Nichts offenbart Dummheit mehr als ein Plakat

Man stelle sich die Szene bildlich vor: ein fahler Abend, ein Laternenlicht, das nachlässig auf ein Transparent fällt, und darauf, mit dem Pathos eines schlecht gelernten Politplakats, die inhaltsleere Litanei: „Für ein freies, säkulares, sozialistisches Palästina.“ Es ist ein Satz wie eine schlecht zusammengenähte Flagge — zu groß für die, die ihn halten, zu klein für die, die er vorgibt zu vertreten. Was an ihm so entzückend dämlich ist, ist nicht allein seine Hybris, sondern die Selbstgewissheit, mit der er ausgespuckt wird: die schnippische Gewissheit, das „Wir“ wisse, was das „Dort“ als Erstes haben müsse. Als wären politischen Wünsche dirigierbare Ringeltauben, die man auf Kommando freilässt und die, überwältigt von der Ehre, prompt in säkularer Sozialismus-Synchronität über Gaza kreisen. Kurz: Nichts zeigt die intellektuelle Kurzsichtigkeit zahlreicher Demonstranten mehr als jene Hybris, votiv vorgetragen auf Stoff — die seltsame Mischung aus infantilem Weltverbesserungswahn und imperialem Paternalismus.

Die Illusion vom Anspruch, stellvertretend zu sprechen

Es ist ein merkwürdiges Schauspiel: Menschen in Mitteleuropa, beflissen in moralischer Empfindsamkeit, präsentieren sich als unmittelbare Delegierte der Herzen und Wünsche von Menschen, die sie selten gesehen, nie befragt und in den meisten Fällen nicht einmal verstanden haben. Wer gab ihnen das Mandat? Welches geheime Prozedere der globalen Solidarisierung hat beschlossen, dass ein Parolenrufer in Wien die politische Agenda eines Küstenstreifens definieren darf? Diese Selbstermächtigung ist nicht nur naiv — sie ist aristokratisch in ihrer Annahme, über Köpfe hinweg bestimmen zu dürfen, was fremde Gemeinschaften zu erstreben hätten. Moralische Empörung gepaart mit administrativer Überheblichkeit: die klassische Rezeptur des Tugend-Tourismus.

Man vergesse nicht: zwischen dem lokalen Empfinden eines demonstrierenden Studenten und den politischen Realitäten in einem von Gewalt, Blockade und innerer Fragmentierung zerrissenen Territorium steht eine Welt von Interessen, Strukturen und historischen Bruchlinien. Die Parole „Für ein freies, säkulares, sozialistisches Palästina“ ist nicht einmal ein politischer Wunsch — es ist eine ästhetische Ambition, die so gut zu einem Festival-Flyer passen würde wie ein Taubenschlag auf dem Operndach. Mehr noch: sie ist eine Projektion. Projektion ist ein feiner Prozess — man malt auf die Leinwand des Anderen seine eigenen Begierden, verkleidet sie mit dem Pathos der Gerechtigkeit und ruft „Solidarität!“. Solidarität, gern — aber nicht als Ersatz für Zuhören.

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Wer spricht für wen — und mit welcher Legitimität?

Die naive Tautologie, die dem Transparent zugrunde liegt, ignoriert zwei banale, aber elementare Wahrheiten: erstens, dass politische Emotionen und konkrete politische Präferenzen nicht deckungsgleich sind; zweitens, dass politische Organisationen, Machtapparate und legale Strukturen in dem betreffenden Raum entscheiden — und dass diese Akteure vielfach andere Ziele verfolgen. Die Hamas hat ihre eigenen Ziele, die nicht in die Bildsprache eines mitreißenden Slogans passen. Ebenso wenig ist die Mehrheit der palästinensischen Stimmen monolithisch; sie ist ein Kaleidoskop von Ansprüchen, die von der Sehnsucht nach Ruhe bis zur Forderung nach radikaler Umverteilung und von Konservatismus bis zu säkularer Utopie reichen. Die Demonstranten verkaufen ihnen ein fertiges Menü, ohne zu fragen, ob die Gäste Vegetarier sind, ob sie fasten oder eine Allergie haben.

Das heißt nicht, dass Außenstehende niemals Solidarität äußern dürften; es heißt aber, dass Solidarität mit Höflichkeit beginnen sollte — nämlich mit dem Zur-Schau-Stellen der Bereitschaft zuzuhören. Wer anstelle des konsultativen Gesprächs die Lautsprecheranlage der Selbstauslegung wählt, betreibt keine Solidarität, sondern Selbstdarstellung.

Juristisches Denken kontra populäre Wortverklammerung

Die Debatte um Begriffe wie „Völkermord“ illustriert wunderbar, wie ungeniert die öffentliche Empörung gern in juristischem Pathos badet, ohne die kalte Präzision des Rechts zu kennen. Völkermord ist kein massenmedialer Gefühlsbegriff; er ist ein juristisches Konstrukt mit einem strengen, sogar perfiden Kriterium: dolus specialis, die spezielle Absicht, eine Gruppe als solche zu vernichten. Das ist eine unangenehme Nuance, die Rohlinge der moralischen Entrüstung gern ignorieren, weil sie die Komplexität aufhält. Brennende Gefühle verlangen klare Etiketten: Wenn ein schwer zu quantifizierendes Leid nur mit einem starken Wort ausdrückbar scheint, so wählt die Masse das lauteste Wort — und sei es unpräzise. Das macht die öffentliche Sprache nicht wahrer; es macht sie nur lauter.

Man muss also unterscheiden zwischen moralischer Verurteilung von Taten, die tatsächlich abscheulich sind, und juristischer Verurteilung eines Tatbestandes, der eine besondere Intention voraussetzt. Das ist kein technokratischer Spieltrieb, sondern ein Schutzmechanismus gegen Begriffserosion: Sonst würde der Begriff „Völkermord“ so oft gebraucht, bis seine Bedeutung eine bloße Gefühlsfarbe wird — und damit entwertet.

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Die Genese von Feindbildern: Texte, Traditionen, Verantwortung

Es ist leicht — zu leicht —, antisemitische oder antijüdische Passagen aus Texten herauszupicken und damit einen Kausalstrang zu spinnen, der in Gewalt mündet. Texte können entflammen, das ist wahr; und Texte können mobilisieren — ebenso. Aber politische Wirklichkeit entsteht nicht aus einem Hadith oder aus einer Charta allein; sie entsteht aus einem Geflecht von Kontexten, aus materieller Not, staatlichen Entscheidungen, strategischen Allianzen und der Bereitschaft externer Mächte, Konflikte zu instrumentalisieren. Wer also richtig wütend ist über Gewaltaufrufe, der mag beim Wortlaut beginnen, sollte aber nicht beim Wort stehen bleiben. Die intellektuelle Aufgabe ist, die Wechselbeziehungen sichtbar zu machen — und dabei die Tücke zu vermeiden, einen gesamten Kollektivkörper mit dem Finger auf eine Ideologie zu fixieren.

Gleichzeitig ist es ein Treppenwitz der politischen Moral, selektiv entrüstet zu sein: Man verurteilt Textstellen in einer Sprache, ignoriert aber die strukturellen Bedingungen, die solche Texte in Bewegung setzen. Die Reise von der Idee zur Tat ist lang — und voller Mittäter: internationale Interessen, lokale Machthaber, Ökonomien des Konflikts. Wer nur auf Sätze starrt, übersieht das ganze Unternehmen.

Die from-the-river-to-the-sea-Formel — sprachliche Kunst oder Aufruf?

Wenn Slogans so alt sind wie ihre Interpretationen konfliktgeladen, dann ist die Phrase „From the river to the sea, Palestine will be free“ ein Prüfstein. Für den einen ist sie poetische Zukunftsvision; für den anderen ein politischer Ansatz ohne Kompromiss. Entscheidend ist weniger die Ästhetik als die Praxis: Wird ein Slogan dazu benutzt, eine ethnische Säuberung zu feiern, oder als Chiffre für demokratische Inklusion? Worte sind überschreibbar — aber nicht ohne Kontext. Relativierende Spitzfindigkeit, die behauptet, jede Redeweise sei rein interpretierbar und daher harmlos, ist bequem. Sprache hat Wirkungen; und politische Phrasen werden in der Arena der Realität instrumentalisiert.

Dennoch ist es gefährlich, allein die Phrase zu kriminalisieren und das dahinterliegende politische Vakuum zu ignorieren. Menschen schreien Parolen, weil ihnen Wörter zur Verfügung stehen. Wenn man ihnen diese Wörter wegnimmt, bleiben die Ursachen der Wut bestehen — und werden nur heimlicher, radikaler. Der diskursive Raum hat Regeln, aber er braucht auch Raum zum Aushandeln. Ein Verbot ohne Debatte ist keine Lösung; es ist eine Verdrängung.

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Ironie als Waffe — aber mit Bedacht

Satire und Polemik sind wunderbare Instrumente: Sie entblößen Selbstgerechtigkeit, sie karikieren die Hybris, sie legen die Absurditäten offen. Trotzdem verlangt die satirische Haltung Verantwortung: Wer spotten will, sollte nicht in die Falle tappen, die Menschlichkeit der Betroffenen zu beschädigen. Zynismus ohne moralisches Rückgrat wird zur bloßen Geschmacklosigkeit; Polemik ohne Kenntnis degeneriert zum Voyeurismus. Wer über Demonstrierende spotten will, sollte das Gesicht der Ohnmacht nicht zum Material einer bloßen Komik machen. Satire muss aushärten können, ohne zu verletzen.

Ein Appell, der keiner sein will: Zuhören statt Dekretieren

Wenn hingegen ein letzter Funken nüchterner Rat erlaubt ist: Vielleicht wäre es ehrlicher, die Parolen zu ersetzen — nicht durch kühl kalkulierte Wortklassen, sondern durch die einfache, ärmliche Praxis des Fragens. Wer anderen helfen will, sollte zuerst fragen, nicht beantworten. Wer Solidarität übt, sollte nicht herrschen. Es gibt in politischen Bewegungen keinen adligen Rang, der das Recht verleiht, stellvertretend zu sein. Es gibt nur die Pflicht, Stimmen zu verstärken, ohne sie zu vereinnahmen.

So endet dieses kleine Pamphlet gegen die Selbsterhebung der Gutmeinenden nicht mit triumphalem Pathos, sondern mit einer schlichten, ein wenig boringen Einsicht: Menschlichkeit erträgt keine Poster, die sie erklären wollen. Menschlichkeit verlangt Geduld, Gespräch und die unerotische Arbeit des Zuhörens. Und wenn das zu wenig dramatisch klingt für eine Demo, nun ja — die Welt ist selten dramatisch, sie ist meistens kompliziert. Wer das begreift, trägt in der Tasche die erste, echte Form der Solidarität.

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