Antifaschistischer Schutzwall 2.0

Niemand hat die Absicht, eine Brandmauer zu bauen

Es gibt in der Geschichte der deutschen Sprache Formulierungen, die in ihrer Durchschlagskraft beinahe politisches Sprengstoffpotenzial besitzen. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ ist eine davon. Walter Ulbrichts denkwürdiger Satz, gesprochen wenige Wochen vor dem Bau der Berliner Mauer, war eine der dreistesten, unfreiwillig komischen und zugleich tragischsten politischen Nebelkerzen des 20. Jahrhunderts. Heute, im 21. Jahrhundert, erleben wir eine Neuauflage dieses Phänomens, allerdings in semantischer Feinkostform: „Brandmauer“ heißt das neue Zauberwort, das in politischen Debatten mit der Frequenz eines Werbeslogans fällt. Doch wogegen richtet sich diese Brandmauer, wer baut sie, warum wird sie erbaut – und wer hat selbstverständlich „niemals die Absicht“, sie zu errichten?

Der Bauplan: Wer die Brandmauer zieht, bestimmt den Diskurs

Die Brandmauer gegen rechts, so das offizielle Label, soll eine Schutzfunktion haben. Wie ein Bollwerk gegen die braunen Fluten wird sie beschworen, gerühmt, verteidigt und gelegentlich notgedrungen ein kleines Stück eingerissen, um dann mit großem Pathos wieder hochgezogen zu werden. Sie ist mal stabil, mal porös, manchmal mit Gucklöchern versehen, je nachdem, welcher Politiker gerade mit wem in welchem Hinterzimmer spricht. Und dann die ganz entscheidende Frage: Wer bestimmt eigentlich, wo diese Brandmauer verläuft? Wer hat das Lineal in der Hand und zieht rote Linien? Die Antwort: diejenigen, die sich als moralische Oberbaumeister des politischen Diskurses sehen. Ein diffuses Gremium aus Parteifunktionären, Journalisten, Talkshow-Moderatoren und Twitter-Influencern.

Materialermüdung: Wenn Brandmauern löchriger werden

Doch es gibt ein Problem mit dieser Brandmauer: Sie zeigt Anzeichen von Materialermüdung. Zu oft schon wurde sie zweckmäßig verschoben, zu oft schon wurde jemand an den Pranger gestellt, der gestern noch als diskursfähig galt, und zu oft schon wurde sie taktisch gesenkt, um plötzlich mit anderen Akteuren „pragmatisch“ zusammenzuarbeiten. Der tragikomische Effekt: Während sie immer wieder errichtet wird, bröckelt sie im nächsten Moment an unerwarteter Stelle. Fast so, als wäre sie gar keine Mauer, sondern ein taktisch einsetzbarer Sichtschutz.

TIP:  Eine perfekte Tarnung

Wer zu oft „Brand!“ ruft, wird irgendwann nicht mehr ernst genommen

Ein weiteres Problem: Wer den Begriff „Brandmauer“ inflationär nutzt, beraubt ihn seiner Wucht. Wenn alles „rechts“ ist, dann ist am Ende nichts mehr wirklich rechts. Wenn jeder, der nicht in das enge Raster des tagespolitischen Mainstreams passt, zur Gefahr erklärt wird, dann verliert die Warnung ihre Bedeutung. Genau das erleben wir derzeit. Wo einst handfeste Definitionen für extremistische Positionen galten, wird heute nach Belieben erweitert, umdefiniert und auf den neuesten Feind projiziert. Das Ergebnis? Die eigentlichen Gefahren werden unsichtbar.

Die unfreiwillige Neuauflage

Und damit sind wir wieder bei Walter Ulbricht und seiner historischen Nebelkerze. Denn genau wie damals gibt es auch heute Menschen, die versichern: „Niemand hat die Absicht, eine Brandmauer zu errichten.“ Doch plötzlich ist sie da. Und sie wird höher und höher gezogen. Doch wer einmal eine Mauer baut, kann nicht verhindern, dass sie eines Tages gegen ihn selbst verwendet wird. Die Brandmauer 2.0 droht zum politischen Bumerang zu werden – mit der bitteren Ironie, dass die Bauherren von gestern die Eingemauerten von morgen sein könnten.

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