Der genetische Jahrmarkt der Eitelkeiten

Es gibt mediale Sensationen, die so zuverlässig wiederkehren wie Fußpilz in Gemeinschaftsduschen: Man glaubt, sie seien endgültig kuriert, und plötzlich sind sie wieder da – diesmal in HD, mit dramatischer Filmmusik und Experten im Halbdunkel, die so bedeutungsvoll in die Kamera blicken, als hätten sie gerade den genetischen Urknall entdeckt. Die neue britische Doku über Hitlers angeblich entschlüsselte DNA gehört genau in diese Kategorie. Sie präsentiert sich wie ein wissenschaftliches Erdbeben, ist aber eher ein lebhaft bebender Pudding aus Spekulationen, Sensationslust und jener ganz besonderen medienindustriellen Sehnsucht: der Hoffnung, die ultimative Erklärung für das Böse möge sich doch irgendwo zwischen einem Genmarker und einem spektakulär inszenierten Nahaufnahme-Shot finden lassen. Und selbst wenn die Wissenschaft in diesem Fall höflich räuspert und auf methodische Grenzen hinweist – der Boulevard wird schon dafür sorgen, dass am Ende trotzdem irgendein „Schock!“ über den Bildschirm hüpft wie ein hyperaktives Gummimännchen.

Wenn das Böse im Erbgut liegt – und das Erbgut im Sofa

Der Ausgangspunkt dieser dokumentarischen Schnitzeljagd ist so grotesk, dass selbst ein durchschnittliches Krimidrehbuch ihn mit rotem Stift verwerfen würde: Blutspuren auf Hitlers Selbstmordsofa. Ein Möbelstück als Biobank, ein Polster als Pathologienarchiv. Man möchte fast annehmen, das Gestühl selbst sei beleidigt, jahrzehntelang nicht als genetische Quelle gewürdigt worden zu sein.
Und natürlich folgt darauf der nächste dramaturgische Handstand: Da keine frischen DNA-Proben von lebenden Verwandten zur Verfügung stehen, müssen ältere, ebenfalls nicht unumstrittene Proben herhalten – ein wissenschaftlicher Kompromiss, der sich in der Doku allerdings anhört wie der Siegeszug eines CSI-Teams, das gerade das Rätsel der Menschheitsgeschichte gelöst hat. Dass seriöse Genetiker bei solchen Methoden die Stirn runzeln, wird elegant unter den Schnitt gesetzt. Die TV-Ästhetik hat Vorrang: Im Bild erscheint schließlich ein Doppelhelix-Modell, das aussieht wie frisch aus der Requisite einer 1990er-Jahre-Sci-Fi-Serie entliehen.

Die große Mutation: Wenn der Mythos mit der Medizin Händchen hält

Und dann kommt er, der erwartbare mediale Höhepunkt: eine Mutation im PROK2-Gen. Eine genetische Variation, die mit dem Kallmann-Syndrom assoziiert ist – einer Krankheit, die die Pubertät verzögern und in seltenen Fällen zu unterentwickelten Geschlechtsmerkmalen führen kann.
Die Doku hebt diesen Befund hervor wie eine Offenbarung, die mit Blitz und Donner direkt vom Himmel gefallen sei. Und man kann fast die kollektive Sehnsucht der Aufbereiter spüren: Wäre es nicht wunderbar, wenn Hitlers monströse Politik irgendwie im Kleinen, im Körperlichen, ja im Intimen erklärbar wäre? Eine tragische medizinische Fußnote als Wurzel des Weltbrands?

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Doch diese Logik ist so alt wie sie gefährlich ist. Sie verrät mehr über das Bedürfnis, das Böse zu banalisieren, als über Hitler. Denn wer glaubt, Weltherrschaftsfantasien und Massenmord ließen sich durch Hormonstörungen erklären, verwechselt Biologie mit Verantwortung und Genetik mit Geschichte. Das ist etwa so sinnvoll, wie den Ersten Weltkrieg anhand der Bartmode des Jahres 1914 erklären zu wollen.

Die genetische Reinheitsprüfung – ein Treppenwitz der Geschichte

Kaum hat man die medizinische Sensationslust überstanden, folgt der nächste Programmpunkt: die Frage nach Hitlers angeblicher jüdischer Herkunft. Die Doku verkündet: „Nein, keine Spur!“ – und liest diese Feststellung mit der Gravität eines Ohrsessels, der gerade das Fundament der Geschichtswissenschaft stabilisiert hat.
In Wahrheit ist diese Debatte ein alter politischer Zirkus, der von Antisemiten, Spinnern, geopolitischen Provokateuren und geschichtsunkundigen Verschwörungskünstlern seit Jahrzehnten am Laufen gehalten wird. Die Frage ist ohnehin grotesk: Hitlers Verbrechen werden weder größer noch kleiner, wenn man hypothetische genetische Linien bemüht. Es ist die ultimative Tragikomödie, dass just jene Ideologie, die Menschen nach „Blut“ selektierte, noch Jahrzehnte später Anlass für pseudogenetische Spekulationen bietet – diesmal allerdings mit dem umgekehrten Ziel, den Täter seinem eigenen Wahn zu überführen.

Man kann förmlich hören, wie die Wissenschaft kollektiv die Augen rollt.

Die „Blaupause eines Diktators“ – oder die Kunst der wissenschaftlichen Überdehnung

Es gehört zur Tradition dieser Art Dokumentationen, die Erkenntnisse überzustrapazieren wie ein billiges Gummiband, das jeder Moment reißen könnte. Ein paar Marker hier, eine Assoziation dort, und schon wird daraus ein Persönlichkeitsprofil – eine „Blaupause“ gar, als ließe sich Charakter aus DNA herausfiltern wie Kaffee aus einem Automaten.
Doch menschliches Verhalten ist kein Laborprodukt. Es ist ein gewaltiges Zusammenspiel aus Umwelt, politischer Kultur, Sozialisation, Ideologie, persönlichen Entscheidungen und den kleinen und großen Zufällen der Geschichte. Eine Diktatur lässt sich nicht mit einem Pipettenset erklären – auch wenn die Bildregie noch so gern über Chromosomenmodelle fährt.

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Der Zuschauer als genetischer Voyeur – und der eigentliche Skandal

Am Ende offenbart die Doku weniger über Hitler als über uns: über unsere mediale Gier nach psychologischer Entzauberung, nach biografischem Voyeurismus, nach der simplen Erklärung für komplexe Abgründe. Die Vorstellung, das Böse sei in einer Mutation, einem Molekül, einer winzigen Abweichung im Erbgut festgeschrieben, entlastet uns bequem von der Konfrontation mit der banalen Wahrheit: Hitlers Verbrechen hatten politische, ideologische und soziale Ursachen – keine molekularen.

Dass die Doku mit ihrem dramatischen Titel dennoch suggeriert, Genforschung könne die „Blaupause eines Diktators“ liefern, gehört zu jener Sorte pseudowissenschaftlicher Effekthascherei, die sich selbst für mutig hält, während sie eigentlich nur die Trivialisierung historischer Verantwortung betreibt.

Epilog in Chrom und Schaum: Warum wir besser wissen sollten

Man kann über die Doku lachen – satirisch, polemisch, zynisch, gerne auch sehr laut. Aber die eigentliche Pointe ist bitter: Immer wenn Geschichte zum genetischen Krimi heruntergekocht wird, verliert sie ihre moralische Schwerkraft. Und das ist gefährlicher als jede Erbmutation.
Denn die Vorstellung, ein Diktator sei ein biologisches Defektprodukt, statt ein handelnder Mensch mit Ideologie, Willen und Verantwortung, ist die zarteste Versuchung der Entlastung. Sie exkulpiert, wo man erklären müsste. Sie vermenschlicht das Werkzeug und entmenschlicht die Opfer.

Darum bleibt die wichtigste Erkenntnis: Nicht in Blutspuren, sondern in Archiven, in Reden, in Taten und in Strukturen offenbart sich das Böse. Wer es in Genen sucht, hat schon verloren – und zwar gegen die Propaganda, die er eigentlich entlarven wollte.

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