Der fromme Wunsch nach der tadellosen Gesinnung

Es gehört inzwischen zum guten Ton, ja zur moralischen Vorspeise eines jeden öffentlichen Auftritts, die heilige Formel „Haltung zeigen“ anzustimmen. Man spricht sie mit jener Mischung aus pathetischer Selbstvergewisserung und nervösem Blick zur Seite, als müsse man sicherstellen, dass auch alle Anwesenden wissen: Hier steht nicht einfach ein Journalist, hier steht ein Mensch von unverhandelbarer Integrität — ein Tempel der Werte, ein Bollwerk der Prinzipien, ein Leuchtturm im Nebel der Unklarheit.
Doch in dem Moment, in dem dieser Anspruch mit der Pflicht kollidiert, nüchtern, akkurat und im besten Sinne langweilig über die Realität zu berichten, spaltet sich die journalistische Seele wie ein schlecht verleimtes Möbelstück aus dem Sonderangebot.
Denn Haltung ist Wärme, ist subjektive Aufladung, ist Wollen und Wertung. Und Bericht ist Kälte, ist Nüchternheit, ist Aushalten, dass Fakten nicht immer die eigene Sehnsucht bestätigen.
Wer behauptet, diese beiden Sphären ließen sich harmonisch vereinen, ohne dass etwas Wesentliches zu Bruch geht, hat wahlweise ein bemerkenswert elastisches Verhältnis zur Logik oder eine beneidenswerte Resistenz gegenüber inneren Widersprüchen.

Die moralische Rüstung als redaktioneller Dresscode

Heute hat beinahe jede Redaktion eine Art Gesinnungs-Garderobe: Man zieht die Haltung an wie ein modisches Accessoire, das schon dadurch wertvoll erscheint, dass es getragen wird.
Man fordert nicht nur, dass Journalisten ein Gespür für Konflikte, politische Prozesse oder gesellschaftliche Bruchlinien haben — nein, die Haltung verlangt eine klare Bereitschaft, den moralischen Zeigefinger stets griffbereit zu halten, ordentlich poliert, im Handschuhfach der Empörung.
Doch es ist ein seltsamer Dresscode. Er schreibt vor, was man sein soll, aber verschweigt, was man dafür nicht mehr sein kann: unparteiisch, abwägend, manchmal ambivalent.
Ambivalenz jedoch gilt heute als Verrat.
Wer sagt „Ich weiß es noch nicht“, wird behandelt wie ein ketzerisch vor sich hinmurmelnder Sonderling, der im Zeitalter der moralisierten Gewissheiten nicht begriffen hat, dass Nachdenken längst durch Positionieren ersetzt wurde.

Das Paradox der objektiven Haltung

Die Forderung, man müsse „Haltung zeigen“ und dennoch objektiv berichten, ist ein bisschen so, als wolle man gleichzeitig Nieselregen und Sonnenschein in eine Thermoskanne füllen und erwarten, dass am Ende ein Regenbogenextrakt herauskommt.
Objektivität verlangt, Distanz zu wahren. Haltung verlangt, Nähe zu zeigen — nicht zu den Menschen, sondern zur eigenen moralischen Agenda.
Wer glaubt, beides gleichzeitig zu vollbringen, bewegt sich in einem gedanklichen Zirkuskunststück, das selbst ein erfahrener Akrobat nur unter Verzicht auf die Gesetze der Schwerkraft meistern könnte.
Das Resultat ist ein journalistisches Hybridwesen, halb Chronist der Realität, halb Missionar des Richtigen. Und wie bei allen Hybriden stört man sich früher oder später an dem, was nicht ganz zusammenpasst:
Die Fakten sind störrisch, der Tonfall moralinsauer; die Analyse will präzise sein, aber die Haltung verlangt Geschlossenheit.
Am Ende wird beides halbgar. Die Reportage wirkt angestrengt, als lausche man einem Wetterbericht, der sich zugleich verpflichtet fühlt, dem Regen seine problematische Struktur zu erklären.

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Der moralische Imperativ als Selbstbedienungsbuffet

Interessant ist, wie selektiv Haltung funktioniert. Sie wird nicht als rationale Maxime verstanden, die auf alle Themen gleich angewandt wird, sondern als lose Sammlung modischer Überzeugungen, die gerade im Diskurs zirkulieren.
Gestern noch wurde gegen Übervereinfachung gepredigt, heute wird sie in komprimierter Form verabreicht, solange sie auf der richtigen Seite steht.
„Haltung“ bedeutet praktisch: Die Welt ist kompliziert, aber wir sagen dir, auf welcher Seite du geistig zu stehen hast — und alles andere darfst du dann später differenzieren, sofern Bedarf besteht.
Die journalistische Skepsis, einst ein stolzes Handwerk, das Fakten prüfte wie ein Goldschmied seine Legierungen, verkommt zur Dekoration eines moralischen Buffets, an dem man sich jene Elemente herauspickt, die zum eigenen Selbstbild passen.
Es ist wie ein All-you-can-eat für Weltanschauungen, aber bitte nur aus der linken oder rechten Schüssel, je nach Redaktionslage.

Die subtile Verachtung des Publikums

Haltung verlangt nicht nur Mut, wie man uns gern erzählt, sondern vor allem ein gewisses Maß an Überheblichkeit.
Denn wer Haltung zeigt, signalisiert: Ich weiß, was richtig ist — und wer es noch nicht weiß, soll sich an mir orientieren.
Der Journalist wird vom vermittelnden Beobachter zum moralischen Paten degradiert.
Die Leser, Zuschauer oder Hörer werden dabei zu erwartungstreuen Schutzbefohlenen umdeklariert, die es ohne die journalistische Werte-Infusion gefährlich schwer hätten, die Welt in ihrer wahren moralischen Struktur zu erkennen.
Es ist eine Haltung, die dem Publikum freundlich zulächelt, während sie ihm gleichzeitig insgeheim unterstellt, ohne pädagogische Betreuung unzurechnungsfähig zu sein.

Die unbestechliche Wahrheit: Haltung ist die kleine Schwester der Propaganda

Natürlich würde kein Journalist, der etwas auf sich hält, je zugeben, dass Haltung und Propaganda den gleichen Stammbaum teilen — nur dass die eine sich mit Gewissen schmückt, während die andere sich offen auf die Fahne schreibt, was sie will.
Doch die Mechanik ist verblüffend ähnlich:
Die Welt wird durch ein Raster gesteckt, das im Voraus festlegt, wie sie zu interpretieren ist.
Unliebsame Fakten werden relativiert, abgemildert, in Kontexte eingebettet, die zufällig hervorragend zur Haltung passen.
Liebsame Fakten hingegen werden mit der Gravität einer historischen Zäsur vorgetragen.
Propaganda schreit: „Ich habe Recht!“
Haltung murmelt: „Ich bin gut.“
Beide jedoch wollen dasselbe: Lenken, formen, prägen.

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Der verdächtige Journalist

Und deswegen gilt — ganz nüchtern, beinahe altmodisch:
Ein Journalist, der von „Haltung zeigen“ spricht, ist per Definition einer, dem man misstrauen muss.
Nicht weil er böse wäre. Oder korrupt. Oder inkompetent.
Sondern weil er mit seinem eigenen moralischen Brennglas hantiert, während er gleichzeitig behauptet, die ungeschminkte Realität abbilden zu wollen.
Das ist wie ein Fotograf, der die Linse mit Vaseline einreibt und dann empört erklärt, die Welt sei halt nun einmal so verschwommen.
Wer Haltung zeigen will, soll kommentieren, soll Kolumnen schreiben, soll in Talkshows auftreten, soll meinetwegen predigen oder deklamieren.
Doch wer berichtet, wer dokumentiert, wer aufklären will:
Der soll Haltung für den Moment ablegen wie ein Opernsänger den Mantel, bevor er auftritt.
Sonst singt er nicht — er posaunt.

Schlussbemerkung: Ein Augenzwinkern für alle

Natürlich ist es leicht, all dies mit zu viel Ernst vorzutragen. Die Welt ist kompliziert, und Journalisten sind eben auch nur Menschen, die zwischen Deadline und Dissonanz balancieren.
Doch vielleicht genügte manchmal ein schlichtes Eingeständnis:
Dass Objektivität ein Ideal ist, das man anstrebt, aber nie vollständig erreicht; und dass Haltung etwas Schönes sein kann, solange sie nicht vorgibt, zugleich der Maßstab für Wahrheit zu sein.
Ein wenig Humor über die eigene moralische Inbrunst, ein wenig ironische Distanz zum Drang nach ständiger Positionierung — und schon könnte der Journalismus seine Würde zurückgewinnen, ohne sich in einem Panzer aus Haltung zu versteifen.
Man darf ja Haltung haben.
Man sollte sie nur nicht mit Wahrheit verwechseln.

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