Wenn die Geschichte hustet, bekommt die Politik Fieber

Es ist ein altbekannter Treppenwitz der Weltpolitik, dass Staatsmänner stets erst dann die Ohren spitzen, wenn das Echo ihrer eigenen Versäumnisse längst zum Donnerschlag geworden ist. In der Ukraine, wo der Krieg als permanenter Hintergrundton den politischen Diskurs wie ein schlecht gestimmtes Cembalo begleitet, droht dieses Echo nun, die feinen Porzellantassen im Präsidentenpalast erzittern zu lassen. Walerij Saluschnyj – General, Held, Diplomat, und nun offenbar auch inoffizieller Hofnarr mit scharf geschliffener Feder – hat einen dieser seltenen Texte veröffentlicht, die wie ein höfliches, aber unmissverständliches „Du hast’s verbockt“ klingen. Ein Gastbeitrag für den Telegraph, aber eigentlich ein offener Brief an die Nation, adressiert an jenen Mann, der derzeit die politische Bühne wie ein hyperaktiver Conférencier dominiert: Wolodymyr Selenskyj.

Dass der General seinen Beitrag nicht gleich „Wie man sich auf eine Invasion nicht vorbereitet – ein Leitfaden für Staatsoberhäupter“ genannt hat, ist vermutlich nur einer diplomatischen Erziehung zu verdanken, für die britische Botschaften ja bekannt sind. Doch der Inhalt lässt wenig Raum für Interpretationen. Und noch weniger für Ausreden.

Vom Umgang mit Warnsignalen: Wenn die Sirenen heulen, aber einer Kopfhörer trägt

Saluschnyj erinnert seine Landsleute daran, dass die russische Armee im Jahr vor der Invasion so sichtbar aufrüstete, dass selbst ein blinder Kosakenhengst es hätte bemerken müssen. Währenddessen, so schreibt der Ex-General mit der stoischen Präzision eines Mannes, der an der Front gelernt hat, nicht zu übertreiben, ging in der Ukraine das Gegenteil vor sich – weniger Geld, weniger Material, weniger alles. Man könnte meinen, die Regierung habe das nationale Verteidigungsbudget wie einen lästigen Stapel Steuerunterlagen betrachtet: „Kann warten. Irgendwann nächstes Jahr.“

Es folgt der entscheidende Satz, der in seiner Lakonie so kalt ist wie ein sibirischer Februarmorgen: „Dadurch traf unser Militär die umfassende Invasion […] mit einem enormen Mangel an allem – von Personal bis zu Waffen.“ Übersetzt ins Politische heißt das ungefähr: „Wir standen da wie eine Marching Band, die zur Schlacht erscheint, aber leider nur mit Flöten und Tamburinen.“

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Zwischen den Zeilen steht der Vorwurf, den niemand auszusprechen wagte, solange die Bomben fielen und die Kameras liefen: Selenskyj habe Warnungen der Militärführung ignoriert. Man wollte wohl Optimismus signalisieren. Oder staatsmännische Ruhe. Oder, wahrscheinlicher, schlicht nicht die Wahlkampfstory ruinieren, in der der Präsident als unbeugsamer Held jeder Lage gerecht wurde. Doch irgendwann rächt sich jede PR-Strategie, die mehr auf Leuchtring und Instagram setzt als auf Logistiklisten und Munitionspläne.

Der Rivalitäts-Schwefelgeruch: Wenn zwei Männer um die gleiche Historienseite konkurrieren

Dass Saluschnyj beliebt ist, wäre eine Untertreibung – er ist der Typ Mann, dem in der Ukraine sogar seine Feinde auf Hochzeiten gratulieren würden. Einer dieser wortkargen Militärs, die man respektiert, weil sie darauf bestehen, dass Krieg nicht primär eine Bühne für Pathos ist, sondern eine für Mathematik, Mechanik und gelegentlichen Wahnsinn.

Dass es zwischen ihm und Selenskyj geknirscht hat, ist daher keine Überraschung. Besonders die Schlacht um Bachmut wurde zu einer Art politischem Rosenkrieg, nur mit mehr Artillerie und weniger Romantik. Der General riet zum Rückzug, der Präsident bestand auf der Verteidigung – ganz so, als hätte man zwei Ärzte vor einem leidenden Patienten und der eine wolle amputieren, der andere aber lieber noch eine Instagram-Story drehen.

Die Ironie: Die meisten Analysten geben heute Saluschnyj recht. Wer hätte gedacht, dass militärische Entscheidungen manchmal besser Militärs überlassen werden sollten und nicht jenen Politikern, die gelernt haben, dass Standhaftigkeit auf internationalen Konferenzen mehr Applaus bringt als nüchterne Lagebeurteilungen?

Der General, der mahnt, aber nicht verhandelt: Das Friedensgespenst und seine Fallstricke

Wer allerdings glaubt, Saluschnyj sei nun zum ukrainischen Friedenstauben-Flüsterer avanciert, irrt gewaltig. Der Mann ist Realist, und Realisten sind bekanntlich Menschen, die Zynismus nur deshalb tragen, weil ihnen Illusionen ausgegangen sind.

Seine Warnung ist klar: Ein vorschneller Frieden mit Moskau würde nicht Frieden bringen, sondern eine Atempause – und zwar eine für den Gegner. Den vollständigen Verlust des Donbass nennt er ein Szenario, das Moskau keineswegs zufriedenstellen würde; vielmehr sei das Ziel Russlands die „militärische, wirtschaftliche und politische Zerschlagung der Ukraine“. Kurz gesagt: Wer glaubt, Putin würde sagen „Na gut, dann behalten wir Donezk und gut ist’s“, glaubt vermutlich auch noch an den Weihnachtsmann.

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Für Saluschnyj gibt es daher nur eine Antwort: massive Sicherheitsgarantien, echte, belastbare. Nicht die Art von Versprechen, die westliche Diplomaten abgeben, wenn sie eine Pressekonferenz früher beenden wollen, sondern solche, die man tatsächlich nicht bricht – auch dann nicht, wenn die eigene Gasrechnung steigt.

Epilog: Eine Nation zwischen zwei Wahrheiten

So steht die Ukraine nun da, gefangen zwischen zwei unbequemen Wahrheiten: der militärischen Analyse eines Generals, der weiß, wovon er spricht, und dem politischen Instinkt eines Präsidenten, der weiß, wie man im internationalen Rampenlicht überlebt. Saluschnyj wirft keine Bomben, aber Worte – und manchmal sind Worte gefährlicher, weil sie nicht explodieren, sondern nachhallen.

Dass diese Diskussion nun lauter wird, nachdem Selenskyj seinen langjährigen Vertrauten Jermak entlassen musste, zeigt: Die politische Plattentektonik in Kiew verschiebt sich. Und wer weiß – vielleicht steht irgendwann tatsächlich die Frage im Raum, die manche hinter vorgehaltener Hand schon flüstern: Wer führt dieses Land im Krieg besser? Der Mann mit der Uniform oder der Mann mit der Kameraausstrahlung?

Doch bis dahin bleibt eines gewiss: Die Ukraine braucht beides – einen, der kämpft, und einen, der spricht. Und vielleicht, eines Tages, sogar einen, der zuhört.

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