Am Rande des Weltgewissens: Der vergessene Völkermord an den Jesiden

Die Chronik des Desinteresses

Der 3. August ist kein Feiertag. Er ist kein Tag, an dem man mit Picknickdecke und Kartoffelsalat ins Freie zieht. Kein Tag, an dem Supermärkte Blumenaktionen fahren oder mediale Countdown-Uhren auf Null ticken. Der 3. August ist ein Tag, an dem sich – weitgehend unbemerkt vom globalisierten Dauerfeuer der Empörungsschleifen – ein Datum jährt, das nach Hall schreit und Echo sucht, jedoch nur im Geröll der Nachrichtenflut verschüttet wird: der Beginn des Völkermords an den Jesiden durch den sogenannten Islamischen Staat im Jahr 2014.

Elf Jahre ist es her, dass Männer enthauptet, Frauen versklavt, Kinder verschleppt wurden. Nicht irgendwo in einem abstrakten Raum des Schreckens, sondern im nordirakischen Sindschar-Gebirge, einem Ort, der seither ein Synonym geworden ist für das Versagen der Menschheit, wenn es darauf ankommt. 2.700 Frauen und Kinder gelten weiterhin als vermisst – eine Zahl, die längst zu einer Fußnote der Weltpolitik verkommen ist, eine Ziffer in einem UN-Bericht, die zwischen „Klimakrise“ und „Künstlicher Intelligenz“ auf Seite 37 versickert.

Die Verhältnismäßigkeit der Aufmerksamkeit – oder: Warum Britney Spears’ Instagram mehr Schlagzeilen macht als die jesidischen Überlebenden

Was darf Aufmerksamkeit kosten? Was ist ein Menschenleben wert, wenn es nicht photogen, viral oder geopolitisch nützlich ist? In einer Welt, in der das Mitleid binnen 24 Stunden auf TikTok tanzen muss, um Relevanz zu behalten, haben die Jesiden verloren. Nicht nur ihre Angehörigen, ihre Dörfer, ihre Unversehrtheit. Sondern auch das unsichtbare Siegel dessen, was man „zivilisatorisches Minimum“ nennen könnte. Denn wer nicht sichtbar ist, dem wird nicht geholfen. Und wer nicht schreit, dem wird nicht zugehört. Die Jesiden haben geschrien. Doch unsere Ohren waren voller anderer Geräusche: Likes, Aktienkurse, Wahlkampfrhetorik, Influencerdramen.

Der Täter ist verschwunden, das Verbrechen bleibt

Der IS mag territorial besiegt sein, die Kalaschnikows verstummt, die schwarzen Fahnen eingerollt. Doch wie jeder gut gebaute Alptraum wirkt auch dieser nach. Die Strukturen der Gewalt, die Traumata, das Netz aus Angst und Stigma – sie sind geblieben. Wie ein Ölfleck im kollektiven Bewusstsein, das sich nicht entschließen kann, ob es überhaupt betroffen sein will. Der Täter hat sich entmaterialisiert, transformiert in Schatten, Zellen, Parolen. Die Tat jedoch lebt weiter in jedem jesidischen Kind, das seine Mutter sucht, in jeder Frau, die zu „Beute“ erklärt wurde – ein Wort, das nicht aus dem Mittelalter stammt, sondern aus der Rechtsprechung des Kalifats von gestern.

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Moral als saisonales Angebot: Der westliche Blick und seine Halbwertszeit

Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, das sich wiederholt, in immer neuen Variationen: Der Westen entdeckt eine Katastrophe, ist erschüttert, sendet Delegationen, organisiert Gedenkveranstaltungen mit exakt austarierter Betroffenheitsmimik, legt Kränze mit strategisch fotografierbaren Schleifen nieder – und wendet sich dann wichtigeren Dingen zu. Wahlumfragen. Haushaltspolitik. Der neuesten Netflix-Serie. Die Moral ist verfügbar, aber leider nicht vorrätig. Oder nur noch in Restbeständen.

Was dabei übersehen wird: Die Jesiden brauchen keine Lippenbekenntnisse. Sie brauchen Gerechtigkeit. Reparationen. Sichtbarkeit. Eine internationale Gerichtsbarkeit, die den Begriff Völkermord nicht inflationär gebraucht, sondern endlich justiziabel macht. Die Möglichkeit, sich als Subjekt zu begreifen, nicht nur als Objekt humanitärer Folklore.

Zynismus ist der letzte Schutzmantel der Wahrheit

Ja, man darf zynisch sein. Man muss es sogar, wenn man den Irrsinn dieser Welt nicht nur aushalten, sondern benennen will. Wenn ein Krieg mehr Sendezeit bekommt, weil er geografisch näher an einem Gasanschluss liegt, als einer, der ethnisch motivierten Genozid betreibt, dann ist Zynismus die einzig logische Reaktion. Wenn eine befreite jesidische Frau nach elf Jahren der Versklavung zwar als „breaking news“ kurz aufflackert, aber nicht einmal einen ministeriellen Akt der Würdigung erfährt, dann ist Ironie kein Stilmittel mehr, sondern Selbstschutz vor der Ohnmacht.

Kein Vergessen ist nicht genug

„Kein Vergessen!“ ruft es aus den wenigen Stimmen, die sich heute noch mit dem Schicksal der Jesiden befassen. Aber es reicht nicht, sich zu erinnern, wenn das Erinnern keine Konsequenz hat. Erinnern muss wehtun. Es muss handeln wollen. Es muss die eigene Bequemlichkeit stören. Sonst ist es sentimentaler Stillstand. Die Jesiden brauchen nicht unser Mitleid, sondern unsere Verantwortung. Sie sind kein Mahnmal – sie sind Menschen. Lebendig, verletzlich, voller Geschichten, die weitererzählt werden müssen – nicht als Tragödien, sondern als Zeugnisse eines Widerstandes gegen das Vergessen, gegen das Schweigen, gegen die Gleichgültigkeit.

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Epilog: Ein Gebirge voller Stimmen

Das Sindschar-Gebirge schweigt nicht. Es ist voller Stimmen, auch wenn sie nur flüstern. In jeder verscharrten Leiche, in jeder überlebenden Frau, in jedem Kind, das mit zwei Namen lebt – dem gegebenen und dem gestohlenen. Wer hinhört, wird sie hören. Und wer sie hört, kann nicht mehr schweigen.

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