Vom „Anderl von Rinn“ zum „Mohammed von Gaza“

Die antisemitische Kindermordlegende im modernen Gewand

Es ist eine der sonderbaren Konstanten der Menschheitsgeschichte, dass Gerüchte länger leben als ihre Urheber – und oft sogar länger als deren Urenkel. Manche Lüge wird mit solcher Inbrunst erzählt, dass sie sich, Generation für Generation, wie ein besonders zäher Familienfluch vererbt. Der „Anderl von Rinn“, jener fiktive Tiroler Knabe, dessen angebliche Ermordung durch „die Juden“ im Jahr 1462 bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kirchenfenstern, Andachtsbildern und Wallfahrten verewigt wurde, ist ein Paradebeispiel. Nicht weil sein Schicksal real gewesen wäre – es war so real wie Rotkäppchens Großmutter im Magen des Wolfs –, sondern weil er als Legende die perfekte Erzählstruktur für all jene bot, die sich an den einfachsten aller Weltformeln berauschen: Es gibt die Guten (wir), es gibt die Bösen (die anderen), und das Blut der Kinder ist der Prüfstein der Moral.

Natürlich ist diese Formel weder originell noch sonderlich clever. Aber sie ist anschlussfähig, und das ist in der politischen Mythologie der entscheidende Punkt. Man muss keine literarische Finesse besitzen, um sie zu erzählen – man braucht nur ein Opfer (am besten klein, unschuldig, mit unschlagbar guten Porträtmöglichkeiten in Holzschnitt oder Instagram-Story), einen Täter (klar markiert, kulturell kodiert, ohne Raum für Ambivalenz) und ein Publikum, das bereit ist, die Geschichte zu glauben, weil sie sich so wunderbar sauber anfühlt. Wahrheit ist hier Nebensache; was zählt, ist die dramatische Plausibilität im Dienste der Identität.

Von der Hostienfrevel-Gotik zur Hashtag-Ästhetik

Man könnte nun hoffen, die Moderne, aufgeklärt und mit Wikipedia bewaffnet, habe derlei Blödsinn endgültig erledigt. Doch das ist eine naive Annahme, fast schon rührend in ihrer Gutgläubigkeit. Die antisemitische Kindermordlegende hat lediglich ihr Kostüm gewechselt, den Bühnenboden getauscht und die Beleuchtung auf LED umgestellt. Aus dem „Anderl von Rinn“ mit seiner barocken Märtyrerikonographie ist der „Mohammed von Gaza“ geworden – ein idealisiertes, oft nicht einmal überprüfbares Kindergesicht, in Endlosschleife verbreitet, diesmal nicht als Votivtafel in einer Seitenkapelle, sondern als Bild in den sozialen Medien, flankiert von empörten Tweets und tränenfeuchten Facebook-Kommentaren.

TIP:  Zweimal "88" ist einmal zu viel

Die Struktur ist dieselbe: Ein Kind wird angeblich von den Juden (heute im präziseren Vokabular „den Zionisten“ oder „der israelischen Armee“ – sprachliche Tarnmuster ändern sich eben) auf grausame Weise getötet. Der Kontext – etwa Raketen, die aus dicht besiedelten Wohngebieten abgefeuert werden, oder das perfide Kalkül militanter Gruppen, zivile Opfer als strategische Ressource zu nutzen – wird elegant weggeschnitten wie ein störender Schatten auf einem Instagram-Filter. Das Bild muss sauber bleiben: ein makelloses Opfer, ein klarer Täter, eine Welt, die so einfach ist, dass man sie in drei Emojis zusammenfassen kann.

Die ästhetische Effizienz der Empörung

Der „Mohammed von Gaza“ (der Name hier als Platzhalter für eine ganze Galerie solcher medialen Märtyrer) ist kein individuelles Schicksal mehr, sondern eine ikonische Figur, entworfen für maximale Reichweite. Die Botschaft lautet: Sie töten unsere Kinder. Das ist keine nüchterne Nachricht, sondern ein rhetorischer Nuklearschlag – jeder, der widerspricht, muss sich mit dem impliziten Vorwurf des Zynismus oder gar der Komplizenschaft abfinden. Die alte Legende vom Anderl funktionierte genauso: Wer die Erzählung infrage stellte, stellte sich moralisch gegen ein unschuldiges Kind. Wer Zweifel äußerte, galt als „Judenknecht“ oder „Glaubensverräter“. Heute ist man dann „zionistischer Propagandist“ oder „Teil der Lügenpresse“.

Was sich geändert hat, ist die Geschwindigkeit und Reichweite der Reproduktion. Im Mittelalter brauchte es Wochen, um eine solche Geschichte über Bergtäler hinweg zu verbreiten; heute reicht ein Hashtag und ein paar gut platzierte Bilder in Telegram-Kanälen, um binnen Stunden Millionen zu erreichen. Doch der eigentliche Fortschritt liegt nicht in der Technik, sondern in der ästhetischen Effizienz der Empörung: Die Legende ist schlanker geworden, befreit von theologischen Fußnoten und Heiligenkalendern, dafür optimiert für den emotionalen Schnellkonsum.

Warum wir solche Geschichten lieben (und fürchten sollten)

Die Persistenz solcher Narrative hat nichts mit Fakten zu tun – sie lebt von psychologischen Reflexen. Das Kind als ultimatives Opfer ist ein archetypisches Symbol, das selbst in den zynischsten Köpfen noch eine schmerzhafte Saite zum Schwingen bringt. Und wer es als Propagandawaffe einsetzt, kann sicher sein, dass sich moralische Komplexität in moralische Simplizität auflöst. Dabei ist das perfide Element, dass das echte Leid realer Kinder – ob in Rinn oder in Gaza – instrumentalisiert wird, um nicht Empathie zu fördern, sondern Hass zu verstetigen.

TIP:  Österreich zahlt, Kiew spendet, Afrika isst.

Und genau hier steckt die bittere Ironie: Wer den „Mohammed von Gaza“ verbreitet, um eine klare Front zu ziehen, ist geistiger Komplize jener Priester, die im 17. Jahrhundert den „Anderl von Rinn“ predigten. Man hat nur den Altar gegen eine Timeline getauscht, den Weihrauch gegen algorithmisch getriebene Empörung. Die Absicht ist dieselbe geblieben: Ein Feindbild schaffen, das nicht hinterfragt werden kann, weil es mit dem Blut der Unschuld geweiht wurde.

Epilog: Das Geschäft mit dem ewigen Kind

Vielleicht wäre es zu viel verlangt, die Menschheit möge diese uralte Versuchung endlich ablegen. Das Narrativ vom ermordeten Kind ist einfach zu verführerisch, zu mächtig, zu sofortig in seiner Wirkung. Aber wer heute beim Scrollen einem „Mohammed von Gaza“ begegnet, sollte sich bewusst sein, dass er in Wirklichkeit in einer jahrhundertealten Theateraufführung sitzt, deren Bühnenbilder zwar digital sind, deren Dialoge aber aus der Mottenkiste der Geschichte stammen. Die Requisiten mögen neu glänzen, die Moralpredigt ist uralt – und ihre Pointe ist stets dieselbe: Nicht das Kind wird gerettet, sondern der Hass.

Please follow and like us:
Pin Share