Das große westliche Gelöbnis der Nichtverteidigung

Man könnte die Geschichte der Menschheit auch als eine endlose Abfolge missverstandener Einladungen lesen: Jemand besitzt etwas, ein anderer begehrt es, und irgendwann wird aus Begehren Bewegung. Raum wird betreten, Arbeitskraft verplant, Körper verfügbar gemacht, Güter umverteilt, Infrastruktur übernommen. Die alten Gesellschaften, so unerquicklich sie waren, hatten dafür eine unromantische, aber robuste Antwort parat: Verteidigung. Nicht aus Bosheit, sondern aus Selbsterhaltung. Der Westen jedoch hat sich zu etwas Höherem entschlossen – zumindest hält er sich dafür. Er hat aus der Verteidigung eine moralische Todsünde gemacht und stattdessen ein feierliches Gelöbnis formuliert, das unausgesprochen über Schulhöfen, Universitäten und Leitartikeln schwebt wie Weihrauch in einer säkularen Kathedrale. Ein Gelöbnis, das mit erstaunlicher Konsequenz wiederholt wird, bis es nicht mehr wie Kapitulation klingt, sondern wie Charakterstärke.

Wir werden unsere Kultur nicht verteidigen

Wir werden unsere Kultur nicht verteidigen, denn Kultur gilt als etwas Unangenehmes, sobald sie mehr ist als bunte Küche, harmlose Musik und museal entschärfte Rituale. Kultur, die Normen setzt, Erwartungen formuliert oder gar Loyalität einfordert, riecht sofort nach Ausgrenzung. Also erklären wir sie für unverbindlich, verhandelbar und letztlich verzichtbar. Wer dennoch auf ihr besteht, gilt als rückwärtsgewandt, mindestens aber als peinlich. Dass andere Kulturen ihre eigenen Selbstverständlichkeiten sehr wohl ernst nehmen und verteidigen, wird als folkloristische Eigenheit verbucht. Die eigene Kultur hingegen soll sich wie ein Gas verhalten: überall präsent, aber nirgends greifbar, schon gar nicht widerständig.

Wir werden unser Erbe nicht verteidigen

Wir werden unser Erbe nicht verteidigen, weil Erbe Besitz impliziert und Besitz moralisch suspekt ist. Geschichte ist nur dann akzeptabel, wenn sie als endlose Schuldgeschichte erzählt wird, aus der sich vor allem Verpflichtungen ableiten lassen – aber keine Ansprüche. Bauwerke, Institutionen, Rechtsordnungen, soziale Errungenschaften gelten weniger als Leistung früherer Generationen denn als problematisches Kapital, das man möglichst rasch umwidmen sollte. Verteidigung des Erbes käme einer Anerkennung gleich, dass nicht alles zufällig entstanden ist und nicht alles beliebig ersetzt werden kann. Also wird das Erbe entkernt, relativiert und zur offenen Baustelle erklärt, auf der jeder mitreden darf – außer jenen, die sich tatsächlich dafür verantwortlich fühlen.

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Wir werden unseren Glauben nicht verteidigen

Wir werden unseren Glauben nicht verteidigen, selbst dann nicht, wenn wir ihn offiziell längst aufgegeben haben. Denn auch die Abwesenheit von Glauben ist ein Glaubenssystem, nur eines, das sich selbst für neutral hält. Überzeugungen sind verdächtig, insbesondere dann, wenn sie tief sitzen und nicht bei der ersten moralischen Ermahnung einknicken. Also ersetzt man sie durch Werte, die so allgemein formuliert sind, dass sie niemanden verpflichten. Der eigene geistige Kern soll weich sein, flexibel, konfliktvermeidend. Dass andere Überzeugungen durchaus verteidigt, eingefordert und notfalls durchgesetzt werden, gilt als kulturelle Eigenlogik, die man respektieren müsse – während man die eigene Überzeugungslosigkeit als Fortschritt feiert.

Wir werden unsere Frauen nicht verteidigen

Wir werden unsere Frauen nicht verteidigen, zumindest nicht im Sinne von Schutz vor realen Bedrohungen. Wir verteidigen abstrakte Frauenbilder, Diskurse, Sprachregelungen, Kampagnen. Der konkrete Schutz, der unangenehme Fragen nach Tätern, Ursachen und Grenzen aufwirft, ist hingegen heikel. Denn er könnte implizieren, dass nicht alle Menschen gleich harmlos sind und dass manche Verhaltensweisen nicht nur missverstanden, sondern inakzeptabel sind. Also wird umgedeutet, relativiert, beschwichtigt. Die Frau wird zum Symbol, aber nicht zum Schutzgut. Wer darauf hinweist, riskiert, als unsensibel zu gelten – ein schwereres Vergehen als reale Gefährdung.

Wir werden unsere Kinder nicht verteidigen

Wir werden unsere Kinder nicht verteidigen, weil Kinder heute vor allem Projektionsflächen sind. Man verteidigt ihre Gefühle, ihre Identitäten, ihre vermeintliche Freiheit von Zumutungen – aber nicht ihre Sicherheit im umfassenden Sinn. Kinder sollen früh lernen, dass Grenzen schlecht, Autorität verdächtig und Selbstbehauptung problematisch ist. Sie werden erzogen zu weltoffenen Bewohnern einer Welt, die angeblich keine Konflikte kennt, während man ihnen gleichzeitig jede robuste Strategie zur Bewältigung realer Konflikte aberzieht. Verteidigung würde bedeuten, dass es Dinge gibt, die schützenswert sind, und andere, die man klar zurückweisen muss. Das passt schlecht zur Erzählung von der grenzenlosen Offenheit.

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Offen, tolerant, wehrlos

Denn am Ende steht der zentrale Glaubenssatz dieses Gelöbnisses: Würden wir irgendetwas davon verteidigen, wären wir nicht mehr offen und tolerant. Offenheit wird dabei mit Schutzlosigkeit verwechselt, Toleranz mit Selbstverzicht. Es ist eine Moral, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich selbst für überlegen hält, während sie systematisch die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz untergräbt. Satirisch betrachtet ist das eine erstaunlich konsequente Haltung: Man verzichtet freiwillig auf alles, was einen zusammenhält, und ist dann überrascht, wenn nichts mehr hält. Vielleicht ist das die letzte Ironie des Westens – dass er aus Angst, hart zu wirken, lieber zerbricht und sich dabei einredet, es handle sich um moralischen Fortschritt.

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