Kaffeehaus-Republik

Der intellektuelle Tanz auf dem Vulkan

Deutschland, das Land der Dichter, Denker und – natürlich – Maschinenbauer, Chemiker und Autobauer. Oder war es das Land der Dichter, Denker und Baristas? Die Deindustrialisierung schleicht sich leise, fast unbemerkt, durch die Hintertüren der Fabrikhallen, und das Schlimmste daran: Man tut so, als sei das völlig in Ordnung. Menschen wie Marcel Fratzscher, seines Zeichens Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), stehen an der Spitze dieser absurden Erzählung und versichern uns, dass der Verlust energieintensiver Industrien kein Grund zur Sorge sei. Nein, im Gegenteil! Es ist gut für uns. Wirklich jetzt? Der Gedankengang erinnert an jemanden, der dir lächelnd erklärt, wie gesund es doch sei, wenn dir dein Haus abbrennt – man habe schließlich so eine schöne Aussicht auf den Himmel, wenn das Dach erstmal weg ist.

Ein Wirtschaftsmärchen für Erwachsene

Marcel Fratzscher argumentiert, dass es „nicht schlimm, sondern gut“ sei, wenn die energieintensive Industrie das Land verlässt. Die deutsche Wirtschaft würde wettbewerbsfähig bleiben, indem die Unternehmen ihre Innovationskraft und „guten Arbeitskräfte“ erhalten. Aha, interessant. Wir sollen also glauben, dass all die Jobs, die in der Chemie-, Automobil- und Maschinenbauindustrie wegfallen, durch eine Art magische Hand des Marktes ersetzt werden. Und zwar mit – man höre und staune – „guten Arbeitsplätzen“. Gute Arbeitsplätze, ja? Und wo genau werden die sein? In Coffee Shops? Oder vielleicht in Start-ups, die an der nächsten revolutionären Idee für biodynamischen Cold Brew arbeiten?

Wenn die Produktion geht, dann gehen die Jobs, die hier für Wohlstand gesorgt haben, mit. Aber keine Sorge! Laut Fratzscher sind diese Jobs ja ohnehin überholt. Wer braucht schon Fabriken, wenn man stattdessen ganz modern in hippen Co-Working-Spaces sitzen kann? Es erinnert fast an die Absurdität der französischen Königin Marie Antoinette, die – als das Volk kein Brot hatte – nonchalant vorschlug, man möge doch Kuchen essen. Fratzschers Version: „Ihr habt keine Industriearbeitsplätze mehr? Kein Problem, werdet doch alle Innovationsmanager!“

TIP:  Und es gibt ihn doch

Umweltbewusstsein light

Ein weiteres wunderbares Detail, das man bei der Abwanderung der Industrie gerne übersehen möchte, ist der Umweltschutz. Der oft zitierte Slogan „Made in Germany“ steht nämlich nicht nur für Qualität, sondern auch für relativ hohe ökologische Standards. Aber die Verlagerung der Produktion ins Ausland scheint diesem edlen Anspruch irgendwie nicht mehr zu entsprechen. Man nimmt es gelassen hin, dass dort oft mit einem wesentlich schlechteren CO2-Abdruck produziert wird. Was hier unter den strengen Augen deutscher Umweltbehörden noch an Standards durchgesetzt wurde, löst sich dann in Ländern mit laxeren Regelungen im Dunst der Industrieabgase auf.

Aber halt, das ist doch eigentlich kein Problem, oder? Wenn wir die Verschmutzung exportieren, sieht unser eigener Vorgarten plötzlich viel sauberer aus. Problem gelöst! Man könnte fast meinen, dies sei der Plan gewesen: eine saubere deutsche Weste, während der Smog anderswo dichter wird. Das nennt man wohl Globalisierung in Reinform. Während hier die Luft immer klarer wird, wird sie anderswo so dick, dass man sie schneiden kann. Aber hey, Hauptsache, wir bleiben „wettbewerbsfähig“.

Ein intellektuelles Hütchenspiel

Ein weiteres Argument der Fratzschers dieser Welt lautet, dass der Wegfall der energieintensiven Industrie Platz für Innovation schaffe. Doch was für Innovationen sollen das sein? Und vor allem: Wo kommen die her? Der Gedanke, dass Deutschland in einer Welt ohne Chemieindustrie und Maschinenbau durch Innovationskraft führend bleiben soll, wirkt fast rührend naiv. Es ist, als wolle man einem Kind erklären, es könne auch dann Weltmeister im Schach werden, wenn man ihm das Schachbrett und die Figuren wegnimmt. Irgendwie wird das schon klappen, oder?

Man stelle sich eine Zukunft vor, in der Deutschland zwar keine Autos mehr baut, aber weltführend im Design von App-Icons für Carsharing-Start-ups ist. Oder vielleicht werden wir Vorreiter in der Entwicklung von umweltfreundlichen To-Go-Bechern für den mittlerweile florierenden Coffee-Shop-Sektor. Fratzscher träumt offensichtlich von einer Welt, in der gutbezahlte Jobs in der Industrie durch ebenso gut bezahlte Jobs im Dienstleistungssektor ersetzt werden. Vielleicht träumt er auch davon, dass Roboter irgendwann die Werkbänke besetzen und die Menschen zu Hause vom Laptop aus dem digitalen Schachspiel des globalen Wettbewerbs zuschauen. Aber bis dahin – bleibt’s wohl eher beim Kaffee servieren.

TIP:  Über die neue Lust am gerechten Töten, den bellizistischen Biedermeier und die Rückkehr der Zivilisationsvergessenen

Eine Illusion für die Arbeitslosenstatistik

Ein weiteres Juwel in der Schatztruhe der neoliberalen Narrative ist die Vorstellung, dass die verlorenen Industriearbeitsplätze durch „gute Arbeitsplätze“ ersetzt werden. Was aber genau sind diese „guten Arbeitsplätze“, die uns da versprochen werden? Die Latte-Macchiato-Brigade in hippen Innenstadt-Cafés? Oder die stundenweise Angestellten in den Versandzentren großer Online-Händler, die Pakete für Mindestlohn sortieren?

Es scheint eine ziemlich realitätsferne Vorstellung zu sein, dass in einer Volkswirtschaft wie der deutschen, die stark auf Industrie basiert, Millionen von Facharbeitern und Ingenieuren plötzlich eine neue Heimat in der Dienstleistungsbranche finden werden. Der Wandel von der Werkbank zum Coffee-Shop-Besitzer ist vielleicht eine nette Utopie, aber in der realen Welt kommt das einer kalten Enteignung gleich – nicht nur der materiellen Mittel, sondern auch der Würde der Arbeit.

Deutschland auf dem Weg zum Caféstaat

Deutschland, so wie es heute dasteht, verdankt seinen Wohlstand vor allem der Industrie. Chemie, Automobilbau, Maschinenbau – das sind die Grundpfeiler des wirtschaftlichen Erfolgs. Doch statt diese Pfeiler zu stützen und auszubauen, scheint die politische und wirtschaftliche Elite bereit, sie ohne mit der Wimper zu zucken abzutragen. Die Begründung? Es ist ja „gut“, wenn die energieintensive Industrie abwandert. Diese Abkehr von der produzierenden Wirtschaft zugunsten einer Wohlfühlpolitik erinnert an die berühmten letzten Tage Roms, als sich die Elite dem Müßiggang hingab, während das Imperium vor ihren Augen zerfiel.

Fratzscher und Konsorten scheinen zu glauben, dass wir in einer Zukunft ohne Industrie einfach weitermachen können wie bisher. Vielleicht wird Deutschland ja der nächste große Caféstaat – ein Ort, an dem die Bürger ihre Zeit in schicken Coffee-Shops verbringen, während der Rest der Welt Autos, Maschinen und Chemikalien herstellt. Man könnte fast meinen, es handele sich um ein großes Experiment: Was passiert, wenn man eine der größten Industrienationen der Welt schrittweise deindustrialisiert und hofft, dass alles gut geht?

Eine Zukunft voller Latte Macchiato und weniger Jobs

Die Deindustrialisierung Deutschlands mag in den Augen mancher Ökonomen wie Marcel Fratzscher als Chance erscheinen, doch für den Großteil der Menschen bedeutet sie vor allem eines: den Verlust gutbezahlter Arbeitsplätze und den Abstieg in prekäre Arbeitsverhältnisse. Es bleibt abzuwarten, wie viele Baristas wir tatsächlich brauchen, um die Lücken in der deutschen Wirtschaft zu füllen. Und ob das Kaffeearoma wirklich den scharfen Geruch des Maschinenöls überdecken kann.

TIP:  Die süße Verführung der Kugel Eis

Am Ende bleibt die Frage: Wird Deutschland in ein Land verwandelt, das stolz auf seine Coffee-Shop-Kultur ist, während die Industriehallen leer stehen? Die Antwort scheint klar zu sein: Latte Macchiato schmeckt gut, aber er zahlt keine Renten.

Quellen und weiterführende Links

  1. Marcel Fratzscher, Interview in der Neuen Osnabrücker Zeitung, Oktober 2023
  2. Deutschland 2030: Was die Deindustrialisierung wirklich bedeutet, Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 2023
  3. BMWK: Industrie 4.0 und die Zukunft der Arbeit, Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz
  4. Ifo Institut: Wirtschaftliche Auswirkungen der Deindustrialisierung, Studie, 2023
  5. Sabine Rennefanz: Die Latte-Macchiato-Gesellschaft: Ist die Dienstleistungsökonomie die Zukunft?, Zeit Online, 2022

Please follow and like us:
Pin Share