Die theologische Großmut des Begehrens

Man müsste meinen, dass ein jahrtausendealtes Buch, das zwischen Wüstensand, Nomadenpolitiken und einer beeindruckend unzuverlässigen Textüberlieferung entstand, kein sonderliches Interesse daran haben dürfte, körperliche Lust in all ihrer schillernden, queeren, schwitzenden Pracht zu feiern. Doch, Überraschung: Genau dort, inmitten von Prophetenzorn und Apokalypsefantasien, findet sich das Hohelied – ein poetisches Kleinod, das mit der dreisten Selbstverständlichkeit einer Weinrebe auf dem Rücken einer Sonne tanzt. Eine Frau, die sich nehmen lässt, was ihr Herz begehrt, ohne Fußnoten, ohne Entschuldigungsfloskeln, ohne moraltheologische Begleitmusik. Ein Text, der Theologen über Jahrhunderte traumatisiert hat, weil er so schamlos erotisch war, dass sie sich gezwungen sahen, ihn als Allegorie umzudeuten – nur, um nicht mit der peinlichen Möglichkeit konfrontiert zu werden, dass Gott vielleicht tatsächlich menschliche Lust erträgt. Und schlimmer noch: sie gut heißt.

In einer Welt, die bis heute gerne so tut, als sei das Heilige per se keusch, verstaubt und papierdünn, steht dieses Buch wie ein trotziger Beleg dafür, dass der menschliche Körper keine göttliche Panne ist. Wenn die Urgeschichte verkündet, alles sei „sehr gut“, dann meint sie nicht: „außer dem, was Spaß macht.“ Es ist vielleicht genau diese befreiende Selbstverständlichkeit, die bis heute manchen religiösen und moralischen Gatekeeper wütender macht als jedes theologische Argument.

Die Sünde der Sünden: Die Pathologisierung der Lust

Die eigentliche Tragödie beginnt erst, wenn aus Lust – dieser uralten, warmblütigen Triebfeder des Lebendigseins – ein moralisches Überwachungsprojekt wird. Es ist beinahe komisch, wie systematisch über Jahrhunderte hinweg ausgerechnet jene Stellen der Bibel missbraucht wurden, die Machtmissbrauch kritisieren, um neue Formen von Kontrolle zu legitimieren. Paulus wollte im Kontext römischer Dekadenz warnen? Großartig! Dann lässt sich daraus sicher ein Dogma gegen alles ableiten, was auch nur im Entferntesten nach freudvoller Körperlichkeit riecht. Dass es ihm um Ausbeutung, Hierarchie, Erniedrigung ging, und nicht um die Frage, wer wen konsensuell begehrt – geschenkt. Die Kirchengeschichte hat schließlich Übung in produktiver Fehlinterpretation.

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Es ist die Ironie des Jahrhunderts, dass gerade jene Bibelstellen, die Würde schützen wollen, genutzt wurden, um Millionen Menschen diese Würde systematisch zu verweigern. Lust wurde zur Gefahr erklärt, nicht weil sie gefährlich wäre, sondern weil sie sich schwer kontrollieren lässt. Sie hat die schlechte Eigenschaft, Menschen lebendig zu machen. Lebendigkeit aber ist Gift für Systeme, die von Angst leben. Und es ist erstaunlich, wie zäh sich Angst hält, wenn sie einmal ein moralisches Etikett bekommen hat.

Der göttliche Körper: Ein Skandal mit Fleisch und Knochen

Man stelle sich die Gesichter der frühen Dogmatiker vor, als sie ernsthaft darüber diskutieren mussten, was es bedeutet, dass Gott Mensch wird – mit Schweißdrüsen, müden Augen, einem Magen, der knurrt. Körperlichkeit war plötzlich kein Mangel, sondern ein göttlicher Modus. „Der Logos wurde Fleisch“ – was für eine unverschämte Formulierung. Fleisch, nicht Idee. Berührbar, greifbar, sinnlich, verletzlich. Ein Gott, der sich anfassen lässt, ist ein Skandal für jede Form spirituellen Elitismus. Es ist schwer, Menschen einzureden, sie müssten sich für ihre Körper schämen, wenn selbst das Göttliche sich nicht zu schade ist, in einem zu wohnen.

Und dann der Heilige Geist: eine grammatikalisch queere Offenbarung. Sächlich im Griechischen, weiblich im Hebräischen, und in jeder Hinsicht unfügsam gegenüber dem Bedürfnis, metaphysische Geschlechtergrenzen zu ziehen. Die frühe Gemeinde war ein Experiment der Zugehörigkeit jenseits der Norm – nicht, weil sie besonders progressiv sein wollte, sondern weil der Geist sie dazu zwang. Wer das ernst nimmt, kann Tradition nicht gleichzeitig als Bollwerk gegen Vielfalt missbrauchen.

Ein Ethos der Lust: Befreiung statt Befehl

Vielleicht ist es an der Zeit, die Frage „Ist es erlaubt?“ endgültig in den theologischen Recyclingcontainer zu werfen, in dem sie längst verrottet. Die Bibel selbst macht klar: Der eigentliche Maßstab ist das Gute. Das, was heilt. Das, was niemanden zum Objekt degradiert. Lust ist weder Segen noch Fluch – sie ist eine Kraft. Und wie jede Kraft kann sie zerstören oder befreien, je nachdem, ob sie in Machtgefälle gebannt oder in Gleichwürdigkeit gelebt wird.

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Ein queer-feministisches Ethos der Lust ist kein hedonistisches Freifahrtszeichen, wie seine Gegner gerne suggerieren, sondern eine Ethik der Verantwortlichkeit. Es ist der Versuch, Lust aus den Fängen von Scham und Kontrolle zu befreien und sie dort zu verankern, wo sie hingehört: in der Würde, der Freiheit, der Zärtlichkeit.

Vision einer befreiten Gemeinschaft

Es ist fast schon zynisch-komisch, wie oft religiöse Gemeinschaften Angst vor der Freiheit haben, obwohl die Bibel ihre heiligste Botschaft daraus formt. „Zur Freiheit hat Christus befreit“ – ein Satz, der eigentlich das Ende jeder moralischen Gängelung bedeutet. Und doch wird er regelmäßig in sein Gegenteil verkehrt. Man stelle sich jedoch eine Gemeinschaft vor, die diesen Satz ernst nimmt. Eine Gemeinschaft, die nicht fragt, ob Menschen normgerecht lieben, sondern ob sie im Lieben heil werden. Eine, die nicht Gesichter sortiert, Identitäten katalogisiert oder Begehren klassifiziert, sondern die Vielfalt feiert wie eine liturgische Farbe des Lebens.

Eine Kirche – oder irgendeine Form von Gemeinschaft – die Hohelied, Inkarnation und Pfingsten nicht als Textbausteine betrachtet, sondern als radikal-inspirierende Modelle: Lust, die nicht beschämt wird. Körper, die nicht diszipliniert werden. Freiheit, die sich nicht entschuldigt.

Schluss: Die ehrliche Lust und der unehrliche Moralismus

Vielleicht ist die größte theologische Wahrheit, die wir der Lust entreißen können, genau dies: Sie braucht keine Rechtfertigung. Es ist der Moralismus, der sich ständig rechtfertigen muss – mit Verboten, Dogmen, Grenzzäunen, Angst. Lust ist einfach da. Warm, lebendig, unumstößlich. Ein göttliches Geschenk, das sich nicht einpacken, etikettieren oder katechetisch regulieren lässt.

Wenn Liebe furchtlos wird, Lust würdevoll bleibt und Vielfalt als Segen strahlt, dann entsteht etwas, das der Bibel näher kommt als alle moralischen Anweisungen dieser Welt. Vielleicht ist es genau dann, in diesen Momenten des unverschämten Lebens, dass das Heilige am greifbarsten wird.

Amen – oder wie manche sagen: So sei es, so werde es, so lebe es.

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