Es ist nicht so wichtig, was wir denken – wichtiger ist, worüber wir nachdenken
I. Die unsichtbare Hand, die Schlagzeilen schreibt
Es gibt Dinge, die man nicht sehen, aber dennoch fühlen kann – wie die Gravitation, die schlechte Laune an Montagen oder die unsichtbare Hand der öffentlichen Meinung. Diese Hand schreibt keine Gedichte, sie klickt keine Likes, sie flüstert nur leis ins Ohr: „Darüber solltest du jetzt nachdenken.“ Und wir – brave Kinder eines Medienzeitalters, das mehr Tempo als Richtung kennt – gehorchen. Nicht, weil wir dumm wären, sondern weil wir müde sind. Müde vom Scrollen, müde vom Filtern, müde von der permanenten Pflicht, Haltung zu zeigen, während uns längst der Kompass abhandenkam.
Agenda Setting – das klingt nach Strategiepapier einer PR-Agentur oder nach einem Workshop für politisch Ambitionierte. Tatsächlich ist es die Kunst, nicht zu sagen, was wir denken sollen, sondern nur dafür zu sorgen, womit wir uns beschäftigen. Denn wer die Themen bestimmt, hat schon gewonnen, bevor das erste Argument gefallen ist. Die öffentliche Debatte ist kein Markt der Meinungen, sondern ein Schachbrett, auf dem die Bauern glauben, frei zu ziehen, während die Dame längst die Partie lenkt.
II. Die Tagesthemen als liturgische Handlung
Man muss sich das Ritual der modernen Informationsaufnahme vorstellen wie eine säkulare Messe. Um 20 Uhr ertönt die Fanfare, der Sprecher erhebt sich zum Hohepriester der Wichtigkeit, und Millionen Gläubige lauschen ehrfürchtig, was heute Bedeutung hat. Ob Krieg, Klima oder Klopapier – das Sakrale der Nachricht liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern in ihrer bloßen Verkündung. Wenn etwas in den Nachrichten ist, existiert es. Wenn nicht, ist es bestenfalls ein Gerücht oder eine Fußnote der Wirklichkeit.
Diese liturgische Struktur des Denkens hat uns konditioniert. Wir warten darauf, dass jemand uns sagt, worüber wir uns zu empören haben, und nennen es dann „informierte Bürgerlichkeit“. Der Algorithmus – dieser elektronische Hohepriester – sorgt dafür, dass wir jeden Tag frisch beichten dürfen: neue Skandale, neue Empörungen, neue Anlässe, unsere moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Nur, dass diese Überlegenheit ein Produkt ist, so sorgfältig designt wie die Verpackung einer Bio-Schokolade, die in demselben Konzernregal liegt wie das Zuckerwasser, gegen das wir angeblich rebellieren.
III. Das Empörungskarussell und die Hypnose des Jetzt
Es gibt eine unheimliche Eleganz in der Art, wie Themen kommen und gehen. Heute retten wir das Klima, morgen die Demokratie, übermorgen unser WLAN-Passwort – alles mit derselben hysterischen Energie. Das Karussell dreht sich schneller, je mehr wir uns an die Bewegung gewöhnen. Wer stillsteht, fliegt raus, gilt als ignorant, gefährlich oder – noch schlimmer – uninformiert.
Doch hinter der Geschwindigkeit verbirgt sich die eigentliche Meisterleistung des Agenda Settings: die Entschleunigung des Denkens. Denn wer ständig reagieren muss, hat keine Zeit, zu reflektieren. Zwischen Empörung und Ermüdung bleibt kein Platz für Erkenntnis. Der Bürger als Dauerkommentator seiner eigenen Desorientierung – das ist das Idealbild einer Gesellschaft, die Information mit Wahrheit verwechselt.
IV. Der Medienmensch als moderner Narziss
Nie zuvor hatten wir so viele Möglichkeiten, uns selbst zu äußern, und nie zuvor war das Echo so gleichförmig. Die sozialen Netzwerke, jene vermeintlichen Demokratieverstärker, sind in Wahrheit Verstärker der Lautstärke. Der Algorithmus liebt die Extreme – Wut verkauft sich besser als Weisheit, Häme klickt besser als Haltung.
Und so betrachten wir uns in den digitalen Spiegeln und halten das Flimmern der Timeline für das Funkeln des Verstands. Jeder Tweet ein Mikro-Manifest, jeder Kommentar ein Platz auf der Bühne. Doch das Stück, das wir spielen, hat längst jemand anderes geschrieben. Agenda Setting ist nicht die Zensur der Meinungen – es ist ihre Choreografie. Wir dürfen tanzen, so wild wir wollen, solange der Rhythmus bleibt, wie er ist.
V. Die sanfte Diktatur der Wichtigkeit
Das Raffinierte an der modernen Beeinflussung ist, dass sie nicht wie Zwang aussieht. Niemand verbietet uns, andere Themen wichtig zu finden. Wir dürfen alles denken, nur interessiert es dann niemanden. Relevanz ist die neue Zensur – und sie funktioniert, weil sie subtil ist.
In Talkshows, Leitartikeln und Hashtag-Kampagnen entsteht eine Hierarchie der Bedeutsamkeit: Was oft wiederholt wird, wird wahr. Was verschwiegen wird, verdunstet. Und während wir glauben, uns im freien Diskurs zu bewegen, schwimmen wir brav im Fluss der vorstrukturierten Aufmerksamkeit. Die großen Fragen – nach Macht, Besitz, Gerechtigkeit – tauchen nur dann auf, wenn sie ästhetisch genug verpackt sind, um in ein Storyformat zu passen.
VI. Zwischen Ironie und Untergang
Vielleicht bleibt uns am Ende nur der Spott, um das System zu überleben, das uns so elegant gängelt. Die Ironie ist die letzte Waffe des Ohnmächtigen – das Augenzwinkern, das dem Zuschauer signalisiert: Ich sehe das Spiel, aber ich spiele mit. Doch selbst die Satire wird längst von denselben Mechanismen vereinnahmt, die sie verspottet. Die Talkshow-Satiriker sind die neuen Hohepriester des ironischen Konsenses: kritisch, aber bequem konsumierbar.
Manchmal frage ich mich, ob Zynismus nicht die anständige Form der Verzweiflung ist – eine Art geistiges Recycling, das aus der eigenen Machtlosigkeit wenigstens Stil macht. Denn wer den Wahnsinn durchschaut, aber nichts ändert, kann immerhin darüber schreiben. Und das ist, in einer Welt der Sprechblasen und Slogans, vielleicht der letzte Rest von Würde.
VII. Epilog: Das Denken nach der Denklenkung
Vielleicht müssen wir uns wieder an das Unbequeme gewöhnen: an das Schweigen, das keine Schlagzeile braucht. An die Pausen, in denen wir nichts liken, nichts posten, nichts teilen. Denn erst, wenn wir uns fragen, warum wir über etwas nachdenken, erkennen wir, wer uns das Thema ins Bewusstsein geschoben hat.
Agenda Setting ist kein Feindbild, das man stürzen kann – es ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst betrachten sollten. Es zeigt, dass wir längst nicht mehr in Diktaturen der Meinung leben, sondern in Demokratien der Ablenkung. Und während wir klug darüber twittern, welche Themen „die Medien“ setzen, vergessen wir, dass auch dieser Gedanke bereits gesetzt wurde.
Doch wer weiß – vielleicht ist gerade das die letzte Freiheit: zu lachen, obwohl man weiß, dass man gelenkt wird. Und das Augenzwinkern, das dabei bleibt, ist das kleine rebellische Zeichen eines Geistes, der sich weigert, ganz domestiziert zu werden.
VIII. Die Architekten der Wirklichkeit
Walter Lippmann, dieser kühl amerikanische Rationalist, hat das Dilemma schon 1922 beschrieben: Wir leben nicht in der Welt, sondern in einem „pseudo-environment“ – einer Projektion, die uns serviert wird, weil die echte Welt zu komplex, zu schmutzig, zu unberechenbar wäre. Ein freundlicher Ersatz, eine Art intellektuelle Convenience-Food-Version der Realität. Und wir essen brav, weil das Menü des Mainstreams leichter zu verdauen ist als die ungewürzte Wahrheit.
Noelle-Neumann, die deutsche Evangelistin der Schweigespirale, fügte später hinzu: Der Mensch sagt nur, was er glaubt, dass andere hören wollen. Das Schweigen der Minderheit ist nicht Unterwerfung, sondern kluge Anpassung. Wer gegen den Strom schwimmt, muss nicht nur gut schwimmen können, sondern auch bereit sein, nasse Schuhe zu tragen.
Und dann Chomsky, der alte Dissident mit der Sanftheit eines Professors und der Präzision eines Chirurgen: Medien seien nicht dazu da, uns zu informieren, sondern um Zustimmung zu erzeugen. „Manufacturing Consent“ – das klingt nach Fabrik, nach Massenproduktion, nach Fließbanddenken. Und genau das ist es. Unsere Meinungen werden verpackt, etikettiert und ausgeliefert – „jetzt neu: moralisch abbaubar, 100 % empörungsfrei!“
IX. Vom Denken als Lieferkette
Der moderne Diskurs ist eine Logistikkette: Themen kommen, Themen gehen, die Öffentlichkeit ist das Lagerhaus. Jede Nachricht muss just-in-time geliefert werden, sonst verfällt sie. Die Halbwertszeit der Bedeutung ist mittlerweile kürzer als die eines viralen Tanzvideos.
Die Journalisten liefern die Paletten, die Influencer dekorieren sie, und wir Konsumenten posten Fotos von den Verpackungen, in denen nichts mehr steckt. Und wenn jemand den Mut hat, nach dem Inhalt zu fragen, antwortet die Öffentlichkeit mit jener milden Gereiztheit, die nur entsteht, wenn man ahnt, dass man betrogen wurde, es aber nicht zugeben will.
X. Karl Kraus hätte heute keinen Twitter-Account
Man stelle sich Karl Kraus im 21. Jahrhundert vor – der Furor, die Syntax, das Florett aus Grammatik und Galle. Er würde die Timeline zerreißen, bevor sie sich überhaupt laden könnte. Denn Kraus’ Zorn war eine Form der Hygiene, eine geistige Desinfektion gegen das Virus der Phrase.
Doch die Gegenwart hat keinen Platz mehr für Furor, sie duldet nur noch Stimmung. Wo Kraus Satz für Satz sezierend Wahrheit aus Sprache schlug, retweeten wir lieber wohltemperierte Empörung. Ein „Hot Take“ ersetzt das Denken, ein „Thread“ die Analyse. Der Unterschied zwischen Haltung und Haltungsnote ist nur noch einer der Formatierung.
In diesem Sinne ist der heutige Intellektuelle ein Clown mit Bibliotheksausweis: Er darf alles sagen, solange es nicht zu lang ist. Die Kunst besteht darin, komplex zu wirken, ohne den Algorithmus zu langweilen. Die Aufmerksamkeitsspanne ist der neue Index der Macht.
XI. Max Goldt und die Ironie als Notwehr
Max Goldt, dieser leise Aristokrat der Albernheit, hat einmal sinngemäß gesagt, dass die Welt wohl kaum besser, aber wenigstens komischer wird, wenn man sie präzise beschreibt. Und das ist vielleicht der einzige Trost, den die Postmoderne uns noch gönnt: dass wir lachen dürfen, während alles zerbröselt.
Die Ironie ist keine Flucht, sie ist ein Schutzanzug. Wer ironisch ist, hat die Absurdität erkannt, ohne daran zu zerbrechen. Es ist, als würde man auf einem sinkenden Schiff den Tischdeckenwechsel kommentieren – sinnlos, aber elegant.
XII. Die Demokratisierung der Dummheit
Früher waren es die Herrschenden, die das Denken der Massen steuerten. Heute steuern die Massen sich selbst – effizienter, freiwilliger, algorithmisch begabt. Jeder ist sein eigener Zensor, sein eigener Pressesprecher, sein eigener Troll. Das ist die vollendete Demokratie des Halbwissens: keine Tyrannei von oben, sondern eine Kakophonie von überall.
Wir leben in einer Welt, in der die größte Bedrohung der Freiheit nicht die Überwachung, sondern die Ablenkung ist. Orwell warnte vor dem Staatsterror, Huxley vor der Unterhaltung – und Huxley hatte recht. Die Diktatur der Wichtigkeit braucht keine Gewalt, nur WLAN.
XIII. Nach dem Lärm
Vielleicht ist das Denken selbst zu einem kulturellen Anachronismus geworden, ein Relikt aus Zeiten, als Sprache noch Werkzeug war und nicht Waffe. Vielleicht müssen wir erst verlernen, über das zu reden, worüber „man“ redet, um überhaupt wieder etwas zu sagen zu haben.
Es gibt keine größere Rebellion gegen das Agenda Setting als das Schweigen – nicht das resignierte, sondern das prüfende. Die Stille, die nicht aus Desinteresse, sondern aus Widerstand entsteht.
Denn wer heute schweigt, weil er selbst entscheiden will, worüber er nachdenkt, der begeht bereits einen kleinen Akt der Revolution. Und vielleicht beginnt alle Aufklärung – die echte, nicht die getwitterte – genau dort: in der Weigerung, den täglichen Themenlieferungen Bedeutung zu schenken.
XIV. Coda – Der letzte Gedanke
Es ist nicht so wichtig, was wir denken – wichtiger ist, worüber wir nachdenken.
Doch vielleicht, ganz vielleicht, liegt in dieser Erkenntnis die Möglichkeit, das Spiel zu wenden. Wenn wir begreifen, dass jede öffentliche Erregung auch eine private Ablenkung ist, können wir beginnen, die Agenda zurückzuerobern – Satz für Satz, Gedanke für Gedanke, fernab der Schlagzeilen, im stillen Raum zwischen zwei Klicks.
Und wenn dann eines Tages ein Nachrichtensprecher verkündet, dass es heute nichts gibt, worüber wir nachdenken müssten – dann, ja dann, wäre das vielleicht die ehrlichste Schlagzeile seit Erfindung der Presse.