Die alpine Kunst des Durchblickvermeidens
Die Waldheimat war schon immer ein Ort eigentümlicher Klarheiten und noch eigentümlicherer Verschleierungstechniken. Man könnte sagen, sie sei eine Art demokratiepolitisches Feuchtbiotop, in dem Transparenz zwar als exotische Pflanze gedeiht, aber in sorgfältig regulierten Mengen, vorzugsweise weit hinter einem Sichtschutz aus Verordnungen, Übergangsbestimmungen und bewusst missverstandenen Paragraphen. Dort, wo sich einst die Kühe an gemütlichen Sommerabenden gegenseitig zutaten, welches Kraut am Hang am besten gedeiht, findet man heute Akten, die offenbar beschlossen haben, ebenfalls Wiederkäuer zu sein: Sie tauchen auf, verschwinden, kommen vorübergehend ans Licht, nur um sich dann Jahrzehnte später erneut in ihren Panzerschränken niederzulassen, mit dem behaglichen Gefühl, der Öffentlichkeit einmal mehr ein Schnippchen geschlagen zu haben. Und inmitten all dessen sitzt Beate, Hüterin der Transparenz, ehemalige Leuchtturmgestalt der NEOS, heutige Ministerin – umgeben von der satten Aura politischer Verantwortung –, die offenbar die außerordentliche Gabe besitzt, jene Fenster zu verdunkeln, deren Öffnung sie einst mit rosarotem Pathos gefordert hatte. Eine Ironie, die man sich nicht besser ausdenken könnte, hätte nicht bereits die österreichische Realität jahrzehntelang daran gefeilt.
Der Personalakt als politisches Totemtier
Es gibt in diesem Land Dinge, die verehrt werden wie sakrale Gegenstände, nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen ihrer Möglichkeit, Unannehmlichkeiten hervorzurufen. Der Personalakt von Kurt Waldheim gehört zweifellos in diese Kategorie. Er ist die österreichische Bundeslade der Nachkriegszeit: Jeder weiß, dass sie irgendwo existiert, niemand darf sie öffnen, und alle, die zu nah herantreten, verschwinden – zumindest politisch – für einige Zeit in jener Schattenzone, in der nur mehr die jeweils zuständige Pressesprecherin den Weg nach draußen kennt. Dieser Akt war während des Wahlkampfes 1986 verschollen, wiedergefunden, im Panzerschrank verstaut, selektiv Präsentiertem unterzogen, an Journalisten verfüttert und schließlich zum ewigen Problemfall der Zweiten Republik geworden. Er ist ein Symbol für das, was Österreich am besten kann: die gleichzeitige Behauptung, dass alles ohnehin längst aufgearbeitet sei, gepaart mit einem fast zärtlichen Festklammern an jenen Dokumenten, die genau dieser Aufarbeitung im Weg stehen. Dass ausgerechnet die Historikerkommission von 1988, die mit dem Pathos der schonungslosen Aufklärung angetreten war, den Akt nicht einmal sehen wollte, wirkt im Rückblick wie eine besonders österreichische Pointe – vielleicht hielt man ihn schlicht für überbewertet oder für eine administrativ gewordene Form von Zweitwohnsitz: niemand hat ihn, niemand braucht ihn, aber wehe, es fragt jemand danach.
Der Minoritenplatz und die Kunst der taktischen Übergabe
Mit der Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes war plötzlich ein ungebetener Luftzug im engen Flur der ministeriellen Aktenverwaltung zu spüren. Und wie man weiß, verabscheuen Ministerien Zugluft fast so sehr wie jene unangenehmen Situationen, in denen Journalisten höflich, aber bestimmt verlangen, das Gesetz möge auch für Behörden gelten. Die einzig logische Lösung: den Personalakt nicht öffnen, sondern verschieben. Und zwar nicht irgendwie, sondern präzise, fachgerecht, in bester österreichischer Tradition: hinüber ins Staatsarchiv, wo die langen Schatten der Archivgesetzgebung über jedes Dokument fallen wie das schützende Dach einer Berghütte über den müden Wanderer. Die Übergabe erfolgte so flott, man hätte meinen können, der Akt sei plötzlich radioaktiv geworden und müsse dringend aus der Reichweite neugieriger Bürger gebracht werden. Am selben Tag, an dem der Antragsteller freundlich über die Unanwendbarkeit des Informationsfreiheitsgesetzes aufgeklärt wurde, rollte der Akt bereits archivalisch Richtung Wien-Erdberg, wo er nun bis 2033 in einer Art amtlichem Winterschlaf verharren darf. Ein taktisches Meisterstück, das in seiner Eleganz fast an alpine Abfahrtstechnik erinnert: Die Kurven eng, die Geschwindigkeit hoch, die Transparenz gering.
Beate als Lichtgestalt des Lichtvermeidens
Besonders hübsch ist die Rolle jener Bundesministerin, die einst – damals noch als NEOS-Abgeordnete – das Banner der Transparenz hochhielt wie eine Mischung aus Jeanne d’Arc und Pressesprecherin der Aufklärung. Die gleiche Beate, die 2013 den ersten Antrag für ein Informationsfreiheitsgesetz stellte, muss heute mitansehen, wie unter ihrem Namen Schreiben verschickt werden, die den Geist der Transparenz eher als scheue Spukgestalt behandeln, die man besser keinem Tageslicht aussetzt. Man könnte meinen, die Ministerin habe in ihrem Amt eine merkwürdige Metamorphose durchlaufen: vom politischen Glühwürmchen, das die Finsternis erhellen will, zum Beamtenminnenspiel, bei dem die Regeln lauten: „Wer zuletzt durchsichtig ist, verliert.“ Vielleicht ist es einfach der österreichische Verwaltungsapparat, der aus jeder Reformerin mit beeindruckender Zuverlässigkeit eine Verfechterin des status quo macht – eine Art institutioneller Gravitation, die jede idealistische Absicht nach unten zieht, in jene Schubladen, in denen schon andere Transparenzprojekte staubig ruhen.
Das Archiv als Zeitmaschine der Verantwortung
Die Entscheidung, den Personalakt unter das Bundesarchivgesetz fallen zu lassen, ist im Grunde eine elegante Form der politischen Zeitreise: Man befördert ein ungeliebtes Dokument in eine Zukunft, in der alle Beteiligten längst emeritiert, pensioniert oder im Fall politischer Karrieren: diskret vergessen worden sind. 2033 klingt politisch betrachtet wie eine ferne Galaxie, ein Jahr, das nur noch in Fußnoten vorkommen wird: „Damals, als man noch Ministerien hatte, die Transparenz mit dem Staubwedel verwechselt haben.“ Wenn der Personalakt in zehn Jahren endlich zugänglich sein wird, werden Historiker vermutlich feststellen, dass man all das bereits gewusst hat – oder zumindest hätte wissen können, wenn man es denn gewollt hätte. Es ist ein vertrautes Muster: Man vertagt die Verantwortung auf eine Generation, die keine Fragen mehr stellt, weil sie dann mit ganz anderen Baustellen beschäftigt ist, etwa der Auswertung digitaler Kommunikationsarchive, die längst komplexer sind als alle Papierschränke der Republik zusammen.
Und täglich grüßt die Vergangenheitsbewältigung
Österreich ringt gern mit seiner Vergangenheit, allerdings vorzugsweise in der Art eines Ringers, der sehr bemüht aussieht, aber strategisch darauf hinarbeitet, möglichst selten Bodenkontakt zu bekommen. Man umkreist das Thema, klopft die Verfassung auf mögliche Auswege ab, zieht die Archivgesetze heran, zitiert historische Zuständigkeiten – aber man vermeidet es, das eigentliche Problem anzufassen. Waldheims Geschichte ist in dieser Disziplin ein Meisterkurs: Ein Akt, der als politisches Risiko gilt, darf nicht einfach behandelt werden wie jeder andere. Die Verwaltung scheint vielmehr beschlossen zu haben, dass Dokumente, je brisanter, desto länger im Halbdunkel ruhen müssen, damit sich ihre Schärfe auf natürlichem Wege verliert. Vielleicht hofft man auch, dass sich die historische Verantwortung wie ein alter Käse verhält: lang genug gelagert, verliert er seinen beißenden Geruch und wird zu einem milden, fast harmlosen Artefakt, das man am Ende sogar gern herzeigt.
Epilog der Transparenz: Ein Land und seine Akten
Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Transparenz in Österreich ein Kulturprojekt ist, das von der gleichen Energie getragen wird wie der Bau von Großprojekten: ambitioniert begonnen, liebevoll diskutiert, am Ende aber von einer Vielzahl kreativer Umwege, Fristverlängerungen und formalistischer Entscheidungen umstellt. Der Personalakt Waldheim ist dafür das vielleicht schönste Beispiel: ein Dokument, das mehr sagt, indem es nicht gezeigt wird, als es je könnte, wenn man es offenlegte. Und Beate, die einstige Vorkämpferin für offene Verwaltung, steht nun an jener Stelle, die in diesem Land traditionell schneller rotiert als jedes Karussell: der Grenze zwischen Prinzip und Praxis. Dass sie dort steht, ist kein persönliches Versagen, sondern fast schon eine österreichische Naturgewalt – der Bannkreis der Verwaltung, der jeden Fortschrittsversuch in ritualisierte Amtshandlungen verwandelt. Aber wer weiß: Vielleicht kommt 2033 tatsächlich der große Tag, an dem wir endlich erfahren, was in diesem sagenumwobenen Akt steht. Und vielleicht werden wir feststellen, dass die eigentliche Sensation nicht der Inhalt ist, sondern die jahrzehntelange Energie, die darauf verwendet wurde, ihn zu schützen. Ein Aufwand, der fast sentimental stimmt – so sehr hat man sich in der Waldheimat an das Verbergen gewöhnt, dass Transparenz selbst schon wieder als verdächtig gilt. In dieser Atmosphäre, so scheint es, atmen nicht die Menschen leichter, sondern nur die Akten.