Die Quadratur des Halbmonds

Ein polygamer Pilger im Tempel der europäischen Werte

Man stelle sich den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor wie eine Kathedrale aus Glas und Paragrafen, in der die Gläubigen der Moderne täglich das Evangelium der universalen Gleichheit rezitieren. In dieser ehrwürdigen Hallenkonstruktion tritt nun Khaled Saleh Mohammed Al-Anesi auf, ein Mann, dessen Familienstruktur an genealogische Gesamtkunstwerke aus 1001 Nacht erinnert – und der nichts Geringeres verlangt, als dass Europa, dieses alte und nervöse Gebilde aus Prinzipien, Bürokratien und schlechten Gewissen, sich in den Spiegel seiner eigenen Menschenrechte blickt und dabei nicht vor Schreck in die eigene Toga beißt.

Al-Anesi, der jemenitische Flüchtling mit einer ersten, zweiten und dritten Ehefrau, brachte zunächst Frau Nummer Eins und die dazugehörige Kinderschar – immerhin acht Seelen – in die Niederlande. Man kann es den Behörden kaum verdenken, dass sie beim Anblick dieser Familienbilanz tief durchatmeten und still den Etat für Integrationskurse überprüften. Doch Al-Anesi zeigte sich als Mann von Prinzipien: Die anderen beiden Ehefrauen ließ er im Exil, schließlich ist Polygamie im Königreich der Käsebauern und Calvinisten ein moralisches Sakrileg. Er wollte kein Gesetz brechen, nur ein wenig Gerechtigkeit.

Und so beantragte er – fast naiv in seiner Logik – den Nachzug der fünf Kinder aus Ehe zwei und drei. Kinder, wohlgemerkt, keine neuen Gattinnen, kein Haremszug, kein Umzug der orientalischen Hofhaltung. Nur Kinder, die – wie er argumentiert – schließlich auch Teil seines Familienlebens seien. Die niederländische Behörde aber, ungerührt vom Pathos der Vaterliebe, winkte ab: Die Kinder lebten sicher in der Türkei, bei ihren Müttern, geschützt und wohlgenährt unter dem Schirm des Flüchtlingsstatus. Es bestehe keine „Notwendigkeit“, sie ins Land zu holen.

In den dürren Sätzen der Verwaltungslogik klingt das wie: „Sie haben schon genug Familie hier. Machen Sie mal halblang.“

Die Moral als Verwaltungsakt

Doch damit war die Sache natürlich nicht erledigt. Kein moderner Konflikt endet heute in einer Akte, sondern vor einem Gerichtshof. Der Fall wanderte – wie alle Dinge, die zu kompliziert, zu heikel oder zu menschlich sind – nach Straßburg, wo der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich nun an der Gretchenfrage der Multikulturalität abarbeitet:

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Muss ein Staat, der Polygamie verbietet, dennoch das Resultat einer polygamen Verbindung anerkennen, wenn es in Gestalt unschuldiger Kinder anklopft?

Die juristische Eleganz dieses Dilemmas ist beispiellos. Denn streng genommen geht es gar nicht um Polygamie – oh nein, das wäre zu einfach! –, sondern um die „Achtung des Familienlebens“ nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Kinder, so der Antragsteller, haben ein Recht auf Zusammenleben mit ihrem Vater. Und wer könnte da widersprechen, ohne sofort als herzloser Bürokrat mit Betonherz gebrandmarkt zu werden?

Doch gleichzeitig sitzt im Gerichtssaal das Prinzip der westlichen Monogamie wie ein nervöser Zeuge der Zivilisation auf der Anklagebank. Denn wenn die Kinder kommen dürfen, dann ist das Eheverbot nur noch ein Buchstabengebilde – ein moralischer Zaun mit offenem Tor. Heute die Kinder, morgen die Mütter, übermorgen die kulturelle Relativierung des gesamten Familienrechts.

Man kann die Sorge der Niederländer also verstehen: Das Recht auf Familienleben ist ein Menschenrecht, aber auch ein Minenfeld.

Europa, das moralisch gespaltene Imperium

Europa ist, wenn man ehrlich ist, schon seit Jahren auf der Suche nach seiner eigenen Identität zwischen Aufklärung und schlechtem Gewissen. Auf der einen Seite steht die pathetische Rhetorik der universellen Rechte: Jeder Mensch ist gleich, jede Kultur verdient Respekt, jede Lebensform ihren Schutz. Auf der anderen Seite aber steht der neurotische Reflex, die eigenen Werte zu verteidigen – Demokratie, Säkularität, Frauenrechte – vor jenen, die sie mit einer anderen Weltsicht betrachten.

Der Fall Al-Anesi ist deshalb kein Rechtsstreit, sondern ein psychologischer Spiegel. Er zeigt das tiefe Unbehagen eines Kontinents, der gleichzeitig tolerant und moralisch überfordert ist. Der Westen will gerecht sein, aber bitte mit klaren Grenzen; er will humanistisch wirken, aber nicht zu sehr; er will Familien schützen, aber nur solche mit genealogisch überschaubarem Stammbaum.

Und so schraubt sich der Fall zu einer Groteske hoch: Die niederländische Behörde bot Al-Anesi sogar an, sich von seinen anderen beiden Frauen scheiden zu lassen – als bürokratische Erlösungstat, als sakramentales Ritual der Integration. Dann, so hieß es sinngemäß, könnten seine Kinder vielleicht kommen. Man kann sich die Szene vorstellen: Ein Mann zwischen drei Frauen, ein Richter mit Formular, ein Staat, der Eheberatung als Integrationsinstrument entdeckt.

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Europa – das war einmal die Wiege des Humanismus. Heute ist es ein Beichtstuhl der Kompromisse.

Das Paradox der Prinzipien

Man muss kein Zyniker sein, um zu erkennen: Der EGMR steht hier vor einer Entscheidung, die weniger mit Juristerei als mit politischer Philosophie zu tun hat. Wenn er zugunsten Al-Anesis entscheidet, dann öffnet er eine Tür – vielleicht keine große, aber doch eine symbolische –, durch die andere treten werden. Nicht aus Bosheit, sondern aus Logik. Denn das Recht, einmal gewährt, lässt sich nicht kulturell dosieren.

Doch wenn der Gerichtshof gegen ihn entscheidet, dann bleibt die Moralfrage im Raum: Kann Europa ernsthaft von universellen Menschenrechten sprechen, wenn es bestimmte Familienformen – wie fremd oder fremdelnd sie auch sein mögen – kategorisch ausschließt?

So oder so: Das Urteil wird als moralisches Bekenntnis gelesen werden, nicht als juristisches. Und Europa wird sich wieder in zwei Lager teilen – jene, die sagen, man müsse das Herz über das Gesetz stellen, und jene, die das Gesetz als Schutz vor der Auflösung des Herzens begreifen.

Schluss: Die Ironie der Aufklärung

Vielleicht liegt die tiefste Ironie des Falls darin, dass er überhaupt existiert. Denn er zeigt, wie weit die Idee der Menschenrechte gediehen ist – und wie dünn das Eis unter ihr geworden ist. Einst war das Recht auf Familienleben eine humane Reaktion auf Krieg und Trennung, auf Deportation und Unrecht. Heute ist es ein semantischer Kampfbegriff, der Staaten zu moralischen Selbstgesprächen zwingt.

Khaled Saleh Mohammed Al-Anesi, dieser moderne Hiob des Asylrechts, ist nicht der Bösewicht der Geschichte. Er ist ihr Symptom. Er stellt nur die Frage, die Europa nicht hören will: Wie universell sind eure universellen Werte wirklich?

Und so warten wir auf das Urteil von 2026. In der Zwischenzeit wird der EGMR seine Akten stapeln, die Kommentatoren werden sich in moralischer Dialektik üben, und irgendwo in Den Haag sitzt ein Beamter, der heimlich hofft, dass die Kinder in der Türkei bleiben – aus rein administrativen Gründen, versteht sich.

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Am Ende aber wird Europa, wie immer, einen Kompromiss finden: einen juristisch präzisen, moralisch verwaschenen, menschlich halb befriedigenden Satz in der Sprache der Zivilisation.
Und dieser Satz wird, mit der sanften Eleganz des Bürokratendeutschs, in etwa lauten:
„Das Recht auf Familienleben gilt – sofern es nicht gegen das öffentliche Interesse verstößt.“

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