Der ewige Moralweltmeister im Ruhestand

Altbundespräsidenten sind eine ganz eigene zoologische Kategorie. Weder Fisch noch Fleisch, weder aktiv noch wirklich pensioniert, dafür aber stets im Habitat des öffentlich Bekümmerten unterwegs. Sie leben vom Nachhall ihrer früheren Bedeutung – wie der Mond vom Licht der Sonne, die sich längst anderen Sternen zugewandt hat. Und so geschieht es, dass, wenn die Welt brennt, ein Alt-Bundespräsident sich bemüßigt fühlt, aus seiner staatsmännischen Gruft zu steigen, um den Leuten zu erklären, was sie zu denken haben. Diesmal also: Heinz Fischer, jener stets in weinrotem Samt der Verbindlichkeit gewandete Gentleman der österreichischen Politprosa, meint, Österreich solle Palästina anerkennen.
Man könnte nun meinen, das sei ein freundlicher Gedanke – wie Blumen auf einem Friedhof. Nur dass in diesem Fall niemand so recht weiß, wo der Friedhof liegt, wer die Toten sind und ob überhaupt jemand begraben werden will. Doch das Detail hat noch nie jemanden davon abgehalten, moralisch Position zu beziehen. Vor allem nicht jene, die nichts mehr zu verlieren haben außer ihrer Medienpräsenz.

II. Die Anerkennung als Ersatzhandlung

Anerkennen ist das neue Beten. Früher faltete man die Hände, heute unterzeichnet man Resolutionen. Es hat denselben Effekt – aber man fühlt sich moderner dabei.
Die Anerkennung Palästinas – so wie sie aus dem bequemen Wiener Elfenbeinturm gefordert wird – erinnert an einen Nachbarschaftsstreit, bei dem einer ruft: „Ich erkenne jetzt offiziell an, dass deine Einfahrt dir gehört!“ – während der andere noch gar kein Auto, kein Haus und keine Einfahrt besitzt.
Ein Staat ohne funktionierende Regierung, ohne gesichertes Territorium, ohne durchsetzbares Gewaltmonopol – das ist kein Staat, sondern eine diplomatische Fata Morgana, ein kartographisches Phantom mit Flagge und Hymne, aber ohne Boden unter den Füßen. Und wer so etwas anerkennt, der erkennt nicht an, der phantasiert.
Man könnte ebensogut ein Grundstück auf dem Mars kaufen – auch dort hat man schöne Aussicht, aber keine Nachbarn. Nur dass auf dem Mars wenigstens niemand schießt.

III. Das österreichische Weltgewissen

Österreich liebt es, Weltpolitik zu spielen. Man ist neutral, also glaubt man, moralisch überlegen zu sein – eine Art globaler Schweiz mit Schmäh. Dabei hat Neutralität in Wien längst die Form einer Selbstgerechtigkeit angenommen, die jedes politische Thema in ein Bühnenstück verwandelt, in dem Österreich die Hauptrolle als „besonnene Stimme der Vernunft“ spielt.
Heinz Fischer verkörpert diese Tradition perfekt: freundlich, gescheit, staatsmännisch – und so unerschütterlich unkontrovers, dass man ihn notfalls auch als Taufpaten einer UNO-Resolution aufstellen könnte.
Doch gerade diese österreichische Art der Milde, dieses ewige „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“, gebiert jene absurden Momente, in denen man glaubt, Weltpolitik könne durch gutgemeinte Symbolhandlungen ersetzt werden. Die Palästina-Anerkennung wird so zum Beichtstuhl des Westens, ein Ort, an dem man sein schlechtes Gewissen ablegt, weil man nicht den Mut hat, sich wirklich einzumischen.

IV. Der moralische Reflex und seine Erschöpfung

In Europa herrscht ein sonderbarer Reflex: Sobald irgendwo jemand ruft „Unterdrückung!“, klappen die Mikrofone auf, und die Altpräsidenten kriechen aus ihren Memoiren hervor. Es ist wie eine Art politischer Frühjahrsputz – man entfernt den Staub der eigenen Bedeutungslosigkeit durch einen moralischen Appell.
Doch hinter all der Empörung lauert oft nichts als intellektuelle Bequemlichkeit.
Wer Palästina anerkennen will, ohne vorher die Grundfrage zu beantworten, wer oder was Palästina überhaupt ist, handelt nicht politisch, sondern rituell. Man spendet Beifall in einer Oper, deren Handlung man nicht verstanden hat, einfach weil die Musik ergreifend klingt.
Und während man das tut, sterben Menschen, Grenzen verschieben sich, Realitäten verhärten sich – aber wenigstens hat man auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden. Zumindest bis zur nächsten Schlagzeile.

V. Das Schweigen als höchste Form der Diplomatie

Schweigen – welch altmodische Tugend in einer Zeit, in der jeder Gedanke sofort ins Mikrofon gesprochen wird, bevor er im Kopf überhaupt fertig gedacht ist.
Fischer hätte, mit etwas Glück, die Chance gehabt, das Schweigen zur Kunstform zu erheben. Ein kurzer Kommentar wie: „Ich enthalte mich“ – und schon wäre er der weiseste aller Altpräsidenten gewesen.
Denn Schweigen ist, richtig eingesetzt, nicht Feigheit, sondern Respekt vor der Komplexität. Wer schweigt, erkennt an, dass die Welt nicht auf moralische Schwarzweißbilder zu reduzieren ist. Wer redet, ohne zu denken, produziert Lärm – und Lärm ist die Lieblingssprache des modernen Idealismus.

VI. Schlussakkord eines moralischen Theaters

Die Forderung nach Anerkennung Palästinas durch Österreich ist kein politischer Akt – sie ist Symbolpolitik als Selbsttherapie.
Ein Altpräsident, der so spricht, wirkt wie ein pensionierter Lehrer, der den Schülern von heute erklärt, wie man richtig rebelliert – sanft, gesittet und bitte mit Anstand.
Doch die Welt ist kein Hörsaal, und die Konflikte des Nahen Ostens lösen sich nicht durch akademische Deklamationen.
In Wahrheit wäre es ehrlicher, zu sagen: „Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, was gerecht wäre, was praktikabel, was überhaupt möglich.“ Aber das wäre zu viel Bescheidenheit für eine Zeit, die lieber Statements als Einsichten produziert.
So bleibt am Ende nur das altbekannte Ritual: Man ruft nach Anerkennung, um nicht über Realität reden zu müssen. Und irgendwo in Wien nickt ein ehemaliger Bundespräsident zufrieden – weil er glaubt, dass Worte allein die Welt verändern können.

Vielleicht tun sie das sogar.
Aber dann nur in der Literatur.

Das Kind der Elite und die Moral der Gerechten

I. Der Bürgermeister als Paradox

New York hat wieder Geschichte geschrieben – diesmal in Versalien der Ironie. Ein muslimischer Sozialist, Sohn einer Weltregisseurin und eines postkolonialen Professors, zieht ins Rathaus ein. Zohran Mamdani: globaler Nomade, marxistisch eingefärbt, ästhetisch irgendwo zwischen Marx-Zitat und Vintage-Hemd. Der Mann, der vom System alles bekam, triumphiert, indem er es verachtet.

Das Kind der Elite tritt auf wie ihr Ankläger. Das Publikum liebt ihn dafür. Er verspricht, was jede saturierte Gesellschaft hören will: moralische Erlösung ohne persönlichen Verzicht. Mamdani verkauft Buße als Lifestyle.

II. Die Heiligkeit des Widerstands

Mamdani ist kein Politiker, er ist ein moralischer Aggregatzustand. Seine Kampagne war weniger Wahlkampf als Exorzismus – das Austreiben westlicher Schuld, hübsch verpackt in den Dialekt des „Dekolonialen“. Er spricht vom Süden der Welt, wohnt im Norden der Stadt. Er predigt Antiimperialismus, finanziert von Stiftungen aus Manhattan.

Seine Rhetorik ist vertraut: Kolonialismus, Kapital, Gerechtigkeit. Alles richtig, alles folgenlos. Denn die neue Linke glaubt nicht mehr an Veränderung, sondern an Erlösung – eine Politik der reinen Herzen, nicht der klaren Köpfe.

III. Die seltsame Allianz

Dass ausgerechnet die chassidische Satmar-Gemeinde, jene ultraorthodoxe Sekte, die den Staat Israel als Gotteslästerung betrachtet, Mamdani unterstützte, ist die Pointe, die sich kein Satiriker auszudenken traut. Hier marschieren linke Idealisten und religiöse Fundamentalisten Seite an Seite – geeint durch den gemeinsamen Feind: den jüdischen Staat.

Die einen sehen in Israel ein koloniales Verbrechen, die anderen ein theologisches Sakrileg. Es ist die Hochzeit zweier Absolutismen – des linken Heils und des religiösen Dogmas. Dass beide sich hassen müssten, spielt keine Rolle. In der moralischen Ökonomie der Gegenwart zählt nicht, was trennt, sondern wen man verachtet.

IV. Der neue Antizionismus

Antizionismus ist in diesem Milieu längst keine Belastung mehr, sondern ein Karrierevorteil. Wer Israel kritisiert, beweist Haltung; wer es verteidigt, gilt als reaktionär. Das ist der neue Code moralischer Distinktion.

Dass Zionismus kein Kolonialprojekt war, sondern die verzweifelte Selbstrettung einer verfolgten Minderheit, ist in den Hörsälen längst vergessen. Geschichte stört die Reinheit der Pose. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ war einmal ein Gebet, heute ist es eine Zumutung.

Mamdani verkörpert diesen Paradigmenwechsel. Sein Schweigen nach den Massakern vom 7. Oktober war kein Versehen, sondern Strategie: In einer Welt, in der Empathie politisch dosiert wird, ist Schweigen oft die lauteste Parole.

V. Die Utopie als Gefahr

Jede Epoche hat ihre Versuchung. Unsere heißt: Utopie. Mamdani ist ihr Missionar. Er glaubt an die gereinigte Welt, die perfekte Gesellschaft, das Ende der Ambivalenz. Das klingt groß, riecht aber nach Dogma.

Karl Popper, der alte Skeptiker, wusste es besser: Wer die Welt erlösen will, wird sie knechten. Utopien dulden keine Widersprüche; sie brauchen Reinheit, nicht Realität. Und Reinheit endet immer in Ausschluss.

Mamdani verkörpert jene neue politische Klasse, die Freiheit für ein Privileg hält und Komplexität für Verrat. Ihre Sprache ist moralisch, ihr Denken binär. Sie ruft nach Gerechtigkeit – und meint Gleichschaltung.

VI. Die Religion der Identität

Die Linke der Gegenwart hat ihre Universalismen verloren. Was bleibt, ist Identität. Sie spricht von Vielfalt, meint aber die Verwaltung von Herkunft. Mamdani ist ihr Hohepriester: Wer anders denkt, sündigt; wer sich schuldig fühlt, ist erlöst.

Die alte Linke kämpfte gegen Ungleichheit, die neue misst sie. Opferstatus ist zur Währung geworden. Die moralische Buchhaltung ersetzt die politische Analyse. Wo früher Klassen standen, stehen jetzt Kategorien: Gender, Race, Religion.

Diese neue Moral duldet keine Ironie – und genau deshalb braucht sie sie am dringendsten. Denn wer alles ernst meint, landet zwangsläufig im Fanatismus.

VII. Das westliche Fieber

Mamdani ist kein New Yorker Phänomen, er ist ein Symptom globaler Selbsterschöpfung. Der Westen, satt von seiner Geschichte, sucht Buße im Anderen. Er will nicht mehr führen, er will bereuen. Er hält Reue für Tugend und Schuld für Tiefe.

In diesem Klima gedeiht eine Gestalt wie Mamdani prächtig: kosmopolitisch, gebildet, moralisch unanfechtbar – ein Produkt der Elite, das sie verachtet, weil es sich nur so authentisch fühlen kann. Er ist der Sohn des Globalismus, der als sein Ankläger auftritt.

Und New York, diese nervöse Weltstadt, wählt ihn, weil sie sich selbst nicht mehr traut.

VIII. Nach der Revolution: Stille

Am Ende bleibt eine bittere Einsicht: Die moderne Moral ist kein Fortschritt, sondern eine Ersatzreligion. Sie ersetzt Denken durch Glauben, Kritik durch Bekenntnis. Mamdanis Sieg ist nicht die Revolution der Entrechteten, sondern der moralisch Privilegierten.

Vielleicht wird man eines Tages sagen: Hier begann das neue Jahrhundert der Heiligen – jene Zeit, in der sich die Gerechten gegenseitig mit Reinheit erschlugen.

Bis dahin wird New York weiter applaudieren. Denn nichts liebt die westliche Seele so sehr wie den Anblick ihrer eigenen Verdammnis – solange sie dabei gut aussieht.

Ende.

Alternative Energiewende ohne Netz und doppelten Boden

I. Die Ästhetik der Steckdose oder: Wie wir lernten, die Kilowattstunde zu lieben

Es war einmal eine Nation, die sich entschloss, die Sonne zu umarmen und den Wind zu heiraten – ohne vorher zu fragen, ob beide überhaupt an einer monogamen Beziehung interessiert seien. Diese Nation hieß Deutschland, und sie hatte, wie alle romantisch Veranlagten, ein Talent für symbolische Gesten, die in der Praxis nicht nur teuer, sondern auch technisch ambitioniert waren.
Denn während anderswo noch diskutiert wurde, ob Solarzellen in der Wüste oder Offshore-Windparks im Sturm mehr Sinn ergäben, beschloss man hierzulande: Wir machen alles – aber bitte gleichzeitig und moralisch überhöht!

Die Steckdose, einst ein nüchternes Versorgungsorgan, wurde zur heiligen Reliquie der Zivilisation. Ihr Anblick löste bei Klimakonferenzen mehr Ergriffenheit aus als die Mona Lisa bei japanischen Touristen. Die „Kilowattstunde“ – vormals eine graue Maßeinheit aus der Welt der Ingenieure – mutierte zur neuen Eucharistie: grün, sauber, und mit dem süßen Beigeschmack der Selbstgerechtigkeit.
Doch die Frage, woher der Strom eigentlich kommt, wenn weder Wind weht noch Sonne scheint, wurde verdrängt wie ein unliebsamer Gedanke beim Yoga. Schließlich heißt es ja „Energiewende“, nicht „Energieverstand“.

II. Die Physik als Spaßbremse: Ein ungebetener Gast auf dem grünen Maskenball

Man hatte gehofft, die Physik würde sich von moralischem Eifer überzeugen lassen. Leider tat sie es nicht.
Die Gesetze von Thermodynamik und Elektrotechnik erwiesen sich als erstaunlich unbeeindruckt von der politischen Rhetorik, die ihnen entgegenblies. Kein Gesetz, kein Paragraf, kein Talkshow-Plädoyer konnte den simplen Zusammenhang aufheben, dass Strom erst dann verfügbar ist, wenn er produziert und transportiert werden kann. Es war, als wolle man den Regen durch öffentliche Zustimmung herbeiklatschen.

Doch wer braucht schon Netzstabilität, wenn man moralische Stabilität hat?
Die deutsche Energiewende ist – und das ist ihre eigentliche poetische Größe – eine groß angelegte, kollektiv-romantische Verwechslung von Wollen und Können. Sie ist das Goethe’sche „Über allen Gipfeln ist Ruh“ im Windparkformat, die Fortschrittslyrik einer Nation, die sich in den eigenen Idealismus verliebt hat, so sehr, dass sie gar nicht mehr merkt, wie das Licht flackert.

III. Batterien, Blasen und Blabla: Der Altar des Fortschritts

Natürlich, es gibt Hoffnung. Sie trägt Namen wie „Speichertechnologie“, „Wasserstoff“ oder „Smart Grid“. Jeder Begriff klingt wie ein Zauberwort aus einem Hightech-Grimm-Märchen: Man muss ihn nur oft genug wiederholen, und schon werden aus Schwankungen Stabilität, aus Dunkelflauten sonnige Visionen.
Dass die dafür nötigen Materialien – seltene Erden, Lithium, Kobalt – unter Bedingungen gefördert werden, die selbst den rußigsten Kohlenkumpel sentimental werden lassen, ist eine jener unbequemen Realitäten, die in den moralischen Vitrinen der Energiewende keinen Platz haben. Das grüne Gewissen verträgt kein Schmieröl.

Die Debatte um Nachhaltigkeit gleicht so einem Alchemistenlabor, in dem man verzweifelt versucht, Ethik in Energie umzuwandeln. Doch anstelle von Gold entsteht meist nur heißer Dampf.
Man beschwört Kreislaufwirtschaften, als ließe sich die Entropie mit einem besonders cleveren Förderprogramm austricksen. Man predigt Verzicht, während man gleichzeitig die E-Auto-Subvention als den neuen Ablasshandel feiert. Kurz: Man will die Welt retten – aber bitte mit WLAN, Warmwasser und Wallbox.

IV. Das große Theater der Selbsttäuschung

Man muss den Deutschen eines lassen: Sie verstehen es, Tragödien als Verwaltungsvorgänge zu inszenieren.
Die Energiewende ist kein Projekt – sie ist eine Bühne, auf der das Land sich selbst aufführt. Zwischen Photovoltaik und Paragrafen reitet der Michel mit Helm und Heiligenschein gegen den Klimawandel an, während hinter ihm das Netz ächzt und die Strompreise tanzen wie Derwische.

Die einen predigen vom „baldigen Ausstieg aus allem“, die anderen halten mit der Andacht des Experten dagegen, dass Energie nun einmal „nicht beliebig verschiebbar“ sei. Beide reden, als ginge es um Glaubensfragen – und tatsächlich: Die Energiewende ist längst keine technische, sondern eine theologische Debatte geworden.
Ihre Hohepriester heißen Habeck, Hofreiter und Habe-Nix, ihre Sakramente heißen Förderquote und Ausbauziel. Und das Volk? Es murmelt brav mit: „Und führe uns nicht in die Dunkelflaute.“

V. Epilog aus der Steckdose: Ein bisschen Realität täte gut

Vielleicht wird man in hundert Jahren auf diese Epoche zurückblicken wie auf jene seltsamen Jahrzehnte, in denen man glaubte, Homöopathie könne Krankheiten heilen – nur dass diesmal die Patienten ganze Volkswirtschaften waren.
Vielleicht wird man schmunzeln über jene Generation, die dachte, Windräder seien ein Ersatz für Systemdenken, und Photovoltaik ein Synonym für Weltrettung.

Oder – wer weiß – vielleicht gelingt das Wunder doch. Vielleicht wird die Sonne nie wieder untergehen, der Wind nie mehr nachlassen, und wir alle leben in jener elektrifizierten Utopie, die unsere politische Fantasie längst als Realität verbucht hat.
Aber bis dahin gilt: Eine Energiewende ohne Netz und doppelten Boden ist wie ein Hochseilakt ohne Schwerkraft – elegant in der Vorstellung, tödlich in der Praxis.

Und so balanciert das Land weiter auf seinem grünen Drahtseil, den Blick gen Himmel gerichtet, den Stecker in der Hand – und murmelt beseelt: „Es wird schon gehen, irgendwie. Hauptsache, wir meinen es gut.“

Ich frage für einen Freund

Über Katzen, Kater und den missverstandenen Reiz des Pfeifens

Man stelle sich den umgekehrten Fall vor: Ein Begriff wie „Dogcalling“ für Frauen, die Männern hinterherpfeifen, ihnen an der Tankstelle charmant die Unterarme kommentieren oder beim Sommerfest der Stadtverwaltung mit „Na, du kräftiger Kerl mit dem Bierbauch, du siehst aus wie jemand, der eine ordentliche Portion Grillgut braucht!“ glänzen. Aber nein — das gibt es nicht. Der Mann ist im Sprachraum kein Hund, sondern, bestenfalls, ein „Typ“. Vielleicht ein „Kerl“, ein „Dude“, in seltenen Fällen ein „Gentleman“, was meistens ironisch gemeint ist. Die Frau dagegen wird, offenbar ganz selbstverständlich, zur Katze degradiert: verspielt, schnurrend, hübsch anzusehen, aber bitte nur so lange, bis sie die Krallen ausfährt.

Und so offenbart sich der eigentliche Skandal nicht im Pfeifen, sondern im Wort selbst: Catcalling ist ein sprachliches Fossil einer Ära, in der man Frauen mit Tieren verglich, um sie zugleich zu verniedlichen und zu entmenschlichen. „Kätzchen“ nennt man sie, wenn man sie mag, „Zicke“, wenn man sie widersprechen hört. Katzen sind niedlich, selbstständig, rätselhaft – das passt so gut ins männliche Kopfkino, dass man gar nicht merkt, wie die ganze zoologische Metaphorik schon wieder in die Falle tappt, die sie vorgibt zu meiden: Frauen als Spezies des Begehrens, Männer als Zoologen des Blicks.

Die akustische Überheblichkeit des Patriarchats

Natürlich, das Pfeifen an sich hat eine lange Tradition. Schon die Urmenschen dürften gepfiffen haben – allerdings eher, um ihre Stammesgenossen vor Säbelzahntigern zu warnen, als um deren Hüftschwung zu kommentieren. Das moderne Catcalling ist also sozusagen die entgleiste Zivilisationsform einer ursprünglich nützlichen Lautäußerung. Ein Relikt aus jener Zeit, in der der öffentliche Raum fest in männlicher Hand war und man Frauen wie dekorative Verkehrsschilder behandelte: hübsch anzuschauen, aber bitte nicht anfassen.

Heute aber, in Zeiten von Gleichstellung, Gendersternchen und Diversity-Schulungen im Betriebsrat, wirkt das Nachpfeifen nicht mehr als Ausdruck von Männlichkeit, sondern als auditives Fossil – eine Art akustische Mauerblümchen-Archäologie. Der Catcaller glaubt, er sei charmant, während die Welt um ihn herum längst festgestellt hat, dass er klingt wie ein undichter Fahrradreifen. Und trotzdem: Der Begriff, der diese Verhaltensweise benennt, bleibt in seinem Kern selbst ein Ausdruck jener alten Denkweise, die er anklagt. Ironie, thy name is Etymology.

Wenn das Wort selbst schon den Tatbestand erfüllt

Man kann sich also fragen – ich tue das selbstverständlich nur für einen Freund –, ob die aktuelle Diskussion um Catcalling nicht einen entscheidenden Punkt überhört hat: Der Begriff selbst ist sexistisch. Wer „Catcalling“ sagt, akzeptiert unbewusst eine sprachliche Konstruktion, die das Opfer bereits auf eine metaphorische Tierrolle reduziert. Und da helfen auch Gendersternchen nichts, denn „Cat*calling“ würde höchstens aussehen, als würde man eine besonders queere Katze anrufen.

Vielleicht brauchen wir einen neuen Begriff. Etwas, das dem Ernst des Problems gerecht wird, ohne zoologische Nebenwirkungen. Vorschläge? „Menschbeschallung“? „Akustische Anmacheinheit“? „Lautübergriffigkeit“? Alles unhandlich. Vielleicht sollten wir’s einfach beim Deutschen belassen: Hinterherpfeifen – ein ehrliches Wort, das so altbacken klingt, dass es niemand freiwillig auf ein T-Shirt drucken würde. Und genau darin liegt sein Reiz: Wer es benutzt, kann gar nicht cool wirken. Ein linguistisches Pflaster, das heilt, weil es juckt.

Fazit: Zwischen Miauen und Maulen

Am Ende bleibt die bittere Ironie: Während ganze Bewegungen darum kämpfen, Frauen im öffentlichen Raum Respekt zu verschaffen, hat sich der Begriff für eine der respektlosesten Praktiken als harmloses Wort mit flauschigem Klang etabliert. Catcalling – das klingt nach einem niedlichen YouTube-Video, nicht nach einer Alltagsdemütigung. Vielleicht liegt genau darin der perfide Charme des Patriarchats: Es kleidet seine Übergriffe in Worte, die so harmlos scheinen, dass man fast vergisst, dass sie wehtun.

Und während also die einen debattieren, ob Pfeifen schon Belästigung oder noch Freiheit der Kunst ist, bleibt die andere Frage unbeachtet: Warum, um Himmels willen, sind Frauen in dieser ganzen sprachlichen Inszenierung schon wieder die Katzen? Vielleicht, weil wir Männer eben doch die wahren Katzen sind – getrieben, selbstgefällig, ständig auf der Suche nach Aufmerksamkeit, und wenn man uns die Suppe verweigert, dann kratzen wir halt. Aber das, so sagt mein Freund, wäre dann wohl ein ganz anderer Essay.

Heute gibt es nur noch zwei Meinungen: die eigene und die falsche

Prolog: Willkommen in der Ära der Selbstgewissheit

Wir leben in einer Zeit, in der die Selbstsicherheit des Individuums nicht mehr nur eine Tugend ist, sondern ein soziales Gebot. Jede Äußerung, jeder Gedanke, jede kleine Regung des Geistes wird sofort katalogisiert, bewertet und in das unbestechliche Raster der eigenen Meinung einsortiert. Wer heute noch an Diskurs glaubt, versteht nicht, dass Diskurs längst zur Performance geworden ist: eine Choreografie der Eitelkeiten, bei der jeder Satz, jedes Argument, jede Nuance den Applaus oder den digitalen Lynchmob provoziert. Die eigene Meinung ist nicht länger Meinung, sie ist Dogma. Und alles andere ist gefährlich, falsch, moralisch fragwürdig und sofort zu exkommunizieren.

Diese neue Epoche hat sich stillschweigend und nahezu unbemerkt in die Alltagsrituale eingeschlichen. Frühstücksfernsehen, Social-Media-Feeds, Firmen-Newsletter, selbst die stille Kaffeepause im Büro – überall wird die Bühne bereitet für das große Schauspiel des Ichs. Die Tragik liegt darin, dass wir glauben, wir würden debattieren. In Wahrheit inszenieren wir uns selbst, während die Welt um uns herum verblasst.

Politik als Theater des Selbstbewusstseins

Politik ist der naheliegende Schauplatz dieser Tyrannei: Wer früher noch Kompromisse suchte, Koalitionen schmiedete, auf den Fluren der Macht debattierte, erlebt heute ein endloses Casting der Selbstgerechtigkeit. Jede Entscheidung wird durch die Linse der eigenen Moral betrachtet, jede Nachricht, jeder Skandal, jede politische Wendung sofort auf ihre Eignung geprüft, das persönliche Weltbild zu bestätigen. Parteien existieren nicht mehr, Ideologien sind irrelevant; was zählt, ist die perfekte Projektion des eigenen Egos in den öffentlichen Raum.

Das Ergebnis ist absurd: Menschen empören sich über Dinge, die sie gar nicht verstehen, weil sie glauben, die moralische Instanz ihrer eigenen Meinung sei universell gültig. Und die Medien? Sie sind längst nicht mehr Spiegel der Realität, sondern Verstärker, die jede Welle der Selbstgerechtigkeit in eine globale Brandung verwandeln.

Popkultur und das Alphabet der Empörung

Auch in der Popkultur regiert die Selbstsicherheit. Ein Film, ein Song, ein Buch – jede kreative Äußerung wird sofort gescannt, etikettiert und entweder zum Triumph der eigenen Weltansicht oder zum Symbol alles Bösen erklärt. Fans verwandeln sich in Fanatiker, Kritiker in moralische Polizei, und die Künstler? Sie stehen vor einer Armee von Zuschauern, deren einziges Kriterium die eigene Meinung ist.

Ironischerweise ist die Vielfalt der Meinung verschwunden. Wir leben in digitalen Blasen, die nur das bestätigen, was wir ohnehin schon glauben. Netflix-Algorithmen, Spotify-Playlists, TikTok-For-You-Feeds – sie sind nicht nur Unterhaltungsmaschinen, sondern psychologische Feudalherrschaften, die jeden Versuch der Nuance niederwalzen. Die falsche Meinung ist nicht nur falsch; sie ist ein Angriff, ein kultureller Virus, den es zu isolieren gilt.

Bürokratie, Alltag und das kleine Drama der Selbstüberzeugung

Aber die Tyrannei der eigenen Meinung endet nicht bei Politik und Popkultur. Sie hat sich in jedes Rädchen des Alltags geschlichen. Im Supermarkt, beim Arzt, in der Bahn – überall begegnet man Menschen, die glauben, dass die eigene Sichtweise die einzige Realität ist. Wer den falschen Einkaufswagen wählt, den falschen Parkplatz nimmt, den falschen Gruß ausspricht, riskiert, Teil einer moralischen Parabel zu werden.

In der Bürokratie zeigt sich das besonders scharf: Formulare, Anträge, E-Mails – sie alle werden zu Schlachtfeldern der Selbstgerechtigkeit. Jeder, der sich an Regeln hält, glaubt, er sei im Besitz universeller Wahrheit; jeder, der abweicht, wird zum Sinnbild der Inkompetenz. Und die Meetings? Sie sind längst Theaterstücke, in denen jede Pointe, jeder Vorschlag, jede Idee zunächst auf ihre Fähigkeit geprüft wird, das eigene Ego zu bestätigen, bevor sie überhaupt diskutiert wird.

Wissenschaft als Opfer der Selbstgerechtigkeit

Die Wissenschaft, einst Hort des Zweifelns und der kritischen Reflexion, ist nicht verschont geblieben. Studien, Forschungsergebnisse, Hypothesen – alles wird sofort durch die Brille der eigenen Meinung interpretiert. Fakten werden selektiv wahrgenommen, Theorien zerpflückt, nur um die eigene Weltsicht zu bestätigen. Der Wissenschaftler als rationaler Forscher ist ersetzt durch den Wissenschaftler als Performer, der seine Forschung auf Social Media verkauft wie ein Influencer seine Jogginghose.

Ironischerweise hat diese Entwicklung die Wissenschaft zugleich entmachtet und übermächtig gemacht: Sie ist nur noch wertvoll, wenn sie die eigene Meinung belegt, und gefährlich, wenn sie eine falsche Meinung, sprich: die Meinung eines anderen, unterstützt.

Die Komik der digitalen Selbstjustiz

Doch trotz all dieser Tragik, oder gerade wegen ihr, bleibt die Komik: Wir beobachten uns selbst und erkennen die Lächerlichkeit unserer Eitelkeiten. Wir diskutieren über die moralische Qualität von Frühstücksflocken, während wir glauben, die Welt retten zu müssen. Wir empören uns über Worte, während wir die Bedeutung der Stille vergessen. Die digitale Selbstjustiz hat uns alles genommen – aber eines lässt sie uns: die Gelegenheit, das absurdes Schauspiel der menschlichen Selbstverliebtheit zu genießen.

Epilog: Die letzte Wahrheit der eigenen Meinung

Am Ende bleibt unweigerlich die Erkenntnis: Heute gibt es nur noch zwei Meinungen – die eigene und die falsche. Aber darin liegt, paradox, ein Geschenk. Wir können lachen über die digitale Hexenjagd, die moralische Selbstinszenierung, die absurden Debatten, die niemals Debatten sind. Wir können lachen über uns selbst, über die Welt, die wir uns selbst gebaut haben, und über die unerschütterliche Illusion, dass unsere eigene Meinung makellos, universell gültig und unfehlbar sei.

Denn, seien wir ehrlich, das Einzige, was wirklich falsch ist, ist zu glauben, man könne jemals alles richtig sehen – außer natürlich die eigene Meinung. Und genau in diesem Bewusstsein liegt die letzte Freiheit: die Freiheit zu lachen, während wir weiterhin unsere Welt auf den Fundamenten der Selbstgerechtigkeit errichten.

Ein Preis für den Frieden

oder: Wie man den Irrsinn vergoldet

Man stelle sich vor: Ein Preis, der für „Verdienste im Kampf gegen Vorurteile, Intoleranz und Hass“ vergeben wird, landet in den Händen eines Mannes, dessen moralischer Kompass gelegentlich scheint, als sei er auf einem Jahrmarkt ausgestellt. Benjamin Idriz, Imam, moralischer Kommentator, und anscheinend auch Künstler im Genre der historischen Relativierung, darf sich plötzlich Preisträger nennen. Die liberale Thomas-Dehler-Stiftung hat offenbar beschlossen, dass die Fähigkeit, Täter und Opfer semantisch auf dieselbe Waage zu legen, eine bemerkenswerte Tugend ist.

Man muss das Bild nur kurz wirken lassen: ein Mann, der die Freilassung israelischer Geiseln mit der Rückkehr verurteilter palästinensischer Mörder gleichsetzt, applaudiert von einer Jury, die sich vermutlich in feierlicher Selbsttäuschung wiegt. Das ist weniger Preisverleihung, mehr eine Lehrstunde in moralischer Akrobatik: wie man historische Realität aufhübscht, bis sie bequem durch die liberale Brille passt.

Relativierung als Lebenskunst – oder: Wie man Terror in Watte packt

„Die Geschichte beginnt nicht am 7. Oktober.“ Das ist nicht nur eine Relativierung – das ist eine Verflachung der Wirklichkeit, die mit der Eleganz eines Presslufthammers daherkommt. Hier wird Terror nicht verurteilt, sondern in eine historische Debatte verpackt, in der Opfer zu Statisten eines ewigen Dramas werden, das moralisch ausgeglichen sein soll. Es ist eine Form der „Toleranz“, die man nur dann verstehen kann, wenn man bereit ist, den eigenen moralischen Kompass als Kitschdekor abzulegen.

Die Krux dabei: Herr Idriz kann sehr wohl deutliche Worte finden, nur wählt er sie gezielt gegen Israel. Der Einsatz rhetorischer Brandstiftung wird mit der Verheißung moralischer Neutralität überklebt, wie ein Sofa, das man über brennende Trümmer legt. Und die Jury? Offenbar entzückt vom warmen Gefühl der eigenen Gutgläubigkeit, vergibt fröhlich den Preis.

Moralische Akrobatik – der Balanceakt zwischen Genozid und Geiseln

Wenn man das Wort „Genozid“ in den Mund nimmt, sollte man wissen, dass es nicht wie ein Bonbon zu verteilen ist. Doch Herr Idriz benutzt es wie ein Accessoire: „in der moralischen Wahrnehmung von Milliarden Menschen“, so seine Formulierung. Milliarden Menschen sehen etwas, also wird es moralisch. Wir dürfen ruhig innehalten und den Wahnsinn in dieser Formulierung erkennen: Es ist nicht die Tat, es ist die Wahrnehmung, die zählt. Und siehe da: Israel, ein demokratischer Staat, steht plötzlich auf derselben moralischen Linie wie das Menschheitsverbrechen der Schoa. Ein Kunstgriff, der sogar Dali ins Schwitzen gebracht hätte.

Die Pointe, dass Juden in Deutschland sich vom israelischen Staat distanzieren sollten, um Antisemitismus einzudämmen, ist so unverschämt altmodisch-antizionistisch, dass sie fast schon wieder modern wirkt. Die moralische Verantwortung wird wie ein Brandbeschleuniger verteilt, und Juden sollen das Feuer löschen, während die Täter weiter agieren.

Die Jury – Meister der Selbsttäuschung

Die Thomas-Dehler-Stiftung präsentiert sich als Hort des Liberalismus, doch hier offenbart sich die Absurdität der guten Absicht. Man wollte Dialog, Versöhnung, Toleranz? Geschenkt. Doch wenn die Grundlage des Dialogs darin besteht, Opfer und Täter rhetorisch zu vereinen, dann ist das nicht Dialog. Das ist die Selbstverleugnung einer ganzen Institution, getarnt als Liberalität.

Die Jury hat offensichtlich beschlossen, dass öffentlich zugängliche Äußerungen, die Israel dämonisieren und Hamas-Terror relativieren, einfach nicht relevant seien. Vielleicht haben sie geglaubt, man könne Realität ausblenden, solange man sie in einem feinen Goldrahmen präsentiert.

Schlusswort: Wenn Preisverleihung zu Performancekunst wird

Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Diese Verleihung ist kein Preis. Sie ist eine Performance, ein Lehrstück in der Kunst der moralischen Selbstüberhöhung. Vielleicht ist Benjamin Idriz gar nicht Imam, sondern ein schelmischer Kurator der Realität, der uns alle dazu bringt, staunend zuzusehen, wie man Absurdität in Gold gießt.

Chapeau, Thomas-Dehler-Stiftung. Sie haben uns gelehrt, dass Toleranz nicht nur relativ, sondern potenziell satirisch sein kann. Und dass man mit genügend Liberalität sogar den Terror umarmen kann – natürlich augenzwinkernd, versteht sich.

Der digitale Blockwart – oder: Wie man mit einem Klick das Grundgesetz entwertet

I. Die neue deutsche Tugend: Klicken statt Denken

Es war einmal ein Land, das nach 1945 beschwor, nie wieder dürfe Angst den öffentlichen Raum regieren. Und tatsächlich: Deutschland wurde zum Musterknaben des Rechtsstaats, zum Hüter der Würde, zum Land, in dem selbst ein Autokennzeichen mit „H-KZ“ mehr Empörung auslöst als jede Steuererhöhung.

Doch irgendwo zwischen Klimadiskurs, Pandemiepanik und Haltungsjournalismus hat sich eine neue, subtilere Angst eingeschlichen: die Angst vor der falschen Meinung.
Nicht mehr der Staat verbietet, sondern die Gesellschaft selbst – mit digitaler Selbstgerechtigkeit, flankiert von staatlich abgesegneten Meldeportalen.

So auch im Fall Prof. Dr. Norbert Bolz, Kommunikationswissenschaftler, Medienintellektueller, bekennender Konservativer – also, nach heutigem Verständnis, eine Art intellektueller Hochrisikofall.
Ein anonymer Hinweis über „Hessen gegen Hetze“ genügte, und schon stand der Staat vor der Tür. Kein Terrornetzwerk, kein Aufruf zur Gewalt – nur ein Verdacht, ein Klick, ein Algorithmus im Dienste der Tugend.

Man könnte es fast für Satire halten, wäre es nicht real.

II. Hessen gegen Hetze – Die Rückkehr der moralischen Denunziation

Die Idee hinter dem Portal ist so simpel wie gefährlich: Jeder kann melden, was ihm „nach Hetze aussieht“. Kein Beweis nötig, kein Name, keine Verantwortung.
Ein digitaler Pranger mit dem Etikett der Bürgerbeteiligung – der Traum aller Kontrolleure, die den Bürger lieber als Untertan denn als Mitdenker sehen.

Das System erinnert an alte, dunkle Instinkte: an das Misstrauen als soziale Klammer, an die Genugtuung des Meldens, an die süße Versuchung, sich durch moralische Empörung über andere zu erhöhen.
Der Blockwart 2.0 trägt keinen Trenchcoat mehr, sondern ein Profilbild mit Regenbogenrahmen.

Dass ausgerechnet ein Land mit deutscher Geschichte solch ein System wiederbelebt, hat eine bittere Ironie. Einst waren anonyme Anzeigen das Werkzeug totalitärer Systeme – heute nennt man sie „Engagement gegen Hass“.
Und so öffnet sich ein altbekanntes Tor: das Tor zur Tyrannei der Guten.

III. Meinungsfreiheit, das missverstandene Grundrecht

Artikel 5 des Grundgesetzes – dieses hochverehrte, oft zitierte, selten verstandene Juwel – garantiert jedem das Recht, seine Meinung frei zu äußern.
Doch die Freiheit der Meinung ist kein Schönwetterrecht. Sie gilt gerade dann, wenn Meinungen unbequem, provokant oder dumm sind.

Natürlich hat sie Grenzen – Schmähkritik, Beleidigung, Volksverhetzung. Aber diese Grenzen sind eng gezogen, bewusst eng, weil die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten, was passiert, wenn man den Staat zum Schiedsrichter des Denkens macht.

Die heutige Praxis jedoch dreht das Verhältnis um: Nicht mehr der Staat muss beweisen, dass eine Äußerung keine Meinung, sondern eine Straftat ist – der Bürger muss hoffen, dass sein Satz nicht „anders verstanden“ wird.
Damit verwandelt sich ein Abwehrrecht gegen den Staat in ein Genehmigungssystem der Gesinnung.

IV. Die schleichende Erosion des Rechtsstaats

Hausdurchsuchungen sind keine Bagatellen. Sie greifen tief in die Grundrechte ein – in die Unverletzlichkeit der Wohnung, in die Privatsphäre, in die Würde.
Dass sie auf Grundlage anonymer Meldungen erfolgen können, ist ein Symptom jener Erosion, die langsam, leise und unter Applaus der Wohlmeinenden fortschreitet.

Juristisch betrachtet ist das absurd: Der anonyme Hinweis ersetzt keine richterliche Begründung, kein Tatverdacht darf allein daraus erwachsen. Doch in der Praxis reicht oft der moralische Druck – die Angst, „nicht zu handeln“.
Der Rechtsstaat knickt nicht unter Gewalt ein, sondern unter Empörung.

Und während man früher noch Akten studierte, um Recht zu sprechen, reicht heute ein Screenshot aus einem Forum, ein anonymer Upload, ein „Verdacht auf Hetze“.
Das ist kein Fortschritt – das ist der Rückfall in das Vorrecht der Vermutung.

V. Ein Blick zurück: Geschichte als Lehrerin, die keiner hören will

Wer glaubt, Denunziation sei ein archaisches Relikt, möge sich erinnern:

  • In der DDR hieß es „IM-Bericht“,
  • im Dritten Reich „Volksgemeinschaftliche Meldung“,
  • und im digitalen Zeitalter: „Hessen gegen Hetze“.

Das Muster bleibt dasselbe, nur die Rhetorik wechselt. Früher diente es der „Volkshygiene“, heute der „Diskurshygiene“.
In beiden Fällen aber gilt: Der Staat nutzt die Bürger, um Kontrolle über andere Bürger auszuüben – unter dem Deckmantel des Guten.

Gerade deshalb war das Grundgesetz so weise: Es baute Schranken ein, die verhindern sollten, dass sich das Rad der Geschichte erneut dreht.
Doch der neue Denunziant hält sich nicht für Werkzeug, sondern für Held.
Er meldet nicht, weil er fürchtet – er meldet, weil er glaubt.

VI. Das gefährliche Spiel mit der „Zivilgesellschaft“

Ein weiteres Lieblingswort dieser Zeit lautet: Zivilgesellschaft.
Ein so schönes, rundes Wort – wie „Klimaneutralität“ oder „Solidaritätszuschlag“. Es klingt immer gut, egal, was es bedeutet.
In Wahrheit dient es heute oft als Tarnkappe für staatlich alimentierte Aktivismusstrukturen, die unter dem Mantel des Engagements das tun, was der Staat selbst nicht darf: moralische Selektion.

Wer „gegen Hetze“ kämpft, braucht Feinde. Und wer Feinde braucht, findet sie auch. So entsteht eine Industrie der Empörung, eine Infrastruktur der moralischen Aufrüstung.
Der Preis: die Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Tribunal.

VII. Der Staat der Verdächtigen

Das Vertrauen, das einst die Basis des Rechtsstaats bildete, schwindet. Stattdessen wächst ein paternalistisches System des Misstrauens, in dem Bürger nicht mehr Partner, sondern Beobachtungsobjekte sind.
Jeder Klick wird zum potenziellen Beweis, jedes Wort zur Spur im Raster.

Das ist keine Dystopie, das ist Realität – nur freundlich lächelnd präsentiert.
Man nennt es „digitale Zivilcourage“, weil „gesellschaftliche Überwachung“ nicht gut auf die Plakatwand passt.

Doch wenn der Staat die Bürger misstrauisch beäugt und sie sich gegenseitig melden, dann ist die Demokratie nicht gestärkt, sondern entkernt.

VIII. Die wahre Prävention: Bildung, Debatte, Vernunft

Es gibt Alternativen. Sie heißen nicht „Portal“, sondern „Polizei“. Nicht „anonymer Hinweis“, sondern „rechtsstaatliches Verfahren“.
Und vor allem: Bildung.
Denn wer gelernt hat zu denken, braucht keine Meldeplattform, um Hetze zu erkennen.

Der Staat sollte in Medienkompetenz investieren, nicht in digitale Pranger. In Vertrauen, nicht in Kontrolle.
Denn Freiheit gedeiht nicht im Schatten des Verdachts, sondern im Licht des offenen Streits.

IX. Epilog: Freiheit als Zumutung

Der Fall Bolz ist mehr als ein Einzelfall. Er ist ein Spiegel. Und das Spiegelbild zeigt eine Gesellschaft, die sich selbst misstraut – und darin gefährlicher ist als jeder „Hassredner“.

Freiheit ist unbequem. Sie riecht, sie kratzt, sie beleidigt den Geschmack. Aber sie ist das Einzige, was den Bürger vom Untertan unterscheidet.

Mehr Freiheit, mehr Rechtsstaat, weniger Misstrauen.
Oder, um es in aller Polemik zu sagen:
Wenn schon Denunziation, dann wenigstens offen – mit Namen, mit Gesicht, mit Rückgrat.

Alles andere ist feige Moral mit WLAN-Anschluss.

Ein erfundenes Volk

Die Geschichte des Nahen Ostens lässt sich selten in einfache Antworten fassen. Völker entstehen durch Kultur, manchmal durch Glauben – doch oft auch durch Krieg, Korruption und Bürokratie. So entstand das Konzept des „palästinensischen Volkes“: nicht als ethnische Gemeinschaft, sondern als politisches Konstrukt, das sich über Jahrzehnte hinweg formte – im Zusammenspiel von Mandatsverwaltung, Geheimdiensten und Ideologie.

Von der Provinz zur „Nation“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte auf der Karte des Osmanischen Reiches kein Land namens „Palästina“. Das Gebiet galt als südlicher Teil Syriens und unterstand administrativ Damaskus; die Küstenregion war kulturell und wirtschaftlich auf Ägypten ausgerichtet.
In britischen Dokumenten des Mandatszeitraums wurde die Bevölkerung schlicht als „Araber“ bezeichnet – ohne jeden ethnischen Zusatz.
Auch die Sprache verrät viel: Die Dialekte des Nordens ähneln dem Syrischen, die des Zentrums dem Jordanischen, und im Süden hört man ägyptisch-sinaitische Einflüsse. Sprachforscher wie Bergsträsser und Blanc betonen, dass sich hier kein einheitlicher Volksdialekt entwickelte, sondern eine Mischung von Grenzregionen – die Sprache von Durchreisenden, nicht von einem geschlossenen Volk.

Nationalismus als spätes Produkt

Die arabischen Eliten jener Zeit bezeichneten sich selbst nicht als „Palästinenser“. In den Beschlüssen der arabischen Kongresse von 1919–1920 hieß es ausdrücklich, das Gebiet sei „Süd-Syrien“ und solle Teil eines syrischen Staates werden. Gaza orientierte sich wirtschaftlich an Ägypten, während die Beduinen des Negev eng mit dem Sinai und Transjordanien verbunden waren.
Erst die zionistische Einwanderung änderte alles. Die jüdische Alija brachte Kapital, Ingenieure, Ärzte, Elektrizität, Industrie und neue Arbeitsplätze. Britische Berichte sprachen von einer „neuen Wirtschaft“, die auch viele arabische Arbeiter aus den Nachbarländern anzog.
Die Peel-Kommission stellte 1937 fest, dass der Anstieg der arabischen Bevölkerung zu einem großen Teil auf Migration zurückzuführen war – Menschen, die vom wirtschaftlichen Aufschwung des jüdischen Sektors angezogen wurden.
Zwischen 1922 und 1947 wuchs die arabische Bevölkerung von 590.000 auf über 1,2 Millionen – ein Zuwachs, der ohne massive Zuwanderung aus Syrien, Transjordanien und Ägypten kaum erklärbar ist.
Von der Modernisierung zur Revolte
Die arabischen Aufstände zwischen 1920 und 1939 waren weniger Ausdruck von „Unterdrückung“ als von Angst vor Modernisierung. Die neue Wirtschaft bedrohte traditionelle Machtstrukturen. Der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, nutzte diese Ängste, um die Bevölkerung gegen Juden und Briten aufzuhetzen. Die Pogrome von Jerusalem (1920), Jaffa (1921) und Hebron (1929) sowie der Aufstand von 1936–1939 waren das Ergebnis dieser Propaganda.
Nach der Niederlage im Unabhängigkeitskrieg 1948 wurde dieselbe Propaganda umgedreht: Arabische Führer riefen die Bevölkerung auf, das Land zu verlassen, „bis die Armeen die Juden vertreiben“. Hunderttausende folgten diesem Aufruf – im Vertrauen auf eine baldige Rückkehr.

Die Geburt der ewigen Flüchtlinge

Etwa 700.000 Menschen wurden zu Flüchtlingen. Viele waren Einwanderer der letzten Jahrzehnte, die erst durch den wirtschaftlichen Aufschwung in das Land gekommen waren. 1949 gründeten die Vereinten Nationen die UNRWA, ursprünglich als zeitweilige Hilfsorganisation für jene, die „Haus und Lebensunterhalt verloren hatten“.
Doch bald verwandelte sich das Hilfswerk in eine bürokratische Struktur ohne Ausweg. In den 1950er Jahren beschlossen seine Verwalter, dass der Flüchtlingsstatus vererbt werden könne – ein beispielloses Vorgehen, das von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gedeckt war. So stieg die Zahl der „palästinensischen Flüchtlinge“ von 700.000 auf fast sechs Millionen. Viele von ihnen besitzen längst die Staatsbürgerschaft anderer Länder, gelten aber weiterhin als Flüchtlinge.
Der Flüchtlingsstatus wurde zur sozialen Institution, das Lager zum Ersatz für ein Staatswesen. Hilfe trat an die Stelle von Arbeit, und Identität entstand aus Opferrolle.

Zwei Wege, ein Land

Im selben Zeitraum nahm Israel rund eine Million Juden aus arabischen Ländern auf. Niemand bezeichnete sie als „ewige Flüchtlinge“. Sie erhielten Staatsbürgerschaft, Ausbildung, Berufe – und bauten neue Städte auf den Ruinen alter. Während die UNRWA-Lager Symbole der Stagnation blieben, wurden die israelischen Siedlungen zu Zentren von Industrie, Wissenschaft und Kultur.
Heute wird oft von einer „Annexion“ der Gebiete Judäa und Samaria gesprochen. Doch eine Annexion kann es nur geben, wenn ein anerkanntes Staatsgebiet betroffen ist. Nach 1948 hatte jedoch kein Staat legitime Souveränität über diese Regionen – die jordanische Annexion von 1950 wurde international kaum anerkannt. Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats spricht nicht von einem Rückzug auf die Linien von 1949, sondern von „sicheren und anerkannten Grenzen“. Juristisch geht es daher um Verwaltung strittiger Gebiete, nicht um Annexion.

Zivilisation oder Zerstörung

So trennten sich im 20. Jahrhundert zwei Wege, die einst auf demselben Boden begannen. Der eine wählte Wissen, Arbeit und Wissenschaft – und schuf Leben. Der andere wählte Propaganda, Gewalt und Selbstmitleid – und schuf Stillstand.
Israel wurde ein Land der Ingenieure, Ärzte und Forscher. Es verwandelte Sümpfe und Wüsten in fruchtbare Landschaften. Wo Arbeit und Bildung zählen, entsteht Zukunft.
In den palästinensischen Lagern dagegen ersetzte das politische Dogma die Tatkraft. Der Status des Opfers wurde zur Identität, der Stein zur Waffe, das Wort „Rückkehr“ zur Parole ohne Ziel.
Der Konflikt ist daher nicht nur ein Kampf zweier Völker, sondern zweier Prinzipien: Schaffen oder Zerstören. Geschichte gibt allen eine Chance – aber nur jene, die bauen, nutzen sie

Die träge Apokalypse des Denkens

Sie warnte uns vor siebzig Jahren, und wir… wir taten, was Menschen am besten können: wir hörten mit halbem Ohr zu, nickten, tippten, scrollten, und gingen zurück in unsere kleinen digitalen Höhlen, in denen jeder Meinungskanon so sorgfältig poliert war wie ein Instagram-Feed, während die Welt leise in die Hölle tappte, auf Zehenspitzen, ohne dass wir es merkten. Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, Jüdin, Flüchtling, Überlebende, Chronistin des Wahnsinns, sah, was passiert, wenn Menschen aufhören zu denken: nicht, weil sie böse sind – das Böse ist eine zu einfache Übung, fast schon ein Yoga für Anfänger –, sondern weil sie kapitulieren. Weil sie müde werden, die Wahrheit zu suchen, weil sie entscheiden, dass es einfacher ist, alles als „Meinung“ abzutun, als zu prüfen, zu hinterfragen, zu atmen in einer Welt, die plötzlich keine Atemluft mehr bietet, nur noch heiße, stickige Propagandaluft.

Der Untertan, der nicht mehr weiß, was real ist

In „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schrieb Arendt, dass der ideale Untertan nicht der glühende Nazi ist, nicht der fanatische Kommunist, sondern der, der aufgehört hat, die Welt zu unterscheiden zwischen Fakt und Fiktion, zwischen wahr und falsch. Lies es nochmal, langsam, als würdest du versuchen, ein unscharfes Foto zu entziffern, auf dem alles verschwommen ist: der ideale Untertan ist der, der denkt, dass alles gleichwertig ist – die Zeitung, das Meme, die Verschwörung, die Floskel, die eigene Lüge. Nicht der Überzeugte, nein – der Ermüdete, der Zynische, der Gleichgültige. Genau der. Der perfekte Konsument der totalitären Langeweile.

Es geht nicht um Überzeugung, es geht um Resignation. Überzeugung ist unbequem, sie erfordert Muskeln, Rückgrat, Blutdruck. Resignation dagegen ist bequem. Sie ist das Netflix der menschlichen Geisteshaltung. „Ach, egal“, seufzt der Untertan, während draußen die Welt brennt, und Arendt schaut ihm zu und seufzt leiser, weil sie weiß: Müdigkeit ist die leise Vorhut des Totalitarismus.

Die Lüge als Dauerberieselung

Lügen sind nicht einfach falsch. Lügen sind Dauerberieselung. Lügen sind die subtilen Bakterien, die nach und nach alles zersetzen, was an klarer Wahrnehmung übrig war. In „Wahrheit und Politik“ zeigt Arendt, dass die wahre Gefahr nicht in der offensichtlichen Lüge liegt – die kann man noch widerlegen –, sondern in der Flut von ununterscheidbaren Fiktionen, im permanenten Zweifel, in der Verunsicherung, die irgendwann so tief sitzt, dass Menschen lieber aufgeben, als noch einmal zu prüfen. Wer einmal resigniert, atmet nur noch das Gas der Gleichgültigkeit ein und aus. Das ist das Meisterwerk totalitärer Propaganda: nicht der Triumph der Lüge, sondern der Sieg der Erschöpfung.

Und wir? Wir scrollen, wir liken, wir retweeten, während die Welt untergeht, und wundern uns, warum alles so gleichgültig schmeckt, warum Moral und Wahrheit zu altmodischen Konzepten geworden sind, wie VHS-Kassetten in der Digitalära.

Müdigkeit, das unsichtbare Panzerfahrzeug

Totalitarismus beginnt nicht mit Panzern, er beginnt mit Gähnen. Mit „Man kann ja eh keinem trauen“ und „Alle lügen doch“. Mit der Versuchung, wegzusehen, während die Flammen züngeln. Die Zerstörung der Urteilskraft ist ein unsichtbares Panzerfahrzeug, das durch unsere Gehirne rollt, und wir denken: „Ach, das geht schon irgendwie vorbei.“ Nein. Es geht nicht vorbei. Es rollt, es zerstört, und wir winken lächelnd, weil wir zu müde sind, den Kopf zu heben.

Arendt sagt uns: Denken ist die letzte Bastion. Nicht die Ansammlung von Meinungen, nicht das Abfeiern von Parolen, nicht das Posten von #Freiheit auf Social Media. Echtes Denken. Fragen stellen. Widersprüche aushalten. Sich wundern. Wer das aufgibt, der ist verloren, auch wenn er denkt, dass er gewinnt. Radikalster Revolutionär am Tag nach der Revolution? Ein konservativer Schlafwandler, der nicht mehr prüft, was Recht und Unrecht, was wahr und falsch ist.

Die stille Katastrophe

Hannah Arendt starb 1975. Doch heute ist ihre Stimme lauter als jede Fake-News-Kampagne, als jeder algorithmisch optimierte Empörungssturm. Hüte deine Fähigkeit zu denken. Prüfe. Unterscheide. Widerspreche, auch wenn es weh tut. Denn wenn du aufhörst, dich um die Wahrheit zu kümmern, verlierst du alles: Freiheit, Würde, die winzigen Funken von Klarheit, die uns menschlich machen. Alles andere ist Netflix, scrollen, Ermüdung, Gleichgültigkeit – und der perfekte Untertan, erschöpft, gelangweilt, unkritisch. Wir lachen über uns selbst, während wir durch die Asche tanzen.

Arendt hätte gelacht, vermutlich bitter. Und wir? Wir blinzeln, müde, aber immerhin wach genug, um zu erkennen, dass wir jetzt handeln müssen – oder uns auf die nächste Müdigkeitswelle vorzubereiten, die uns endgültig das Denken raubt.

Die sanfte Guillotine der Gesinnung

Wie wir lernten, die Strafverfolgung zu lieben

Es ist ein eigentümliches Schauspiel, das sich dieser Tage auf der Bühne der Republik abspielt – ein Stück, das niemand bestellt hat, aber alle mitspielen müssen. Ein Stück, dessen Dramaturgie aus Paragrafen besteht, dessen Requisiten aus Tweets, Talkshows und moralisch aufgeladener Empörung gefertigt sind. Und während die Zuschauer applaudieren, weil sie glauben, es handle sich um eine moralische Reinigung, vollzieht sich in Wahrheit ein Akt der politischen Hygiene, der in seiner Wirkung weit gefährlicher ist als jede noch so plumpe Stammtischparole: Die Strafverfolgung als Waffe im Meinungskampf – der neue Stil, das neue Schwert, die neue Tugend.

Was früher der Knüppel war, ist heute der Strafantrag. Was früher die Zensurbehörde erledigte, erledigt heute die „Zivilgesellschaft“ mit digitaler Inbrunst. Und was früher ein Irrtum des Totalitären genannt wurde, gilt nun als notwendige Maßnahme im Dienste der Menschlichkeit. Man kann die Entwicklung nur als grotesk bezeichnen: Eine Gesellschaft, die sich selbst für frei hält, installiert freiwillig die Denkverbote, die einst von Diktatoren verordnet wurden – diesmal im Namen des Guten, versteht sich.

Von der Tugend zur Tugendpolizei

Natürlich – damit wir uns recht verstehen – ist niemand so töricht zu behaupten, dass Volksverhetzung kein Delikt sein sollte. Wer Menschenwürde mit Füßen tritt, soll den langen Arm des Gesetzes spüren, keine Frage. Aber was sich da in den letzten Jahren still und schleichend vollzogen hat, ist keine schlichte Anwendung des Rechts, sondern seine ideologische Umrüstung. Die Auslegung der Gesetze ist elastisch geworden wie das Gewissen mancher Aktivisten: Es dehnt sich, wo es passt, und zieht sich zusammen, wo es unbequem wird.

So kann ein Satz heute Volksverhetzung sein, morgen nur unglücklich formuliert, und übermorgen schon „kontextabhängig ironisch“. Entscheidend ist nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer es sagt und wie viele sich im Internet darüber empören. Der Rechtsstaat beugt sich dem moralischen Stimmungsbarometer – und der Staatsanwalt wird zum Erfüllungsgehilfen des Zeitgeists.

Das Strafrecht, einst das nüchterne Bollwerk gegen den Exzess, verwandelt sich in ein moralisches Instrumentarium, das je nach modischem Trend neu justiert wird. Ein bisschen Repression hier, ein bisschen Empörung dort – fertig ist die neue Ordnung der Anständigkeit.

Das Schweigen als neue Tugend

Man kann es förmlich hören, das Rascheln der Selbstzensur. Es ist das Grundrauschen unserer Zeit.
Nicht mehr die Worte sind frei, sondern nur noch jene, die sie zu zähmen wissen. Der geübte Zeitgenosse formuliert nicht mehr, was er denkt, sondern was noch gerade so durchgeht. Er prüft seine Sätze wie ein Chemiker den pH-Wert einer Flüssigkeit: Ist das schon zu sauer? Zu basisch? Zu riskant?

Julian Reichelt und Norbert Bolz – um zwei prominente Vertreter des Delinquententums der freien Rede zu nennen – werden sich vermutlich zu wehren wissen. Sie verfügen über Reichweite, juristische Expertise und die notwendige Portion Trotz. Aber der Preis ihrer Verteidigung ist hoch: Sie müssen in einem Klima kämpfen, in dem nicht mehr die Wahrheit zählt, sondern die richtige Haltung.

Andere jedoch – weniger sichtbar, weniger laut, weniger kampferprobt – werden das nicht tun. Sie werden ihre Meinung verschlucken, ihre Kritik dämpfen, ihre Sprache anpassen. Und so stirbt, wie stets in solchen Zeiten, zuerst der Diskurs – und dann, still und unauffällig, die Freiheit.

Der moralische Komplex: Wenn der Rechtsstaat zur Religion wird

Der moderne Mensch hat den Glauben an Gott verloren, aber nicht das Bedürfnis nach Sünde und Erlösung. Also hat er sich neue Sakramente geschaffen: Haltung, Bewusstsein, Empörung. Die neuen Gebote lauten nicht mehr „Du sollst nicht töten“, sondern „Du sollst korrekt sprechen“. Und wehe dem, der das falsche Pronomen gebraucht oder die falsche Frage stellt – er hat sich des Sakrilegs schuldig gemacht.

Die Justiz wird in diesem System zur Inquisition im Designeranzug. Sie zitiert vor, verhört, belehrt – nicht um Gerechtigkeit zu üben, sondern um Zeichen zu setzen. Strafverfahren als moralische Rituale: öffentliche Buße für unlautere Gesinnung.
Es ist, als würde der Staat plötzlich Theater spielen – aber die Zuschauer merken nicht, dass sie selbst die Komparsen sind.

Erinnerungen an eine freiheitlichere Zeit

Vor fünf Jahren – eine Ewigkeit in Zeiten des moralischen Fortschritts – schrieb ich ein Buch über genau diese Entwicklung. Ich hielt sie damals für besorgniserregend. Heute halte ich sie für toxisch. Die Angst hat sich verfeinert, institutionalisiert, verrechtlicht.
Die liberalen Ideale, einst das stolze Fundament der westlichen Moderne, wirken inzwischen wie die Patina einer vergangenen Epoche. Man beruft sich noch auf sie, wie man auf alte Familienfotos blickt: „Schau, so jung waren wir damals, als wir noch an Meinungsfreiheit glaubten.“

Die Ironie der Geschichte: Die Gesellschaft, die sich einst der Aufklärung verschrieben hat, geht nun daran, die Aufklärung per Paragraph abzuschaffen – und nennt das Fortschritt.

Rettung durch Rückkehr: Ein Aufruf zur intellektuellen Ungehorsamkeit

Es ist höchste Zeit, umzukehren – nicht in die dunklen Zeiten der Verrohung, sondern in die hellen Zeiten der Vernunft. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass alles erlaubt ist; sie bedeutet, dass das Denken nicht bestraft wird. Wer diese Unterscheidung verwischt, begeht ein Sakrileg an der liberalen Idee.

Wir müssen lernen, den Widerspruch auszuhalten, die Dissonanz zu ertragen, den Dissens zu schätzen. Nur dort, wo jemand das Falsche sagen darf, kann das Richtige entstehen.
Wenn wir diese Lektion vergessen, werden wir bald in einer Gesellschaft leben, in der alle das Richtige denken – und keiner mehr denkt.

Nachsatz

Vielleicht wird man auch dieses Essay eines Tages als „grenzwertig“ betrachten. Vielleicht wird es gemeldet, geprüft, beanstandet, gelöscht. Und vielleicht wird man dann sagen, das sei der Preis der Zivilisiertheit.
Ich aber meine: Wenn Zivilisiertheit bedeutet, dass der Mensch sich selbst die Zunge bindet – dann ist sie nichts anderes als höflich getarnte Knechtschaft.

Ein Hoch auf Mr. Cleese

Wie man im Zeitalter der Empfindlichkeit den Humor retten könnte (wenn man denn dürfte)

John Cleese, dieser hochgewachsene britische Fossil aus einer Zeit, als man noch lachen durfte, ohne anschließend zur öffentlichen Beichte geladen zu werden, steht wie ein trotziges Denkmal im Sturm der Empörungszyklen. Der Mann, der uns einst mit Monty Python’s Flying Circus in die geistige Anarchie führte, verteidigt heute nicht mehr den Witz – sondern das schlichte Recht, überhaupt noch einen zu machen.

Die Szene, um die sich der ganze Zirkus dreht, ist jene mit der „Loretta“, der Trans-Frau avant la lettre, die vor über vierzig Jahren für Lacher sorgte und heute in den Feuilletons als Fallbeispiel für strukturelle Mikroaggression behandelt wird. Es ist die Szene, in der eine Männergruppe im Sand der Antike diskutiert, ob man ein Kind austragen dürfe, obwohl man keine Gebärmutter hat. Damals eine Absurdität, heute eine „sensible Angelegenheit“. Und Cleese, dieser altmodische Narr, wagt es tatsächlich, auf der Bühne nichts zu ändern.

Dass er sich weigert, die Szene umzuschreiben, gilt in manchen Kreisen als Sakrileg. Schließlich lebt man in Zeiten, in denen jedes Lachen ein Antrag auf moralische Prüfung ist. Doch Cleese zuckt nur mit den Schultern und konstatiert trocken, dass in vier Jahrzehnten niemand sich je beschwert habe – bis jetzt. Man könnte daraus schließen, dass nicht der Sketch sich verändert hat, sondern die Gesellschaft, die ihn betrachtet. Aber wer will schon so weit denken?

Das Tribunal der Gefühlsempfindsamen

Was einst das Publikum war, ist heute ein Tribunal. Wo früher gelacht, gepfiffen, applaudiert wurde, wird heute bewertet, verurteilt und kontextualisiert. Die Bühne ist kein Ort des Experiments mehr, sondern ein Minenfeld, in dem jedes Wort auf seine moralische Sprengkraft geprüft wird.

„Man muss doch sensibel sein“, ruft der Zeitgeist mit sanfter Stimme, während er das Messer der Selbstzensur wetzt. „Kunst darf nicht verletzen!“ – ein Satz, der, wäre er wahr, das Ende der Kunst bedeutete. Cleese, der alte Satiriker, weiß das. Er hat die Kirche, die Politik, den Tod, die Bürokratie und das britische Wesen selbst verspottet – und alle haben überlebt. Es ist ein trauriges Paradox, dass die Generation, die sich für „offen“ hält, die geschlossenste gegenüber Ironie geworden ist.

Natürlich, man könnte argumentieren, dass Cleese einfach alt ist, weiß, reich und männlich – eine toxische Kombination in der modernen Hierarchie der moralischen Empfindlichkeiten. Doch vielleicht ist es auch genau dieser Außenseiterstatus, der ihn frei macht. Frei, sich zu weigern, an der kollektiven Umerziehung zur Humorlosigkeit teilzunehmen.

Die Tragödie der Selbstzensur

In Wahrheit geht es nicht um Cleese, nicht einmal um Das Leben des Brian. Es geht um eine Kultur, die verlernt hat, sich über sich selbst zu amüsieren. Die Ironie, jene zarte Form des Selbstzweifels, ist abhandengekommen und ersetzt worden durch moralischen Dogmatismus in Smileysprache.

Früher hieß es: „Man darf über alles lachen, nur nicht mit jedem.“ Heute heißt es: „Man darf über nichts lachen, wenn sich jemand finden ließe, der es krumm nehmen könnte.“ Das ist Fortschritt, sagen manche. In Wirklichkeit ist es das Gegenteil: Regression zur Empfindlichkeit.

Selbstzensur tarnt sich als Rücksicht, als Fortschritt, als moralische Hygiene. Aber sie ist, wie alle Formen der Angst, eine Kunstvernichterin. Wenn Cleese sagt, er habe 40 Jahre lang keine Beschwerden gehört, dann klingt das nicht nach Sturheit, sondern nach stillem Entsetzen. Denn plötzlich steht er in einer Welt, in der man sich für dieselben Sätze entschuldigen muss, für die man einst gefeiert wurde.

Vom Witz zur Wunde

Das Problem ist nicht, dass Menschen heute sensibler sind – das wäre ja durchaus begrüßenswert, wenn es nicht so selektiv wäre. Man darf sich verletzt fühlen, solange es im Trend liegt. Die Gefühle des anderen sind jedoch nur dann relevant, wenn sie sich in die richtige Richtung biegen. Das nennt man dann Empathie – aber es ist eine dressierte Empathie, eine politisch korrekte, algorithmisch bestätigte.

Cleese’ Weigerung, die „Loretta“-Szene zu ändern, ist also keine Rebellion gegen Minderheiten, sondern eine Rebellion gegen das Prinzip, dass jede Minderheit das Drehbuch der Welt umschreiben darf. Kunst, so scheint es, soll heute keine Fragen mehr stellen, sondern Antworten liefern, und zwar gefällige. Der Künstler wird zum Dienstleister für das moralische Wohlbefinden seiner Zuschauer.

Aber der Witz war nie harmlos. Er war immer ein kleines Messer, das unter den Rippen der Wirklichkeit kratzt. Und Cleese weiß das. Er verteidigt nicht eine Szene – er verteidigt die Zumutung.

Ein Hoch auf die Zumutung

Vielleicht ist das das Tragisch-Komische an der Sache: dass ein alter Komiker zum letzten Verteidiger der Freiheit des Lachens wird. John Cleese steht da wie Don Quijote im Anzug, kämpfend gegen Windmühlen aus Hashtags und Triggerwarnungen, während hinter ihm die Generation Z bereits mit dem Empörungsschwert wedelt.

Man muss ihn nicht lieben, um ihn zu verstehen. Aber man sollte ihm danken, dass er uns erinnert: Humor ist keine Therapieform, sondern eine Waffe. Und manchmal ist der Witz, der weh tut, der einzige, der noch etwas heilt.

Also, ein Hoch auf Mr. Cleese – den letzten Clown im postironischen Zeitalter. Möge er weiter stolpern, poltern, provozieren. Denn wenn selbst das Lachen sich entschuldigen muss, bleibt nur noch das Schweigen. Und das, liebe Zeitgeistgemeinde, ist wirklich nicht komisch.

Miss Germany 2025: Die Schönheit des Buzzwords

Vom Bikini zum Buzzword – eine Chronik des moralischen Catwalks

Früher war ein Bikini alles, was man brauchte, um Schönheit zu messen: Haut, Hüfte, Haltung im wörtlichen Sinn. Heute genügt das nicht mehr. Heute misst man Haltung – und zwar die moralische, gesellschaftspolitische, Instagram-taugliche Haltung. Wer eine Kampagne für Diversität, Gleichberechtigung oder nachhaltige Mode startet, darf sich auf die Bühne stellen. Wer das nicht tut, bleibt unsichtbar – egal wie symmetrisch die Gesichtszüge sind. Die Miss-Germany-Wahl 2025 ist weniger ein Wettbewerb um Schönheit, als ein Wettbewerb um das geschliffenste Buzzword-Portfolio.

Haltung statt Hüfte: Die neue olympische Disziplin

Amina trägt ein Kopftuch – und „verbindet Strategie mit Haltung“. Paula „beweist, dass Führung Spaß machen, bunt sein und Haltung zeigen darf“. Franzi schafft „Räume für Vielfalt, Bewusstsein und gemeinsames Wachstum“, Mina kämpft für „sichtbare Leadership-Rollen in Tech“. Wrestlerin Jazzy ist Speakerin – das heißt offenbar: alles, was kämpferisch aussieht, ist empowernd. Liz gestaltet „Räume für Zugehörigkeit“ und hat Diaspora Eats im Gepäck. Abina löst gesellschaftliche Probleme durch Afrohaare, Theodora macht Geschichten sichtbar, Jana verwandelt Plastikmüll in Mode.

Die Schönheit einer Frau wird in dieser Version nicht mehr durch Augen oder Hände, sondern durch LinkedIn-kompatible Mission Statements definiert. Wer Haltung hat, gewinnt. Wer keine Haltung hat, existiert nicht. Wer zu sehr auf körperliche Ästhetik setzt, wirkt plötzlich altmodisch – fast wie ein Dinosaurier der Moral auf High Heels.

Der Sonderfall Soldatin: Eine Reminiszenz an die Realität

Mitten im Meer der Buzzwords sticht Aileen Tina heraus. Eine Soldatin. Sie kämpft nicht für Sichtbarkeit, Diversity oder Empowerment – sie kämpft, Punkt. Keine Instagram-Captions, keine Leadership-Zitate, keine Räumlichkeiten für gemeinsames Wachstum. Nur Präsenz. Plötzlich wirkt die Miss-Germany-Bühne nicht mehr wie ein moralisches Fitnessstudio, sondern wie ein absurdes Theater, in dem die Realität sich fragt: „Wer soll das alles ernstnehmen?“

Die neue Ikone: Purpose über Physik

Die Miss-Germany-Wahl 2025 ist ein Labyrinth der guten Absichten. Schönheit ist kein Maßstab mehr, Haltung ist das neue Gold. Die Kandidatinnen sind weniger Frauen als wandelnde Corporate Social Responsibility-Kampagnen. Wer sich nicht für gesellschaftlichen Wandel engagiert, muss sich nicht einmal mehr die Mühe machen, gut auszusehen. Wer Haltung zeigt, kann sogar aus dem „mittelmäßig attraktiv“ ein „gesellschaftlich relevant“ zaubern. Moralische Performance ersetzt ästhetische Performance – und Instagram entscheidet, wer gewinnt.

Fazit: Schönheit ist tot, lang lebe die Haltung

Es ist eine ironische Tragödie: Die Miss-Germany-Wahl 2025 hat den Bikini in den Museumskeller geschickt und stattdessen Kopftuch, LinkedIn-Profil und Nachhaltigkeits-Statement auf den Laufsteg gehievt. Wer heute Miss Germany wird, ist nicht die schönste Frau – sie ist die am besten positionierte moralische Marke. Und während die Zuschauer zwischen „empowered“ und „inspirierend“ scrollen, bleibt eine letzte Frage: Wo bleibt die nackte, unverhandelbare Freude an Schönheit, die nicht über Haltung definiert wird, sondern einfach existiert? Vielleicht in einem Museum. Vielleicht nur noch in der Erinnerung.

Wöginger-Diversion: Ende der Korruptionsbekämpfung

Ein Richterinnen-Axiom und seine elegante Entleerung

Es ist eine jener juristischen Sentenzen, die nicht so sehr ein Urteil sind als eine theatralische Geste: eine Formulierung, die in der Luft hängenbleibt, in der Art, wie eine Messingglocke nach dem Schlag nachschwingt und plötzlich eine ganze Halle stilllegt. Richterin Melanie Halbig hat — so lesen es die Presseberichte — in ihrem Diversionsbeschluss etwas formuliert, das das demokratische Ohr irritiert: im Kern die Idee, dass der Republik „kein unmittelbarer Schaden“ entstehe, wenn statt der besten Kandidatin „nicht die Beste“ eingesetzt werde, solange der Gewählte „als Vorstand dennoch geeignet“ sei. Wer diese Worte aufnimmt und etwas damit macht, hält nichts weniger als eine Moralphilosophie in Händen: nicht Gerechtigkeit als normative Forderung, sondern ein administratives Minimum an Funktionsfähigkeit als Maßstab dessen, was die Republik noch als „unschädlich“ gelten lassen darf. Die Diversion ist damit nicht länger nur ein Instrument zur Strafverfahrensbeendigung — sie wird, in Halbigs Lesart, zum politischen Tuchladen: ein Ort, an dem man moralische Risse mit Geld flickt und das Ganze hübsch versäubert in der Hoffnung, dass niemand besser hinsieht.

Die Preisgestaltung des politischen Fehlverhaltens

Wenn eine Diversion eine Art Bußkasten für politisches Versagen ist, dann ist der Betrag, den man hineinwirft, plötzlich von höchster politischer Relevanz: er wird zum Kurs für das, was Gesellschaft bereit ist, als „vertretbares Fehlverhalten“ zu akzeptieren. Im Wöginger-Fall, so melden zahlreiche Medien, nahm der Beschuldigte das Angebot an — 44.000 Euro Geldbuße plus einen symbolischen Ersatzbetrag von 500 Euro an die benachteiligte Bewerberin — und die Sache schien für die politisch Verantwortlichen damit „erledigt“. Die Narration ist simpel und schmerzfrei: „Ich habe gezahlt, also ist es vorbei.“ Der politische Marktwert eines Amtsmissbrauchs lässt sich so, in einem Akt transaktionaler Pragmatik, in Euro und Cent ausdrücken; man zahlt und die Akte wird abgelegt. Wer an einem funktionierenden Rechtsstaat festhält, empfindet dabei ein leises, kontemplatives Erbleichen des Demokratiebegriffs.

Vom Abschreckungsversprechen zur Einladung zum Geschäft

Noch brisanter als die nackten Zahlen ist die richterliche Bemerkung, die in derselben Begründung auftaucht: bei rigoroser Verfolgung und Sanktionierung sei von einem „ausreichenden Abschreckungseffekt“ auszugehen. Das klingt auf dem Papier wie die gebotene Rechtspoesie eines Staatswesens, das sich selbst verteidigt — in der Realität aber liest sich diese Passage fast wie ein ironischer Werbespruch. Denn wenn die Diversion klein, schnell und kalkulierbar ist, dann mutiert Abschreckung zum Paradox: je billiger das Auskaufen, desto kleiner die Hemmschwelle, desto klarer die Einladung an jene, die Opportunitäten sehen. Die Logik ist perverse Ökonomie: Risiko durch Preis ersetzen, Strafe als Dienstleistung verkaufen, Moral in eine Option verwandeln. Und in diesen Offerten liegt ein weiteres Signal, das gerade all jene Politiker erreichen dürfte, die bisher vorsichtig waren: Wenn ihr erwischt werdet, könnt ihr euch freikaufen — und es ist überhaupt nicht teuer.

Die Republik als Kundin: Qualitätskontrolle light

Es hilft, die Sache einmal aus der Perspektive der Republik zu denken — nicht in pathosdurchtränkter Rhetorik, sondern nüchtern: staatliche Institutionen sind Systeme, sie haben Bedürfnisse nach Funktionstüchtigkeit, Reputation und Legitimität. Halbig scheint zu sagen: Die Funktion bleibt gewahrt, die Qualität leidet nicht in einem Maße, das einen „unmittelbaren Schaden“ rechtfertigt. Aber was heißt hier „unmittelbar“? Ist die Erosion an Vertrauen, das langsame Verschwinden des Gefühls, dass Entscheidungen meritokratisch und nicht klientelistisch fallen, kein Schaden? Vertrauen ist kein Konto, das man mit einem einmaligen Betrag auffüllt; Vertrauen ist ein Beziehungsgeflecht, das man über Jahre, gar Jahrzehnte, aufbaut — und es reicht eine Serie von kleinen Transaktionen, um es abzutragen. Die Diversion kann den unmittelbaren Verwaltungsbetrieb schützen, doch sie lässt die Republik in der Öffentlichkeit wie ein Kunde erscheinen, der mit einem Rabatt zufrieden ist, während im Hintergrund jemand das Regal mit den Normen umstellt.

Satire der kleinen Geste: Die symbolische Zahlung

Dass ein Symbolbetrag von 500 Euro an die übergangene Bewerberin gezahlt wird, verdient eine Fußnote der bitteren Ironie: Symbolik hat Tradition in der Politik; sie ist der Konfekt auf dem Kuchen unappetitlicher Realpolitik. Ein „symbolischer Betrag“ neben einer saftigen Geldbuße ist wie eine Theaterverbeugung nach einem Banküberfall: ja, es tut uns leid, schauen Sie nicht hin, hier ist ein Trostpflaster. Die Symbolik ist dabei nicht nur künstlerisch fragwürdig, sie ist funktional: sie erlaubt es dem Apparatchik, die Balance zu halten — das Gewissen gegenüber der Öffentlichkeit zu beruhigen, ohne die eigentliche Praxis zu ändern. In einer Welt, in der Politik zunehmend als Boutiquegeschäft fungiert, sind solche Gesten die Fensterdekorationen: hübsch anzusehen, ohne die Ware im Inneren zu verändern.

Die politische Sprache der Gleichgültigkeit

Die Reaktionen auf die Diversion lassen sich typologisch ordnen: die Regierungsparteien erklären, die Sache sei erledigt; die Opposition schäumt, die Zivilgesellschaft seufzt; Fachleute warnen vor einem Vertrauensverlust. All das ist vorhersehbar — und doch offenbart die ganze Choreographie etwas anderes: eine politische Sprache, die Gleichgültigkeit institutionalisiert. Wenn die mächtigen Parteien das Akzeptieren einer Diversion als Schlusspunkt feiern, dann sendet das ein Signal an das Publikum, das ihm sagt: Staatsräson ist nicht mehr das Ideal des öffentlichen Dienstes, sondern die Fähigkeit, Skandale administrativ zu neutralisieren. Damit wird die Verantwortung nicht aufgehoben, sondern in ein neues Gewand gesteckt: Verantwortung als Zahlungspflicht. Und dieses Gewand sitzt bequemer, als es klingen sollte.

Epilog — Eine kleine Gebrauchsanweisung der Gesellschaft

Was also tun, wenn Diversion zum Alltagsmittel der politischen Konfliktlösung wird? Zuerst: nicht in schocksterilisierter Entrüstung verharren. Entrüstung ist gut fürs Gute-Gewissen, schlecht fürs Handeln. Zweitens: Transparenz. Wenn Diversionen erteilt werden, müssen ihre Begründungen so nachvollziehbar, die Kosten so offengelegt und die Folgen so systematisch evaluiert werden, dass die Öffentlichkeit ihre eigene Rechnung ziehen kann — nicht nur eine monitäre, sondern eine reputative, institutionelle Bilanz. Drittens: Sanktionierung als Instrument demokratischer Bildung begreifen — nicht als bloße Kostenstelle. Wer Demokratie ernst nimmt, muss dafür sorgen, dass die Preise für Korruption und Günstlingswirtschaft so hoch werden, dass die Opportunität kein Geschäft mehr ist. Bis dahin aber bleibt der Wöginger-Fall ein Lehrstück: nicht nur über einen Mann, der zahlte, sondern über ein System, das eine geldwerte Lösung der Rechtsfrage vorzieht. Und das ist, wenn man es nüchtern betrachtet, weit weniger eine juristische Entscheidung als eine politische Wahl — eine Wahl zugunsten der Kurzfristigkeit, gegen die Langfristigkeit der demokratischen Kultur.

Die Komplexität des Problems

1. Die Euphemismus-Fabrik

„Die Komplexität des Problems“ – welch geniale Erfindung der politischen Rhetorik! Übersetzt: Wir haben keine Ahnung, wie wir etwas lösen könnten, und noch weniger den Willen, es zu ändern, obwohl wir vorher großspurig das Gegenteil versprochen haben. Diese Phrase ist das Schweizer Taschenmesser des politischen Entertainments: sie zerschneidet Debatten, bindet Verantwortung in rhetorische Schleifen und verwandelt Untätigkeit in intellektuelle Hochkunst. Bürgerinnen und Bürger, geblendet von der Eleganz der Formulierung, nicken höflich, während Heizkosten und Strompreise die eigene Haushaltskasse ausbluten lassen.

2. Sanktionen: Moralischer Selbstmord in Zeitlupe

Europa inszeniert Sanktionen als moralischen Hochsprung in die Geschichte – tatsächlich ist es ein Selbstmord auf Raten mit Champagner. Wir ersticken unsere Industrie, frieren unsere Bürger ein und importieren gleichzeitig teures US-Fracking-Gas, während Russland in Rubel lacht und Amerika Uran einkauft. Die Phrase „komplex“ deckt das ganze Theater ab: moralische Selbstkasteiung wird als strategische Brillanz verkauft, während wir uns selbst strangulieren und die Bühne für andere bereiten.

3. Die EU: Theater, Kulisse und Marionetten

Die EU-Kommission hat das Einstimmigkeitsprinzip elegant umgangen. Euphemistisch als Effizienz deklariert, in Wahrheit ein Akt der Selbstschädigung. Wir opfern ökonomische Interessen, um symbolische Gesten zu feiern, die den Krieg kaum berühren, dafür unsere Wirtschaft aber gründlich demolieren. Die Bühne ist perfekt: wir sind die moralisch erhobene Faust, die gleichzeitig die eigene Industrie erdrosselt. Europa tanzt einen grotesken Walzer, applaudiert von Zuschauern, die inzwischen erkennen, dass sie selbst zahlen – für das Theaterstück, das ihnen aufgezwungen wird.

4. Außenpolitik: Tanz auf dem Vulkan

Donald Tusk weigert sich, Terrorverdächtige auszuliefern, während der Bundeskanzler schweigt. Die Ukraine erhält Waffen, unsere Infrastruktur wird bedroht, und die Phrase „Komplexität“ fungiert als Tarnkappe für politisches Wegducken. Übersetzt: Wir haben beschlossen, keine unpopulären Entscheidungen zu treffen, aber so zu tun, als handle Europa mit höchster Vernunft. Das politische Theater gleicht einer grotesken Oper, in der jeder Auftritt ein Schlaglicht auf die Absurdität wirft, während das Publikum die Rechnungen zahlt.

5. Nord Stream 2: Die Röhre der Träume

Die intakte Nord-Stream-2-Röhre liegt da wie eine verpasste Chance. Sie hätte Europa Einfluss zurückgeben können, stattdessen entscheiden wir uns für moralische Perfektion über pragmatische Vernunft. „Komplexität“ wird zum rhetorischen Schutzschild: Wir könnten, aber wir wollen nicht; wir müssten, aber wir fürchten die Konsequenzen. Europa tanzt weiter den langsamen Todstanz – scheinbar anmutig, tatsächlich aber im Strudel der Selbstschädigung gefangen.

6. Energiepreise, Reallöhne, Moral und Theater

Jede Diskussion über Energiepreise wird mit „zu komplex“ abgebügelt. Die Industrie ächzt, Bürger frieren, Reallöhne schmelzen wie Eis in der Sonne, und doch klingt es in offiziellen Statements nach sorgfältiger Planung. Sanktionen, Importverbote, geopolitische Manöver – alles Kulisse für ein Theaterstück, das uns moralisch erhoben, ökonomisch aber verwundet zurücklässt. Die Phrase „Komplexität“ dirigiert die Farce, ein rhetorisches Pendel zwischen Zynismus und Ironie.

7. Diplomatie und Doppelmoral

Wir tragen die moralische Weste, während Amerika Uran importiert, Russland Krieg in Rubel finanziert und wir die eigenen Taschen leeren. Die diplomatische Kunst wird zum Jonglierakt auf einem Drahtseil – jeder Schritt eine Pose, jeder Schritt ein Fauxpas. Die Phrase „Komplexität“ ist der Taktstock, der die groteske Choreographie dirigiert. Moralisch erhoben, ökonomisch geschwächt, diplomatisch eingeschränkt – ein Tanz der Doppelmoral.

8. Politiker, Phrasen und Panikmache

Vor der Wahl großspurig, nach der Wahl komplex: Nichts wird gelöst, alles maskiert. Bürgerinnen und Bürger lernen, politische Sprache zu übersetzen: „Die Komplexität des Problems“ = Wir lehnen uns zurück, genießen unsere Bequemlichkeit und hoffen, dass niemand merkt, dass wir versagt haben. Ein triumphaler Akt der Ironie, fast poetisch in seiner Bitterkeit. Jede Phrase, jedes Statement, jede Pressekonferenz: ein kabarettistisches Meisterwerk der Verantwortungslosigkeit.

9. Epilog: Ironie, Humor und das letzte Lächeln

Europa tanzt weiter, ein Ballett aus Schweigen, Theater und rhetorischen Schleiern. „Die Komplexität des Problems“ ist nicht nur ein Euphemismus, sondern ein Kunstwerk der Selbsttäuschung: charmant formuliert, hochtrabend, aber letztlich ein Akt der Selbstverliebtheit. Wer den Code kennt, schmunzelt; wer ihn nicht kennt, friert – finanziell, moralisch und metaphorisch. Und für all das: bitte, nichts zu danken. Wir haben immerhin gelernt, Verantwortung elegant in Worte zu kleiden, die nach Intellekt riechen, während wir den Preis in Euro, Moral und Einfluss zahlen.

Widerstand! Aber bitte nur gegen das Richtige.

Wien also. Wo sonst. Wo das Pathos der Empörung und der Rotwein im Plastikbecher sich die Hand geben, um gemeinsam den Kapitalismus, die Bourgeoisie, die falsche Toleranz und – nicht zu vergessen – den Zionismus zu bekämpfen. Dort also ruft Milo Rau, der künstlerische Chefrevoluzzer im Designerrollkragen, die Kunst zum „Widerstand“ auf. Ein schönes Wort, „Widerstand“. Es klingt nach weißen Rosen, nach Stauffenberg, nach heimlich vervielfältigten Flugblättern im Treppenhaus. Nur, dass diesmal der Feind kein Diktator, sondern ein demokratisch gewählter jüdischer Premierminister ist. Fortschritt, so könnte man sagen, bedeutet heute, dass man denselben moralischen Überschwang wie 1944 verspürt – bloß ohne Risiko.

Denn der neue Widerstand braucht keine Kellerverstecke, keine Druckerpresse, keine Gestapo im Nacken. Es reicht ein Aufruf auf einer Webseite, die vermutlich mehr Metadaten sammelt als jedes Geheimdienstarchiv. Der Mutige von heute riskiert höchstens einen Shitstorm von Leuten, die schon seiner Meinung sind. Und so steht Milo Rau also da, im intellektuellen Halbschatten zwischen Theater und Theologie, und ruft die Kunst zum Erwachen auf – ausgerechnet jene Kunst, die seit Jahrzehnten nichts anderes tut, als wach zu sein, wenn es gegen Israel geht.

Das große Schweigen, das so laut schreit

„Die Kunst darf nicht länger schweigen!“ ruft Rau. Man möchte ihm einen Hörtest spendieren. Denn das Schweigen, von dem er spricht, existiert nur in seiner moralischen Akustikfantasie. Die Juden Europas, deren Kinder in Schulen nicht mehr den Davidstern tragen, weil sie sonst zusammengeschlagen werden könnten, kennen kein Schweigen – sie kennen das Dröhnen der Parolen. Das infernalische Getöse der Demonstrationen, die sich als Solidarität tarnen und doch nur altes Ressentiment in neuer Verpackung verbreiten.

„From the river to the sea“ skandieren sie, während die Polizei danebensteht und prüft, ob das juristisch schon Völkermord ist oder noch „Meinungsfreiheit“. Und Milo Rau? Der hört nichts davon. Er lauscht auf andere Frequenzen. Auf die „linguistischen Spielereien“ derjenigen, die darauf hinweisen, dass Begriffe wie „Genozid“ vielleicht ein wenig inflationär verwendet werden. Denn in der Welt der moralischen Großproduktion zählt nicht die Präzision, sondern die Pose.

So vergleicht Rau das vermeintliche Schweigen zur israelischen Politik mit dem Schweigen zur Schoah. Ein rhetorischer Trick, der so alt ist, dass man ihm fast wieder Charme zusprechen möchte, wäre er nicht so infam. Die Gleichsetzung des Überlebensstaates der Juden mit dem Vernichtungsprogramm ihrer Mörder – das ist kein Irrtum, das ist Stilmittel. Ein dramaturgischer Kniff, der funktioniert, weil er das Publikum dort packt, wo es am liebsten leidet: am eigenen Schuldgefühl.

Der Luxus der moralischen Entrüstung

Es ist leicht, sich empört zu geben, wenn die Konsequenz der Empörung nichts kostet. Das Feuilleton applaudiert, die Szene nickt, die Einladungen zu Podiumsdiskussionen trudeln ein. „Mutig“ nennt man das dann. Mutig, so wie es mutig ist, in Wien gegen Israel zu sein – ungefähr so riskant wie in Teheran gegen die USA.

Die Pose des Künstlers als Prophet ist verlockend, weil sie Erlösung ohne Erkenntnis verspricht. Der neue Widerstand ist vor allem ein Ritual. Er wäscht die Hände rein mit dem Wasser der Empörung. Dass dabei das jüdische Leben in Europa zur Collateralschuld wird, ist Nebensache. Vielleicht auch eine notwendige Unannehmlichkeit auf dem Weg zur moralischen Läuterung.

Man kann es beinahe sehen: die Sektgläser im Pausenraum, die aufgeweckte Kulturszene, die sich gegenseitig für ihre „differenzierte Kritik“ beglückwünscht. Differenziert, weil sie sich nicht mit Fakten, sondern mit Gefühlen beschäftigt. Man „fühlt“ sich solidarisch mit den Unterdrückten, auch wenn man die Unterdrücker dabei verwechselt.

Von Ureinwohnern, Ursprüngen und Ur-Irrtümern

Und dann, im zweiten Teil des Dramas, wird es ethnologisch. Da treten plötzlich jene auf, die glauben, die Geschichte des Nahen Ostens beginne mit der Erfindung des Begriffs „Palästinenser“. Menschen, die an DNA-Tests glauben, solange diese ihre eigene Identität bestätigen, und sie für israelische Propaganda halten, sobald sie etwas anderes zeigen.

Man erklärt uns also, die Palästinenser seien „die Ureinwohner“. Ein Begriff, der in Europa sofort alle reflexhaften Schuldrezeptoren aktiviert. „Ureinwohner“ – das klingt nach Kolonialismus, nach Gerechtigkeit, nach Häuptling und Trommel. Man übersieht dabei geflissentlich, dass diese Erzählung historisch ungefähr so tragfähig ist wie ein IKEA-Regal im Erdbebengebiet.

Denn wer genau soll das sein, dieser „Ureinwohner“? Der Ägypter aus Gaza, der Syrer aus Hebron, der Libanese aus Nablus? Es ist eine faszinierende Leistung des 20. Jahrhunderts, aus einem geographischen Adjektiv – „palästinensisch“ – eine nationale Identität zu destillieren. Ein Identitätskonzentrat, das heute in jedem Diskurs als moralischer Klebstoff dient.

Doch in Wahrheit ist das, was man „Palästina“ nennt, seit Jahrtausenden eine Durchgangszone, ein archäologisches Palimpsest aus Sprachen, Göttern und Eroberern. Juden, Griechen, Römer, Araber, Kreuzfahrer, Osmanen, Briten – ein Stammbuch der Geschichte. Wer hier von „Ureinwohnern“ spricht, sollte auch erklären, wer die „Einwohner zweiter Generation“ waren.

Die Ironie der Geschichte

Ironischerweise zeigt sich gerade in dieser Dauerverwirrung, wie erfolgreich die römische Politik war, die Region nach den Feinden der Juden zu benennen. „Syria Palaestina“ sollte das jüdische Erbe tilgen – und siehe da: zweitausend Jahre später zitieren westliche Akademiker diesen Namen, um den Juden ihr Land abzusprechen. Die Antike hätte ihre helle Freude an dieser Tragikomödie der Wiederholungen.

Die Philister, auf die sich „Palästina“ ursprünglich bezieht, waren übrigens keine Araber, sondern Griechen. Aber das stört niemanden. Geschichte wird heute nicht mehr gelesen, sondern gefühlt. Und Gefühle sind bekanntlich der effizienteste Ersatz für Wissen.

Ein Volk, das keines war – und jetzt eines ist

Niemand bestreitet das Recht der Palästinenser, sich als Volk zu definieren. Völker entstehen nicht durch DNA, sondern durch gemeinsame Erzählung. Aber es ist eine bittere Ironie, dass gerade jene, die dieses Konstrukt so vehement verteidigen, anderen das Recht auf nationale Identität absprechen – den Juden.

Das Narrativ der „Ureinwohnerschaft“ ist kein historisches, sondern ein politisches Werkzeug. Es dient dazu, Besitzverhältnisse umzukehren, Schuld umzuverteilen, und Geschichte zur Waffe zu machen. Es ist, als wolle man die Landkarte der Antike mit den Maßstäben des postkolonialen Seminars korrigieren.

Dass viele Palästinenser Familiennamen tragen, die schlicht „der Ägypter“, „der Syrer“ oder „der Jemenit“ bedeuten, stört den Diskurs wenig. Denn Diskurse haben keine Gedächtnisse, sie haben nur Überzeugungen.

Das moralische Perpetuum mobile

Was bleibt also von all dem Pathos? Ein kulturpolitisches Perpetuum mobile, angetrieben von Schuld, gespeist von Ignoranz, und geschmiert von Eitelkeit. Die Kunst, die angeblich aufhören soll zu schweigen, schreit längst – nur in die falsche Richtung.

Statt Differenzierung herrscht Deklamation. Statt Erkenntnis – Erregung. Und während die Feuilletons über „Dekolonialisierung“ philosophieren, müssen jüdische Kinder in Europa überlegen, ob sie ihren Namen nennen dürfen.

Man könnte es zynisch nennen. Oder einfach: konsequent. Denn die europäische Kultur hat eine lange Tradition darin, das Jüdische erst zu verehren, dann zu verjagen, und schließlich im Nachhinein wieder zu verklären – solange es nicht stört.

Schluss mit lustig? Aber natürlich nicht.

Die Tragödie hat längst den Charakter einer Komödie angenommen. Eine Farce, in der die Moral die Hauptrolle spielt, aber niemand den Text versteht. Der Intendant ruft zum Widerstand, das Publikum klatscht, und irgendwo dazwischen geht das, was einmal Wahrheit hieß, leise von der Bühne ab.

Doch keine Sorge: Es wird weiter Widerstand geben – gegen das Falsche, versteht sich. Gegen Komplexität. Gegen Zweifel. Gegen die Zumutung, dass Israel nicht die Metapher für europäische Sünden sein will.

Und am Ende, wenn der Applaus verhallt ist, bleibt vielleicht ein einziger Gedanke:
Die Kunst soll nicht schweigen, gewiss. Aber manchmal wäre ein Moment des Nachdenkens lauter als jedes Manifest.

Die Entdeckung der Ureinwohnerschaft durch den modernen Städter

Ein satirischer Leitfaden zur archäologischen Selbstfindung

Neulich erklärte mir ein junger Mann mit Che-Guevara-T-Shirt und MacBook, er fühle sich den „Ureinwohnern Palästinas“ tief verbunden.
Ich fragte höflich, ob er schon einmal dort gewesen sei.
„Nein“, sagte er, „aber ich habe Gefühle.“

Nun ja. Gefühle sind ja das neue Wissen. Früher musste man noch Bücher lesen, heute reicht Empörung. Und kaum jemand ist so gründlich empört wie der westliche Intellektuelle, der sich als Verteidiger der „Ureinwohner“ entdeckt.

Das Problem ist nur: Die vermeintlichen Ureinwohner wissen gar nicht, dass sie welche sind. Und die, die es wissen, wissen nicht, woher sie kommen.

Der Name, der vom Himmel fiel (bzw. von Kaiser Hadrian)

Beginnen wir mit einer kleinen Anekdote aus dem Jahre 135 nach Christus – das war noch vor Twitter.
Ein römischer Kaiser namens Hadrian, dem man wegen eines gewissen jüdischen Aufstandes die Laune verdorben hatte, beschloss: Wenn die Juden sich nicht benehmen, dann nennen wir ihr Land einfach um!

Das war sozusagen die erste historische „Cancel Culture“.
Aus „Judaea“ wurde „Syria Palaestina“ – benannt nach den Philistern, die ihrerseits aus dem griechischen Raum kamen. Also: Griechen taufen ein jüdisches Land nach einem untergegangenen Volk, und 1900 Jahre später erklären sich arabische Nachfahren zu dessen „Ureinwohnern“.
Wenn das kein Weltkulturerbe des Missverständnisses ist!

Seitdem klebt der Name „Palästina“ an allem, was zwischen Mittelmeer und Jordan atmet, egal ob Jude, Grieche, Türke oder Beduine. Ein geographisches Sammelsurium, in dem sich alles und jeder tummelte – nur kein homogenes „Volk Palästina“.

Die Geburt des Palästinensers aus dem Geiste der Bürokratie

Bis ins 20. Jahrhundert hinein war „Palästinenser“ ein geografischer Begriff. So wie „Bayer“, „Sauerländer“ oder „Wiener“ – wobei der Wiener ja bekanntlich kein Volk, sondern ein Zustand ist.

Dann kam die PLO, und man dachte sich: Wir brauchen ein Volk, das uns gehört!
Also wurde beschlossen, dass alle Muslime, die nicht in Israel leben, ab sofort „Palästinenser“ heißen.
Einfach, oder? So erschafft man Identität: per Dekret.

Man stelle sich vor, jemand gründet morgen die „Organisation zur Befreiung von Oberbayern“ und erklärt alle Münchner zu einem unterdrückten Urvolk. Ich bin sicher, Brüssel würde binnen 48 Stunden Solidarität bekunden.

Die DNA – das unbestechliche Orakel

In Zeiten, in denen jeder seine Identität aus dem Reagenzglas zieht, wird natürlich auch die DNA befragt.
Und sie antwortet, wie immer, trocken und unbeeindruckt: „Palästinenser? Nie gehört.“
Stattdessen meldet sie: Ägypten, Syrien, Irak, Marokko. Eine Art arabische UNESCO-Konferenz im Blutbild.

Das ist schön, zeigt es doch, wie bunt diese Region immer war. Aber Vielfalt ist in identitätspolitischen Kreisen leider ein Makel. Man möchte lieber „rein“ sein – kulturell natürlich, nicht hygienisch.

Ein wütender TikTok-Kommentator erklärte mir einmal, das sei alles eine jüdische DNA-Verschwörung. Ich gratulierte ihm zu seiner Originalität – solche Ideen hatten wir schon in den 30er-Jahren, bloß in anderer Besetzung.

Der Staat, den es nie gab

Man fragt sich: Wenn Palästina wirklich ein uralter Staat war, warum taucht er dann auf keiner Karte auf – nicht einmal auf den osmanischen?
Vielleicht, weil es ihn nicht gab.

Die Region war 400 Jahre lang ein osmanischer Verwaltungsdistrikt – ungefähr so individuell wie eine Filiale der Finanzbehörde. Kein Staat, keine Grenzen, keine Hymne, keine Briefmarke. Nur Menschen, die dort lebten.

Erst als Israel gegründet wurde, entdeckte man plötzlich das Konzept des „palästinensischen Volkes“. Offenbar braucht man manchmal einen Feind, um eine Identität zu finden.

Der Westen und seine sentimentale Kolonialromantik

Nun könnte man das alles mit Humor nehmen, wenn nicht ausgerechnet die Europäer, die einst den halben Globus kolonisierten, sich nun als Anwälte der „Ureinwohner“ aufführen würden.
Man hat ja sonst nichts mehr zu kolonisieren – also kolonialisiert man jetzt moralisch.

Im Berliner Café diskutieren dann Soziologiestudentinnen über „die indigene palästinensische Erfahrung“, während sie Soja-Latte trinken, der übrigens aus Südamerika stammt.
Der moderne Gutmensch liebt das Exotische – solange es weit weg bleibt und sich dankbar opfern lässt.

Die vier Fragen zum Selbsttest

Wenn also das nächste Mal jemand behauptet, die Palästinenser seien die „Ureinwohner“ des Landes, probieren Sie diesen einfachen Test:

  1. Wie heißen sie selbst?
    (Antwort: Sie wissen’s nicht, sie sagen „Falestine“, weil’s kein P im Arabischen gibt.)
  2. Seit wann heißen sie so?
    (Seit etwa 50 Jahren. Früher hießen sie Jordanier, Syrer, Ägypter oder einfach „Menschen“.)
  3. Was sagt ihre DNA?
    (Sie sagt: „Verwechslungsgefahr mit sämtlichen Nachbarn!“)
  4. Gab es je einen Staat Palästina?
    (Nein. Nur Land, Leute und jede Menge Kaiser, Kalifen und Kolonialbeamte.)

Wenn Ihr Gesprächspartner daraufhin errötet, Hände ringt und von „westlicher Schuld“ zu sprechen beginnt – gratuliere! Sie haben das Level „Historische Realität“ erreicht.