oder: Wie wir lernten, das Abendland zu lieben und trotzdem abzuschaffen
Es fängt, wie so vieles in Europa, ganz harmlos an. Mit guten Absichten, einem milden moralischen Überlegenheitsgefühl und einem Glas Weißwein auf der Dachterrasse. Niemand wollte wirklich das „Abendland“ abschaffen. Es hat sich einfach so ergeben, zwischen Achtsamkeitsseminar, Gender-Workshop und dem Entschluss, Weihnachten künftig „Winterruhezeit“ zu nennen. Es war ja auch nie wirklich unser Abendland, eher ein ästhetisches Konzept. Irgendwas zwischen Goethe und Glühwein, zwischen Kant und Kerzenschein – schön, aber unpraktisch.
Und wie immer, wenn etwas unpraktisch wird, geben wir es auf. Tradition, Religion, nationale Identität – das klingt alles so nach alten Möbeln, die man aus der Altbauwohnung tragen muss, bevor man das Parkett abschleifen kann. Wir sind schließlich modern, weltoffen, reflektiert. Und ein bisschen stolz darauf, dass wir uns für nichts mehr schämen, außer für uns selbst.
Wir und unsere moralisch-biologisch abbaubaren Werte
Man könnte meinen, wir hätten gelernt, aus der Geschichte. Tatsächlich haben wir gelernt, sie zu kompostieren. Unsere Werte sind inzwischen biologisch abbaubar: ein bisschen Demokratie, ein Hauch Toleranz, sorgfältig getrennt und etikettiert nach ESG-Kriterien. Wir nennen es Fortschritt, wenn wir aufhören, an etwas zu glauben, und Nachhaltigkeit, wenn wir dabei wenigstens recyceltes Papier verwenden.
Selbstkritik war einst die große europäische Tugend, heute ist sie eine Ersatzreligion. Wer sich nicht mindestens einmal wöchentlich für die Kolonialgeschichte, das Christentum, den Kapitalismus oder das eigene Dasein entschuldigt, gilt als unbeleckt. Wir pflegen unsere Schuldgefühle wie Bonsais – klein, ästhetisch, pflegeleicht, aber stets präsent auf dem Couchtisch des Gewissens.
Toleranz als Wellnessprogramm
Toleranz, das klingt so nach Saunagang fürs Gewissen: kurz schwitzen, dann abkühlen, und man fühlt sich moralisch gereinigt. Wir verwechseln Offenheit mit Orientierungslosigkeit, Dialog mit Selbstauflösung. Es gibt kaum noch etwas, das wir nicht verstehen wollen – außer, dass man vielleicht auch mal eine Grenze ziehen könnte.
Stattdessen erklären wir jede kulturelle Selbstbehauptung zur Mikroaggression. Tradition ist nur dann erlaubt, wenn sie von anderen kommt. Wenn ein Imam über Werte spricht, nennen wir es kulturelle Vielfalt. Wenn ein deutscher Lehrer dasselbe tut, nennen wir es latent reaktionär.
Wir sind so weltoffen geworden, dass uns die Zugluft der eigenen Prinzipien langsam erkältet.
Europa, das sanftmütige Freilichtmuseum
Man stelle sich Europa als Freilichtmuseum vor: hübsch, gepflegt, liebevoll kuratiert – nur dass die Besucher längst mehr Temperament haben als die Ausstellung. Wir haben die großen Symbole unserer Zivilisation in Glasvitrinen gesperrt: Freiheit, Aufklärung, Souveränität – alles hinter Sicherheitsglas, bitte nicht anfassen.
Und während wir ehrfürchtig Schilder mit „Kontext beachten!“ aufstellen, schleichen andere durchs Museum und fragen, ob sie den Laden nicht übernehmen können. Wir nicken höflich, reichen die Schlüssel und murmeln: „Aber bitte nachhaltig.“
Der Untergang als Eventreihe
Es ist kein Sturm, der uns hinwegfegt, kein Barbar, der an den Toren rüttelt. Unser Untergang kommt als Eventreihe mit Catering. „Diskussionsabend: Ist Identität noch zeitgemäß?“ – inklusive veganem Buffet und musikalischer Begleitung von einer divers besetzten Jazzcombo.
Wir streamen unseren moralischen Verfall in Echtzeit, liken uns gegenseitig für kluge Bekenntnisse zur Beliebigkeit und nennen das dann Diskurs. Der Kulturpessimismus hat keinen Bart mehr, sondern trägt Rollkragen und arbeitet freiberuflich in der Kommunikationsberatung.
Letzte Worte eines saturierten Kontinents
Vielleicht ist das unser eigentlicher Beitrag zur Weltgeschichte: Wir zeigen, wie man zivilisiert verschwindet. Keine Revolution, keine Trümmer, nur ein leises Ploppen, wenn das letzte Glas Prosecco geöffnet wird.
Man wird sich später vielleicht an uns erinnern als jene, die alles verstanden, alles entschuldigt und schließlich alles vergessen haben. Wir sind das Feuilleton unter den Zivilisationen: klug, empfindsam, selbstironisch – und zu beschäftigt, um zu überleben.
Aber immerhin: stilvoll.