Zu Beginn war das Papier – und das Papier war heilig
Man könnte meinen, Österreich habe eine neue Lieblingsbeschäftigung entdeckt: die Wiederbelebung antiker Textformen. Während andere Länder sich mit der Digitalisierung abmühen oder mit der Frage ringen, wie künstliche Intelligenz ethisch einzubetten sei, widmet sich die Alpenrepublik hingebungsvoll der Schriftkultur. Nicht irgendeiner, wohlgemerkt. Nein, es geht um Gebote. Zehn an der Zahl. Eine runde, überschaubare, theologisch bewährte Menge. Und weil Moses damals schon wusste, dass so ein Dekalog ganz schön Eindruck macht, schickt man ihn heute Migranten hin – ohne Sinai, aber mit Kugelschreiber aus dem Gemeindeamt. Ein feierlicher Akt der Integration, eine Art säkularer Konfirmation. Die Unterschrift darunter, so scheint man zu hoffen, werde jene innere Verwandlung auslösen, die weder Unterricht noch Begegnung, weder Sozialarbeit noch Bildung so richtig zu schaffen scheinen. Der Glaube an die Kraft des Formulars ist in Österreich eben ungebrochen. Und wenn der Amtsschimmel wiehert, dann doch bitte im Dreivierteltakt.
Österreich und seine Tendenz, Probleme in Formulare einzubalsamieren
Österreich liebt es, die Realität in bürokratische Mumienbinden einzuwickeln, damit sie nicht zu sehr herumzappelt. Ein Formular ist hier nicht bloß ein Formular. Es ist eine Art metaphysisches Werkzeug, ein nationales Beruhigungsmittel. Ein Faltenwurf der staatsbürgerlichen Seele. Man könnte fast meinen, die Republik vertraue mehr auf die Selbstverpflichtungserklärung eines frisch angekommenen Menschen als auf das eigene Integrationssystem. Warum mühsam Strukturen verbessern, wenn man stattdessen unterschreiben lassen kann, dass sie funktionieren? Ein genialer Kniff. Die Unterschrift wird zum magischen Amulett: Ein Migrant, der im Kugelschreiber-Ritus geläutert wurde, kann – so die Hoffnung – künftig weder die Würde anderer verletzen noch die Straßenverkehrsordnung. Die Welt, ach, könnte so einfach sein.
Die Kunst des „Sich-auf-dem-Papier-gut-Führens“
Natürlich haben diese Gebote einen pädagogischen Kern. Man will Werte vermitteln, Orientierung geben, Grenzen setzen. Alles löblich. Doch wie so oft wird aus der guten Absicht ein administratives Kabarettstück. Die Erwartung, dass ein Mensch allein durch seine Unterschrift auf einem höflich tönenden Papier tatsächlich sein Verhalten im Alltag ändert, ist ungefähr so realistisch wie die Hoffnung, dass jemand durch das Lesen einer Fitnessstudio-Broschüre automatisch einen Sixpack bekommt. Doch die Politik – ein Fachbetrieb für symbolische Verrichtungen – liebt solche Maßnahmen. Sie sind sichtbar, kosten relativ wenig, erzeugen das Gefühl von Ordnung.
Die moralische Garderobe: Werte zum Überziehen
Was besonders amüsant ist: Diese Zehn Gebote klingen ein wenig wie der Versuch, eine ganze Gesellschaft auf einen DIN-A4-Bogen zu reduzieren. „Frauen und Männer gleich behandeln.“ Sicher, warum nicht gleich noch: „Wasser trinken, wenn man Durst hat“?
„Österreichs Werte und Traditionen respektieren und leben“, heißt es im Manifest. Ein Satz, der gleichzeitig klar und unfassbar schwammig ist. Denn welche Traditionen meint man? Integration funktioniert am besten, sagt man, wenn man die Traditionen lebt. Aber was, wenn die Traditionen Urlaub genommen haben? Dann lernt man eben den Tanz auf leerem Parkett.
Ein Glaube an die magische Wirkung der Unterschrift
Und am Ende steht: „Ein Glaubensbekenntnis zu unterschreiben, ersetzt Bringschuld sich tatsächlich so zu verhalten.“ Ein Satz, der im Grunde die gesamte Maßnahme, charmant und entlarvend zugleich, zusammenfasst. Man weiß ja selbst, dass es Unsinn ist. Eine Unterschrift bringt keine Wunder hervor, sie ändert keinen Charakter, sie formt keine Werte. Aber sie gibt das beruhigende Gefühl, etwas getan zu haben – und dieses Gefühl ist in der Politik manchmal wertvoller als jede tatsächliche Verbesserung. Der bürokratische Glaube an die reinigende Kraft des Kugelschreibers ist ein österreichisches Sakrament. Der charmante Selbstbetrug gehört dazu. Und so vertraut man darauf, dass das alles irgendwie „sicher, ganz sicher, garantiert“ wirken wird. Zumindest wirken, im Sinne von: nach außen wirken.
Eine Art göttliche Bürokratie, die den Himmel verspricht – und die Hölle der tatsächlichen Integrationsarbeit sanft beschweigt.