Heute gibt es nur noch zwei Meinungen: die eigene und die falsche

Prolog: Willkommen in der Ära der Selbstgewissheit

Wir leben in einer Zeit, in der die Selbstsicherheit des Individuums nicht mehr nur eine Tugend ist, sondern ein soziales Gebot. Jede Äußerung, jeder Gedanke, jede kleine Regung des Geistes wird sofort katalogisiert, bewertet und in das unbestechliche Raster der eigenen Meinung einsortiert. Wer heute noch an Diskurs glaubt, versteht nicht, dass Diskurs längst zur Performance geworden ist: eine Choreografie der Eitelkeiten, bei der jeder Satz, jedes Argument, jede Nuance den Applaus oder den digitalen Lynchmob provoziert. Die eigene Meinung ist nicht länger Meinung, sie ist Dogma. Und alles andere ist gefährlich, falsch, moralisch fragwürdig und sofort zu exkommunizieren.

Diese neue Epoche hat sich stillschweigend und nahezu unbemerkt in die Alltagsrituale eingeschlichen. Frühstücksfernsehen, Social-Media-Feeds, Firmen-Newsletter, selbst die stille Kaffeepause im Büro – überall wird die Bühne bereitet für das große Schauspiel des Ichs. Die Tragik liegt darin, dass wir glauben, wir würden debattieren. In Wahrheit inszenieren wir uns selbst, während die Welt um uns herum verblasst.

Politik als Theater des Selbstbewusstseins

Politik ist der naheliegende Schauplatz dieser Tyrannei: Wer früher noch Kompromisse suchte, Koalitionen schmiedete, auf den Fluren der Macht debattierte, erlebt heute ein endloses Casting der Selbstgerechtigkeit. Jede Entscheidung wird durch die Linse der eigenen Moral betrachtet, jede Nachricht, jeder Skandal, jede politische Wendung sofort auf ihre Eignung geprüft, das persönliche Weltbild zu bestätigen. Parteien existieren nicht mehr, Ideologien sind irrelevant; was zählt, ist die perfekte Projektion des eigenen Egos in den öffentlichen Raum.

Das Ergebnis ist absurd: Menschen empören sich über Dinge, die sie gar nicht verstehen, weil sie glauben, die moralische Instanz ihrer eigenen Meinung sei universell gültig. Und die Medien? Sie sind längst nicht mehr Spiegel der Realität, sondern Verstärker, die jede Welle der Selbstgerechtigkeit in eine globale Brandung verwandeln.

Popkultur und das Alphabet der Empörung

Auch in der Popkultur regiert die Selbstsicherheit. Ein Film, ein Song, ein Buch – jede kreative Äußerung wird sofort gescannt, etikettiert und entweder zum Triumph der eigenen Weltansicht oder zum Symbol alles Bösen erklärt. Fans verwandeln sich in Fanatiker, Kritiker in moralische Polizei, und die Künstler? Sie stehen vor einer Armee von Zuschauern, deren einziges Kriterium die eigene Meinung ist.

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Ironischerweise ist die Vielfalt der Meinung verschwunden. Wir leben in digitalen Blasen, die nur das bestätigen, was wir ohnehin schon glauben. Netflix-Algorithmen, Spotify-Playlists, TikTok-For-You-Feeds – sie sind nicht nur Unterhaltungsmaschinen, sondern psychologische Feudalherrschaften, die jeden Versuch der Nuance niederwalzen. Die falsche Meinung ist nicht nur falsch; sie ist ein Angriff, ein kultureller Virus, den es zu isolieren gilt.

Bürokratie, Alltag und das kleine Drama der Selbstüberzeugung

Aber die Tyrannei der eigenen Meinung endet nicht bei Politik und Popkultur. Sie hat sich in jedes Rädchen des Alltags geschlichen. Im Supermarkt, beim Arzt, in der Bahn – überall begegnet man Menschen, die glauben, dass die eigene Sichtweise die einzige Realität ist. Wer den falschen Einkaufswagen wählt, den falschen Parkplatz nimmt, den falschen Gruß ausspricht, riskiert, Teil einer moralischen Parabel zu werden.

In der Bürokratie zeigt sich das besonders scharf: Formulare, Anträge, E-Mails – sie alle werden zu Schlachtfeldern der Selbstgerechtigkeit. Jeder, der sich an Regeln hält, glaubt, er sei im Besitz universeller Wahrheit; jeder, der abweicht, wird zum Sinnbild der Inkompetenz. Und die Meetings? Sie sind längst Theaterstücke, in denen jede Pointe, jeder Vorschlag, jede Idee zunächst auf ihre Fähigkeit geprüft wird, das eigene Ego zu bestätigen, bevor sie überhaupt diskutiert wird.

Wissenschaft als Opfer der Selbstgerechtigkeit

Die Wissenschaft, einst Hort des Zweifelns und der kritischen Reflexion, ist nicht verschont geblieben. Studien, Forschungsergebnisse, Hypothesen – alles wird sofort durch die Brille der eigenen Meinung interpretiert. Fakten werden selektiv wahrgenommen, Theorien zerpflückt, nur um die eigene Weltsicht zu bestätigen. Der Wissenschaftler als rationaler Forscher ist ersetzt durch den Wissenschaftler als Performer, der seine Forschung auf Social Media verkauft wie ein Influencer seine Jogginghose.

Ironischerweise hat diese Entwicklung die Wissenschaft zugleich entmachtet und übermächtig gemacht: Sie ist nur noch wertvoll, wenn sie die eigene Meinung belegt, und gefährlich, wenn sie eine falsche Meinung, sprich: die Meinung eines anderen, unterstützt.

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Die Komik der digitalen Selbstjustiz

Doch trotz all dieser Tragik, oder gerade wegen ihr, bleibt die Komik: Wir beobachten uns selbst und erkennen die Lächerlichkeit unserer Eitelkeiten. Wir diskutieren über die moralische Qualität von Frühstücksflocken, während wir glauben, die Welt retten zu müssen. Wir empören uns über Worte, während wir die Bedeutung der Stille vergessen. Die digitale Selbstjustiz hat uns alles genommen – aber eines lässt sie uns: die Gelegenheit, das absurdes Schauspiel der menschlichen Selbstverliebtheit zu genießen.

Epilog: Die letzte Wahrheit der eigenen Meinung

Am Ende bleibt unweigerlich die Erkenntnis: Heute gibt es nur noch zwei Meinungen – die eigene und die falsche. Aber darin liegt, paradox, ein Geschenk. Wir können lachen über die digitale Hexenjagd, die moralische Selbstinszenierung, die absurden Debatten, die niemals Debatten sind. Wir können lachen über uns selbst, über die Welt, die wir uns selbst gebaut haben, und über die unerschütterliche Illusion, dass unsere eigene Meinung makellos, universell gültig und unfehlbar sei.

Denn, seien wir ehrlich, das Einzige, was wirklich falsch ist, ist zu glauben, man könne jemals alles richtig sehen – außer natürlich die eigene Meinung. Und genau in diesem Bewusstsein liegt die letzte Freiheit: die Freiheit zu lachen, während wir weiterhin unsere Welt auf den Fundamenten der Selbstgerechtigkeit errichten.

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