konnte. Das Aufsichtsgremium, einst gedacht als Kontrollinstanz, war längst zur Wellnessabteilung des Konzerns verkommen – mit Ruhekabine für das Gewissen.

Die USA: Strafen statt Stammtisch

Ein kurzer Blick über den Atlantik: In den USA zahlte VW sofort Milliardenstrafen. Keine Diskussionen, keine Hüftprobleme, keine betroffenen Mienen und schon gar keine Talkshowauftritte. Dort nennt man es: law enforcement. Hierzulande nennt man es: juristische Geduld. Manchmal auch: Verjährung.

Denn was hier geschieht, ist ein perfides Spiel auf Zeit. Man wartet, bis die mediale Empörung verebbt, bis das Interesse schwindet, bis die Krankheit als Deckmantel akzeptiert ist und die öffentliche Meinung längst wieder mit E-Auto-Subventionen beschäftigt ist. Und dann – still und leise – lässt man alles versanden. Der goldene Teppich wird wieder ausgerollt. Der nächste Posten wartet schon. Vielleicht nicht bei VW. Aber irgendwo, wo man wieder mit einem goldenen Füller unterschreiben darf.

Im Leo der Macht – und der Unantastbarkeit

Am Ende bleibt das Gefühl: Wer es einmal „nach oben“ geschafft hat, sitzt nicht einfach in einem Büro – er schwebt im „Leo“. In einem luftdichten, bestens gepolsterten Raum, wo weder juristische Konsequenzen noch moralische Maßstäbe eindringen. Der „Leo“ ist das Schutzschild der Leistungsträger – oder besser: der Überlebenden des Systems. Und während draußen Leute wegen geringfügiger Bagatellen ihre Jobs verlieren, sitzen drinnen Männer wie Winterkorn – versorgt, geschützt, verteidigt.

Die einen sprechen vom Rechtsstaat. Die anderen wissen: Es ist ein System der selektiven Gnade.

Und der größte Skandal? Dass es wieder einmal keine echten Konsequenzen gibt.


Demnächst im Kino: „Fast & Verlogen 9 – Dieselgate Reloaded“

Einfach mal Fresse halten!

Wer ist wer – Sudhofs Mission

Margaretha Sudhof, von Karl Lauterbach 2024 als Sonderermittlerin eingesetzt, legte einen 168‑seitigen Bericht über die Corona-Maskenbeschaffung vor t-online.de+11zdfheute.de+11zdfheute.de+11. Ihre Aufgabe: Aufklären, ob und in welchem Ausmaß im Gesundheitsministerium unter Jens Spahn eilig, überteuert und ohne Transparenz eingekauft wurde.

Die zentrale Kritik – „Team »Ich« statt »Staat«“

Sudhof wirft Spahn vor, die Beschaffung gegen den Rat der Fachabteilungen eigenmächtig gesteuert zu haben – ohne Rücksicht auf Bedarf, Qualität oder Preise epochtimes.de+8zdfheute.de+8t-online.de+8. Sie spricht von massiven Risiken: Milliardenkosten, knapp zwei Drittel der Masken seien ungenutzt oder vernichtet worden, Vertragskonditionen unvorteilhaft . Logistik‑Deals wurden persönlich vergeben – offenbar an Vertraute – und brachen unter der Last zusammen n-tv.de+11zdfheute.de+11de.investing.com+11.

Ungünstige Vertragsgestaltung – Emix & Co.

Eine zentrale Rolle spielte die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Händler Emix: Masken wurden zu bis zu sieben Euro pro Stück eingekauft – obwohl der Marktpreis deutlich niedriger war t-online.de. Etwa die Hälfte der Masken war mangelhaft – ein TÜV-Bericht attestierte erhebliche Qualitätsprobleme –, wurde jedoch vom Ministerium als mängelfrei anerkannt medconweb.de+5t-online.de+5n-tv.de+5.

Schwärzungen & fehlende Nachvollziehbarkeit

Der Bericht wurde größtenteils geschwärzt – besonders die Passagen zur Verantwortlichkeit und Schadensersatz ­— was massive Transparenzlücken hinterlässt zdfheute.de+3epochtimes.de+3zdfheute.de+3. Offizielle Kritik vom Gesundheitsministerium um Ministerin Nina Warken: Sudhofs Methodik sei „lückenhaft und damit falsch“. Quellenangaben, Dokumentennachweise und Interviews blieben unvollständig oder anonym klamm.de+7epochtimes.de+7n-tv.de+7.

Politisch motivierte Debatte & Schutzbehauptungen

Der Bericht wird politisch instrumentalisiert: Friedrich Merz (CDU) bemängelte etwa, Spahn sei nie direkt angehört worden – eine rechtsstaatliche Mangelhaftigkeit t-online.de+4de.investing.com+4finanzen.net+4. Warken rechtfertigt sich mit Notfalllogik: Der Bedarf spreche für spontanes Handeln, Untersuchung solle verbessert, aber nicht exzessiv formell sein . Grüne und Linke hingegen kritisieren die Schwärzungen scharf als politisches Verschleierungstaktik t-online.de+2epochtimes.de+2t-online.de+2.

Folgen & Zukunft – Projektgruppe und Bundestags‑Enquete

Das Gesundheitsministerium kündigt die Einrichtung einer internen Projektgruppe unter externer Leitung an. Ziel: Lehren aus dem Skandal ziehen und zukünftige Pandemiebeschaffungen besser organisieren . Diese soll auch mit der bevorstehenden Corona-Enquete-Kommission des Bundestages zusammenarbeiten.

Fazit – Starker Vorwurf, schwache Antwort

Sudhof legt eine brisante, pointierte Kritik vor: Spahn habe eigenmächtig, überteuert und teils über den Bedarf hinaus eingekauft, mit schlechten Verträgen, schwacher Logistik und intransparentem Vorgehen. Das Ministerium widerspricht lautstark: Methodik unzureichend, Quellen nicht nachvollziehbar und Verantwortliche nicht gehört. Die politische Debatte verdrängt teils Sachfragen – bis eine unabhängige Enquete den nächsten Schritt macht.

Menge & Kosten – Ein Milliarden-Debakel

Einkaufsmodus gegen Expertenrat

  • Sudhof kritisiert Spahns Vorgehen als „Team Ich“, da er trotz massiver Warnungen aus dem Krisenstab und Fachbereich eigenmächtig und massiv beschaffte tagesschau.de+15zdfheute.de+15merkur.de+15.
  • Es bestand keine Nachfrage-Steuerung: Die Beschaffung überstieg den festgelegten Bedarf bei weitem, was zur Vernichtung von ca. zwei Dritteln führte .
  • Das eigenmächtige Engagement führte laut Sudhof zu „erheblichen Kosten und Risiken“ deutschlandfunk.de+10zdfheute.de+10faz.net+10.

Deals & Provisionen

Politische Reaktionen – Polarisierungen

  • Jens Spahn plädiert für Veröffentlichung des Berichts, verteidigt sein Vorgehen als notwendig in der Notsituation und räumt Fehler ein merkur.de+15welt.de+15welt.de+15.
  • Friedrich Merz kritisiert das Verfahren als unfair, da Spahn nicht angehört wurde – und spricht von einem rechtsstaatlichen Fehler welt.de+1deutschlandfunk.de+1.
  • Karl Lauterbach weist auf ähnliche Fehler bei Scholz hin, verteidigt Sudhofs Arbeit und beklagt die Nicht‑Veröffentlichung wegen politischer Rücksichten welt.de+15bild.de+15spiegel.de+15.
  • Grüne & Linke fordern umgehend Veröffentlichung, Sondersitzungen und Untersuchungsausschuss – Christian Görke nennt das Verhalten eine „politisch gefilterte Verschleierung“ tagesschau.de.
  • Nina Warken (CDU), heute im Amt, distanziert sich von Sudhof, bezeichnet Methodik als lückenhaft, und verweigert vollständiges Freigeben unter Berufung auf Datenschutz und laufende Prozesse welt.de+15spiegel.de+15zdfheute.de+15.

Ausblick & Konsequenzen

  • Enquete‑Kommission & interne Projektgruppe sollen Lehren ziehen – doch sind weniger politisch riskant als ein Untersuchungsausschuss spiegel.de.
  • Über 100 laufende Klagen und ein Streitwert in Milliardenhöhe zwingen zur gerichtlichen wie parlamentarischen Aufarbeitung .
  • Die Verzögerung bei Veröffentlichung und die massiven Schwärzungen: politisches Pulverfass, das das Vertrauen der Öffentlichkeit herausfordert welt.de+1t-online.de+1.

Fazit – Dramatik, Zahlen & politische Farbbeutel

Der Sudhof-Bericht offenbart ein zentrales Ungleichgewicht: eine extreme Menge an Masken, ein riesiger finanzieller Schaden, Skandale um Lieferverträge und Provisionen, sowie die Vernichtung von Milliarden Masken. Die politische Debatte spiegelt tiefe Gräben: Spahn warnt vor Panik, Merz beklagt Formfehler, Lauterbach verteidigt, die Opposition verlangt Radikalaufklärung, und Warken blockiert aus Vorsicht. Währenddessen verschieben sich Milliarden auf dem Spiel, und das Parlament ringt um Transparenz – mit möglicherweise dramatischen Folgen für das Vertrauen der Bürger in den Staat.

Brüssel, der goldene Schlaraffenstall

oder: Wie man mit heißer Luft kalt kassiert

Es war einmal ein Kontinent im Fieber. Die Menschen stöhnten unter dem Gewicht ihrer Stromrechnungen, durchwühlten Discounter-Regale nach Restposten-Margarine und führten hitzige Diskussionen über Heizungsthermostate und kaputte Fahrpläne. Europa taumelte – zwischen Krieg, Klimakrise und Kaufkraftverlust. Doch während draußen das einfache Volk Zähne knirschend auf die nächste Steuererhöhung wartete, herrschte drinnen in den Marmorkorridoren des Brüsseler Glaspalasts eine ganz andere Thermik. Dort, wo Realität durch Pensionsansprüche ersetzt wird, wo Kaffee aus subventionierten Porzellantassen dampft und die Luft nach Macht und Möbelleder riecht, hat man das Volk mal wieder vergessen. Oder, was wahrscheinlicher ist: Man hat es sehr wohl bedacht – und trotzdem beschlossen, sich zu bereichern.

Die Eurokraten steigen auf – und der Steuerzahler ab

32.000 Euro. Nicht etwa für alle, sondern pro Kopf. Pro Jahr. Steuerfinanziert. Geschenkt. Diese Zahl gleicht einem Tritt mit polierten Brüsseler Lederschuhen ins Gesicht des werktätigen Europa. Während man in Palermo verzweifelt nach dem Busfahrplan von 2018 sucht und in Wuppertal der Sozialstaat zu einer Excel-Tabelle verdunstet, gönnt sich die EU-Elite ein Gehaltsplus, das in vielen Mitgliedsstaaten einem Bruttojahreslohn entspricht. Alessandro Chiocchetti, Generalsekretär des Europäischen Parlaments, ist einer der glücklichen Profiteure. Ein Mann, dessen Name klingt wie ein Designeranzug und der nun monatlich 23.235,49 Euro bezieht – beinahe steuerfrei, versteht sich. Schließlich gönnt sich die EU ihre eigene steuerliche Monarchie, in der sich die Progression vor lauter Privilegien ins Mittagsschläfchen verabschiedet hat.

Diese „Gehaltssprünge“ – so nennt man in Brüssel offenbar das, was man anderswo als moralischen Bankrott bezeichnen würde – sind das Resultat einer Beförderungswelle von AD15 auf AD16. Eine kryptische Abkürzung für eine Gehaltsklasse, in der man für das Ausfüllen von Formblättern mehr kassiert als ein Intensivpfleger nach 30 Jahren Schichtdienst. Der Aufwand für diese Promotion? Drei Jahre im alten Amt absitzen, also exakt die Dauer eines schlecht geplanten Infrastrukturprojekts. Und was sagt der Parlamentssprecher? Alle erfüllen die Mindestdienstzeit. Na, dann ist ja alles gut.

Die Aufsteiger der Bürokratie – Namen, die man nie gehört hat, aber teuer bezahlen muss

Wer sind sie, diese glanzvollen Titanen der europäischen Bürokratie? Diese hochdotierten Schattenwesen, deren Namen man nie auf einem Wahlzettel finden wird, obwohl sie mehr Macht über unseren Alltag haben als jeder Bürgermeister?

  • Christian Mangold (Kommunikation): Zuständig für das, was nach außen dringt. Also wenig.
  • Ellen Robson (Personalwesen): Vielleicht die Architektin des nächsten Gehaltssprungs.
  • Juan Carlos Jiménez Marín (Dolmetschlogistik): Weil das Brüsseler Kauderwelsch irgendwie übersetzt werden muss – vorzugsweise in Wohlstand.
  • Lorenzo Mannelli (IT und Cybersicherheit): Sicherlich ein Meister im Verschlüsseln von Gehaltslisten.
  • Guy Mols (Sicherheit und Schutz): Wahrscheinlich der Mann, der dafür sorgt, dass kein Demonstrant es ins Gebäude schafft.
  • Monika Strasser (Haushaltspolitik): Die Ironie liegt in ihrer Jobbeschreibung.
  • Michael Speiser (Wirtschafts- und Industriepolitik): Zuständig für das, was in Europa schon lange niemand mehr versteht: Industriepolitik.

Diese Menschen – so irrelevant für den Alltag der Bürger wie ein Sonnenschirm in Lappland – kosten den europäischen Steuerzahler allein durch diese Gehaltserhöhungen jährlich über 324.000 Euro. Und das ist erst der Anfang. Denn die nächste Stufe des Himmelfahrtskommandos ist schon geplant.

Novemberregen in Scheinen – die nächste Beförderungsrunde naht

Kaum ist der Champagner der Juni-Beförderung warm geworden, kündigt sich schon der nächste Geldregen an. Zum 1. November 2025 sollen Anders Rasmussen, Vize-Generalsekretär für Gesetzgebung und Forschung, sowie Sannaleena Lepola-Honig, Generaldirektorin für parlamentarische Partnerschaften, aufsteigen in die Riege der AD16-Götter. Eine Elite der Verwaltung, die nicht regiert, nicht gewählt und nicht abgewählt wird, aber dennoch von sich behauptet, Europa zu lenken. Dabei sieht die Realität so aus: Sie lenken nicht – sie kassieren.

Demokratie kostet – aber muss sie auch fett sein?

Die EU hat viele Probleme. Demokratiedefizit, Legitimationskrise, Populismus. Doch statt sich diesen Herausforderungen zu stellen, vergräbt sich die Brüsseler Aristokratie hinter ihren Diäten, Reisekostenabrechnungen und Auslandszulagen. Während draußen Bauern demonstrieren und Innenstädte veröden, tagt drinnen das Imperium der Hochdotierten.

Und was ist die Rechtfertigung für all das? Verantwortung! – wird man sagen. Komplexität! – wird man murmeln. Alternativlosigkeit! – wird man schreiben. Doch am Ende bleibt der Eindruck, dass Europa weniger von Idealen als von Spesen regiert wird. Dass die Vision einer solidarischen Union zur Karriereplattform verkommen ist – zur Drehtür zwischen diplomatischer Langeweile und finanzieller Dekadenz.

Ein letzter Blick nach unten – bevor der Aufzug wieder nach oben fährt

Vielleicht ist dies der wahre Grund für die Entfremdung zwischen Bürger und Brüssel: Nicht die Entfernung in Kilometern, sondern in Klassen. Eine politische Kaste, abgeschirmt durch Protokoll und Personenschutz, lebt in einer Realität, in der Krisen nur noch Schaubühne sind – inszenierte Kulisse fürs eigene Fortkommen.

Der Europäer unten? Er kann wählen, aber nicht entscheiden. Er kann arbeiten, aber nicht ankommen. Und er kann zahlen – immer. Für die Rente, für die Energie, für die Bürokratie. Für Alessandro Chiocchetti und seine stille Armada. Ein Europa der Eliten, das sich selbst feiert, während das Volk draußen friert.

Europa, quo vadis? Vielleicht einfach mal in den Discounter – und schauen, was man sich noch leisten kann.

Patriotismus für Export

oder: Wenn Wohltätigkeit zur außenpolitischen Ersatzreligion wird

Friedrich Merz, das personifizierte Konjunkturtief konservativer Sozialrhetorik, gibt sich kühl, nüchtern, rechnerisch: „Wir haben keine fünf Milliarden Euro, um die Strompreise für deutsche Bürger zu senken.“ Ein Satz, der klingt, als hätte ihn ein Wirtschaftsprüfer mit halbem Herzschlag ins Grundgesetz diktiert. Man muss es ihm lassen – es ist ein Satz von fast schon minimalistischer Eleganz, brutal aufgeräumt, kompromisslos ehrlich in seiner Gleichgültigkeit.

Und doch fällt zur gleichen Zeit, auf der anderen Seite des Regierungsbarrikaden-Mikrokosmos, ein ganz anderer Satz, ganz anderer Klangfarbe: Boris Pistorius, der inzwischen zur kriegerischen Großmutter im Tarnanzug des transatlantischen Bündnisses mutiert ist, kündigt an: „Wir kaufen fünf bis zehn Patriot-Systeme – zu je einer Milliarde Euro – und verschenken sie an die Ukraine.“ Eine Milliarde das Stück. Wie Flak-Weihnachtsmänner. Nur mit Sprengköpfen statt Schokolade. Deutschland, das Land des Exportweltmeisters, exportiert nun auch die Reste seiner Wehrhaftigkeit – großzügig, freigiebig, rührend selbstlos.

Der Strompreis als nationale Zumutung – oder: Wenn der Bürger zu teuer wird

Fünf Milliarden Euro. Eine Summe, die aus Sicht des Bundeshaushalts etwa dem entspricht, was ein mittelgroßes Bundesministerium im Jahr für externe Berater verplempert, bevor überhaupt der erste PowerPoint-Foliensatz steht. Für die Entlastung der Stromkunden ist sie jedoch angeblich nicht darstellbar. Die Message: Der deutsche Bürger – dieses Fossil aus der Vergangenheit, das immer noch heizt, duscht und Licht braucht – ist zu kostspielig geworden für seine eigene Regierung.

Ein Staat, der weltweit Demokratie verteidigt, scheint zunehmend unfähig, seinen eigenen Kühlschrank zu betreiben. Man hat den Eindruck, die Ampelregierung betrachtet ihre Bevölkerung als eine Art veraltetes Infrastrukturprojekt: teuer in der Instandhaltung, unflexibel in der Nutzung, schwer zu recyclen. Während man mit militärischem Feuereifer Waffensysteme verschenkt, die weder die Ukraine retten noch Russland beeindrucken werden, friert die eigene Bevölkerung im Windschatten eines Energiemarktes, den niemand mehr versteht, aber jeder bezahlen muss.

Panzer statt Pendlerpauschale – oder: Die Dialektik des Doppelmoralstaates

Pistorius, inzwischen eine Art Sozialdemokrat gewordener Eisenhans, verkörpert die neue deutsche Logik: Man kann keine funktionierende Bahn betreiben, aber sehr wohl Waffen an ein Kriegsgebiet liefern, das nicht Teil der NATO ist. Die Renten wackeln, aber die Raketen fliegen. Ein Land, das seine Schulen verfallen lässt, verschickt Raketenbatterien, als wären sie Bausätze für internationales Vertrauen. Die innere Sicherheit ist ein Flickenteppich aus unterfinanzierten Polizeiwachen, aber außenpolitisch gibt man sich als Fels in der Brandung der Freiheit.

Und währenddessen der kleine Steuerzahler, genannt „Leistungsträger“, sich fragt, warum der Strompreis pro Kilowattstunde so hoch ist wie der Thermostat in Dubai, hört er aus Berlin nur das Echo leerer Kassen. Kein Geld da. Aber für Patriot-Raketen ist immer ein bisschen Luft im Budget. Ein ironisches Detail, das zu wenig Beachtung findet: Man nennt sie „Patriot“. Wie passend. Nur dass sich dieser Patriotismus nicht nach innen richtet – sondern immer nur nach außen. Der deutsche Staat liebt seine Bürger so sehr, dass er sie nicht mit Fürsorge belästigen will.

Humanismus als Exportschlager – und die Empathie endet am Gartenzaun

Es ist die große Tragik unserer Zeit: Der moralische Kompass der deutschen Politik zeigt stets nach Osten, Westen oder Süden – aber nie nach nebenan. Man will helfen, retten, verteidigen – aber nicht dort, wo der Geringverdiener mit drei Nebenjobs zwischen Stromrechnung und Lebensmittelpreisen navigiert wie ein Schiffer in unbekannten Gewässern. Die Verteidigung der Freiheit endet am Bahnsteig von Bitterfeld.

Die neue außenpolitische Menschlichkeit funktioniert nach dem Prinzip: Wir retten, was uns fern und ehrenvoll erscheint – und übersehen, was uns nah und peinlich ist. Die ukrainischen Soldaten bekommen Hightech-Abwehrsysteme. Der deutsche Pflegehelfer bekommt ein subventioniertes 49-Euro-Ticket und eine Mitteilung vom Jobcenter. Der Widerspruch zwischen außenpolitischem Sendungsbewusstsein und innenpolitischer Vernachlässigung könnte grotesker nicht sein – wäre er nicht längst zum Normalzustand geworden.

Die große Erzählung vom leeren Geldbeutel – und der Krieg als Investitionsmodell

Natürlich wird uns erklärt, warum all das notwendig ist. Es geht um Werte, um Verantwortung, um die „regelbasierte internationale Ordnung“, die man notfalls auch mit Waffensystemen verteidigen muss, die man sich selbst nicht mehr leisten kann. Die Gleichung ist einfach: Wenn wir nicht in der Ukraine investieren, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit – und damit alles. Alles, nur eben nicht die Bürger, die diese Politik tragen sollen.

Diese Art von Logik – moralisch aufgeladen, ökonomisch irrational, strategisch fragwürdig – ist das Markenzeichen der deutschen Politik geworden. Der Krieg ist zur Währung der Glaubwürdigkeit geworden, während der Frieden zu teuer erscheint. Patriot-Raketen sind „notwendig“. Aber fünf Milliarden Euro für Strompreis-Entlastung? Das wäre Wahlgeschenke, Sozialpopulismus, Haushaltsrisiko – oder, wie Friedrich Merz es vielleicht sagen würde: Wirtschaftsferne Spontanmoral.

Schlussbetrachtung in Moll: Das Land, das sich selbst vergisst

Vielleicht ist es das, was Deutschland heute am meisten fehlt: ein bisschen Patriotismus – aber nicht als Raketenabwehrsystem, sondern als soziale Verantwortung. Nicht in Form von Hightech-Waffen, sondern in Form von Wärme, Verlässlichkeit, Versorgung. Ein Staat, der sich nur noch als globaler Player versteht, aber nicht mehr als Heimat für seine Bürger, ist am Ende nicht stark – sondern leer.

Was bleibt, ist der Zynismus: Deutschland ist großzügig. Nur nicht zu sich selbst.


Fortsetzung folgt – beim nächsten Nachtragshaushalt.