Das Aufgelöste Volk

Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ — Bertolt Brecht

Prolog im Maschinenraum der Demokratie

Es gibt Sätze, die sind keine Zitate, sondern Sprengsätze. Brechts Diktum detoniert nicht laut, sondern kontinuierlich, ein langsames Beben unter den Fundamenten der Selbstgewissheit. Der Maschinenraum der Demokratie, so gern er in Sonntagsreden als lichtdurchflutete Agora beschrieben wird, ist in Wahrheit ein fensterloser Keller, erfüllt vom Brummen der Apparate und dem Geruch von Schmieröl und Angstschweiß. Hier unten arbeitet kein Volk, hier unten wird es verarbeitet. Der Souverän ist Rohstoff, keine Instanz mehr, ein Gemisch aus Stimmungen, Klickzahlen und Erregungskurven. Oben auf der Brücke steht die Regierung, den Blick fest auf die Instrumente gerichtet, und erklärt mit ernster Miene, dass man leider nicht auf die Passagiere hören könne, weil diese von Navigation nichts verstünden. Demokratie, so lernt man, ist zu wichtig, um sie dem Volk zu überlassen.

Medien als Betreuungsanstalt

Die Medien, einst vierte Gewalt, haben sich in eine Mischung aus Animateur und Aufseher verwandelt. Sie halten das Volk bei Laune, erklären ihm die Welt in verdaulichen Häppchen und sorgen dafür, dass es sich weder überfordert noch ernst genommen fühlt. Komplexität wird nicht erklärt, sondern vermieden; Widerspruch nicht ausgehalten, sondern moralisch aussortiert. Wer die falschen Fragen stellt, bekommt nicht Antworten, sondern Etiketten. Das Volk darf zuschauen, kommentieren, liken – ein riesiges Planschbecken der Meinungsäußerung, beaufsichtigt von Bademeistern der richtigen Haltung. Und während man sich gegenseitig bespritzt, wird im Hintergrund die Wasserhöhe reguliert. Information ist reichlich vorhanden, Erkenntnis streng rationiert.

Bürokratie als Ersatzreligion

Wo Sinn schwindet, triumphiert das Formular. Die Bürokratie ist die wahre Staatskirche der Gegenwart, mit eigenen Riten, Sakramenten und einer Sprache, die jeder spricht, ohne sie zu verstehen. Anträge ersetzen Argumente, Zuständigkeiten ersetzen Verantwortung. Das Volk pilgert von Schalter zu Schalter, opfert Zeit und Nerven und hofft auf Gnade in Form eines Bescheids. Jede Entscheidung wird entpersonalisiert, jede Zumutung standardisiert. So entsteht die perfekte Illusion von Objektivität: Niemand ist schuld, es war das Verfahren. Die Regierung versteckt sich hinter Aktenordnern wie hinter Ikonen, und das Volk kniet bereitwillig davor, froh darüber, dass wenigstens irgendjemand den Überblick zu haben scheint.

TIP:  Ein postkoloniales Konstrukt

Technokratie oder die Herrschaft der Unfehlbaren

Die technokratische Herrschaft hat den großen Vorteil, dass sie sich selbst für alternativlos hält. Sie spricht in Zahlen, Modellen und Prognosen, die so beeindruckend sind, dass niemand mehr fragt, wessen Interessen sie eigentlich abbilden. Entscheidungen erscheinen nicht mehr als politische Akte, sondern als naturwissenschaftliche Notwendigkeiten. Das Volk wird zum Störfaktor im System, ein unberechenbares Element, das man beruhigen, simulieren oder notfalls ignorieren muss. Demokratie schrumpft zur Akzeptanzbeschaffung, Kritik zur Fehlermeldung. Wer widerspricht, gilt nicht als politischer Gegner, sondern als jemand, der die Daten nicht verstanden hat.

Populismus als Spiegelkabinett

Der Populismus ist das Symptom, nicht die Krankheit. Er ist der verzerrte Spiegel, in dem das Volk sich selbst erschreckt anschaut. Dort, wo technokratische Kälte herrscht, wächst die Sehnsucht nach einfachen Sätzen und klaren Feindbildern. Populisten versprechen Rückgabe der Stimme, liefern aber nur Echo. Sie rufen dem Volk zu, dass es recht habe, und machen es damit umso abhängiger. Die Regierung wiederum nutzt den Populismus als Abschreckungsfolie: Seht her, sagt sie, so endet es, wenn man euch ernst nimmt. Zwischen technokratischer Belehrung und populistischer Verführung bleibt kaum Raum für mündige Politik.

Die freiwillige Selbstentmündigung

Am unerquicklichsten ist die Rolle, die das Volk selbst spielt. Es hat gelernt, Verantwortung als Belastung zu empfinden und Entscheidung als Risiko. Man delegiert nicht nur Macht, man entsorgt sie. Hauptsache, jemand anders haftet. Man schimpft über die Regierung wie über das Wetter: unerquicklich, aber unvermeidlich. Die eigene Bequemlichkeit tarnt sich als Pragmatismus, die eigene Passivität als Realismus. So entsteht ein stilles Einverständnis: Die Regierung regiert, das Volk klagt, und beide wissen, dass sich an diesem Arrangement möglichst wenig ändern soll.

Polemik als Notwehr

Die Polemik ist in diesem Zustand kein Stilmittel mehr, sondern Selbstverteidigung. Sie übertreibt, um sichtbar zu machen, was im Normalzustand unsichtbar bleibt. Sie ist ungerecht, weil die Verhältnisse es längst sind. Wer heute polemisch schreibt, gilt schnell als unsachlich – ein Vorwurf, der meist von jenen kommt, die das Unsachliche perfekt verwaltet haben. Polemik kratzt an der Fassade der Vernunft, hinter der sich Macht eingerichtet hat wie in einer möblierten Mietwohnung.

TIP:  Europa am rechten Rand

Epilog im offenen Vollzug

Vielleicht müsste man das Volk tatsächlich neu wählen – nicht als Austausch, sondern als Zumutung. Als Rückgabe von Verantwortung, als Ende der Betreuung. Das wäre unbequem, laut, widersprüchlich. Genau deshalb wird es vermieden. Brechts Frage bleibt im Raum stehen wie ein schief aufgehängtes Bild: Man kann sich daran gewöhnen oder man kann es gerade rücken. Sicher ist nur: Eine Demokratie, die ihr Volk fürchtet oder verachtet, hat bereits damit begonnen, sich selbst aufzulösen. Und ein Volk, das sich dauerhaft vertreten lassen will, wird am Ende nur noch verwaltet.

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