Die Einheitsseite und das Rascheln der Gleichschaltung

Wer heute die Zeitungsseiten aufschlägt, dieses morgendliche Rascheln des Papiers – sofern man noch zu den Exzentrikern gehört, die Zeitung nicht mit dem Daumen wegwischt, sondern mit beiden Händen hält –, der könnte versucht sein, den alten, staubigen Begriff der Verstaatlichung hervorzukramen. Nicht, weil irgendwo ein Minister mit rotem Stempel in der Druckerei stünde, sondern weil die Tonlage, die Metaphern, die moralischen Markierungen eine solche Einförmigkeit erreicht haben, dass man sich fragt, ob Pluralismus nicht heimlich als Tippfehler gilt. Europa, so lesen wir, sei geschlossen. Einig. Unerschütterlich. Wer anderes behauptet, ist mindestens naiv, meist verdächtig und gelegentlich gleich ganz draußen. Die Wirklichkeit hingegen, dieses widerspenstige, mehrschichtige Gebilde, wird auf die angenehme Eindimensionalität einer regierungsfreundlichen Erzählung zurechtgehobelt. Die Kanten schleifen wir weg, die Widersprüche auch, und wenn doch einer hervorsteht, nennen wir ihn „Desinformation“ und gehen weiter zur Wetterkarte.

Dabei beginnt jede Konfliktlösung – das weiß jeder Paartherapeut, jeder Mediator, jeder halbwegs reflektierte Mensch – mit dem schmerzhaften, oft peinlichen Aufarbeiten der Ursachen. Politisch jedoch gilt diese Einsicht offenbar als Zumutung. Ursachen stören die klare Frontlinie. Sie relativieren. Sie werfen Fragen auf, wo man Antworten verkünden möchte. Also unterblieb auch diesmal die Aufarbeitung. Wieder einmal. Stattdessen hantieren wir mit moralischen Schablonen, die so vertraut sind, dass sie kaum noch auffallen. John F. Kennedy handelte 1962 selbstverständlich legitim, als er die Stationierung sowjetischer Nuklearwaffen auf Kuba mit einer Kriegsdrohung beantwortete. Dass es dabei um verkürzte Vorwarnzeiten, um existenzielle Sicherheitsängste ging, wird als kluger Realismus gefeiert. Wenn jedoch Wladimir Putin im Dezember 2021 unter Verweis auf eben solche Vorwarnzeiten die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als inakzeptabel bezeichnet, dann ist das – welch Überraschung – illegitim, paranoid, imperial. Die Regel lautet: Was wir tun, ist Verteidigung. Was die anderen tun, ist Aggression. Das ist keine Analyse, das ist Liturgie.

Die Gnade der Selbstvergebung

Westliches Europa möchte über die NATO-Osterweiterung im Vorfeld des Ukraine-Krieges nicht sprechen. Nicht, weil es nichts dazu zu sagen gäbe, sondern weil es zu viel zu sagen gäbe. Wir sind gnädig – vor allem zu uns selbst. Der Westen unterstellt, mit einer beneidenswerten Selbstverständlichkeit, dass es nur eine Wahrheit gibt: seine eigene. Wer darauf hinweist, dass Geschichte auch nach 1990 nicht aufgehört hat, Geschichte zu sein, dass Versprechen gegenüber Gorbatschow gemacht wurden – ob juristisch bindend oder nicht –, wird mit einem Achselzucken abgespeist. Papier ist geduldig, heißt es dann. Erinnerung offenbar nicht. Fest steht: Ohne eine ehrliche Aufarbeitung der westlich-russischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, ohne die nüchterne Betrachtung dessen, was gesagt, gemeint, verstanden und missverstanden wurde, wird sich keine neue Balance finden lassen. Das Unausgesprochene jedoch, das Verdrängte, verdichtet sich. Es gerinnt zu Ängsten, und Ängste haben ein unangenehmes Aggressionspotenzial. Aus dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, wächst der Minderwertigkeitskomplex, und dieser steigert sich, wie so oft in der Geschichte, zur Großmannssucht. Das ist keine Entschuldigung, aber eine Erklärung – und Erklärungen sind das Letzte, was man im moralischen Furor noch gelten lässt.

TIP:  TAROT

Das Ende des Triumphalismus und der lange Schatten der Neunziger

Der große Triumphalismus der Neunziger, dieser Kinderglaube, nach der Implosion der Sowjetunion ließe sich eine westlich geprägte Weltordnung wie ein Betriebssystem global installieren, hat sich verflüchtigt. Die aus Amerika importierte Agenda, die mit der NATO-„open door policy“ begann und mit den EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine ihren vorläufigen Höhepunkt fand, war getragen von der Annahme, Geschichte habe sich entschieden, und zwar endgültig. Wer widersprach, war ein Anachronismus. Russland jedoch erwies sich als ausgesprochen schlecht erzogenes Kind der Geschichte. Die Wiedererwachen einer Hegemonialmacht, die mit der Annexion der Krim einen blutigen Schlussstrich unter das westliche Umgestaltungsansinnen zog, wurde im Westen mit moralischer Empörung beantwortet, nicht mit selbstkritischer Analyse. Die Idee, sich die früheren Staaten des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe einzuverleiben – politisch, militärisch, kulturell –, wurde von Putin für ungültig erklärt. Nicht elegant, nicht friedlich, aber wirkungsvoll. Dass man diese Ungültigerklärung vielleicht hätte antizipieren können, passt nicht ins Drehbuch.

Kleine Nationen und das große Grinsen

Als Kaja Kallas im Mai 2024 auf einer Podiumsdiskussion plaudernd davon sprach, man müsse Russland in Einzelteile zerlegen, „more like small nations“, und dabei dieses entwaffnend fröhliche Grinsen aufsetzte, war das ein jener Momente, in denen sich politische Hybris ungewollt selbst entlarvt. Der Satz fiel leicht, zu leicht. Er fiel aus dem Mund einer Politikerin, die sich offenbar sicher war, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – jener Seite, auf der man solche Dinge sagen darf, ohne sie zu Ende denken zu müssen. Es hat nicht geklappt. Russland zerfiel nicht in handliche Portionen. Stattdessen beginnt nun etwas anderes zu bröckeln: die Europäische Union selbst, diese mühsam zusammengehaltene Konstruktion, droht sich in „small nations“ zu zerlegen, nicht durch äußeren Zwang, sondern durch innere Erschöpfung, wirtschaftliche Überforderung und politische Ratlosigkeit. Ironie ist bekanntlich die Höflichkeit der Geschichte.

TIP:  Die Evidenzlage ist eindeutig

Regimewechsel, Wunschdenken und der Bumerang

Ein Regime Change war das erklärte oder zumindest hoffnungsvolle Ziel. Russland sollte eine andere Regierung bekommen, so wie schon so viele andere Staaten zuvor. Man setzte auf Figuren, die im eigenen Land kaum Rückhalt hatten, bezahlte einen rechtsradikalen Schlägertypen mit zwei Prozent Anhängerschaft, stilisierte ihn zum Hoffnungsträger – und entsorgte ihn diskret, als er nicht mehr zu gebrauchen war. Auch das hat nicht geklappt. Stattdessen dämmert eine unangenehme Erkenntnis: Möglicherweise werden wir selbst „eine andere Regierung“ bekommen. Nicht als Ergebnis eines genialen Masterplans, sondern als Reaktion auf ökonomischen Druck, soziale Verwerfungen und eine Politik, die den eigenen Bürgern jahrelang erklärte, es gebe keine Alternativen. Das wird bitter. Denn Regimewechsel sind immer leichter zu fordern als zu ertragen, wenn sie vor der eigenen Haustür stattfinden.

Die Bilanz des Gegenteils

Die Liste der verfehlten Ziele liest sich wie eine Satire, wäre sie nicht so unerquicklich real. Wir wollten, dass Russland sich kaputtrüstet – nun rüsten wir uns selbst kaputt. Wir wollten Russland wirtschaftlich ruinieren – und stolpern über Energiepreise, Deindustrialisierung und Standortdebatten. Wir wollten Russland international isolieren – und stellen fest, dass große Teile der Welt höflich nicken, aber andere Geschäfte machen, während Europa zunehmend allein mit seinem moralischen Furor steht. Nichts hat geklappt. Eigentlich ist von allem das Gegenteil eingetreten. Man könnte lachen, wenn einem nicht das Lachen im Hals stecken bliebe.

Dabei sei, bei aller Polemik, auf eine Differenz hingewiesen, die im pauschalen Europa-Diskurs gern untergeht: Nicht alle Länder des Kontinents bergen die gleichen Risiken und tragen die gleichen Hypotheken. Osteuropa etwa, jahrzehntelang von der Sowjetunion besetzt, blieb paradoxerweise von den frühen Phasen jenes westlichen Prozesses der Entwurzelung und des kulturellen Abbaus verschont, dessen Folgen heute in Westeuropa so unübersehbar sind. Dort, wo Traditionen nicht freiwillig aufgegeben, sondern gewaltsam unterdrückt wurden, erwiesen sie sich als erstaunlich widerständig. Vielleicht liegt darin eine Lehre, die man lesen könnte – wenn man denn bereit wäre, zwischen den Zeilen zu lesen und nicht nur die Einheitsseite aufzuschlagen.

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