Wer ist Völkermörder?

I. Der Begriff als staatstragender Fetisch

Völkermord — das Wort stolziert durch die Parlamente wie ein Amtsanzug: perfekt gebügelt, moralisch unanfechtbar, und doch an mehreren Gelenken verdächtig steif. Wer es ausspricht, meint es ernst; wer es ernst meint, verlangt sofort Sühne, Sanktionen, Entrüstung in Großbuchstaben. Keine Vokabel der politischen Rhetorik hat eine so verlässlich aufmunternde Wirkung auf die eigene Gewissensruhe: „Völkermord!“ ruft der Kopf, der gerade keine Zeit hat, um die komplizierten Konturen einer historischen Lage auszuleuchten. Juristisch ist das alles viel biederen Krawall: Dolus specialis — diese lateinische Prinzessin im Kerker der Vokabularspezifikationen — entscheidet. Nicht die Anzahl der Leichen, nicht das Ausmaß menschlicher Tragödie, sondern die Absicht. Die Absicht, zu vernichten, nicht bloß zu verletzen, nicht bloß zu vertreiben, sondern eine Gruppe als solche auslöschen zu wollen. So nüchtern, so kleinlich, so vernunftverliebt ist das Völkerstrafrecht: Es schwört auf Intentio, nicht auf Pathos. Welch enttäuschende Enthaltsamkeit gegenüber dem großen Schrei der Öffentlichkeit.

II. Demokratie der Zahlen — oder: Warum Opferlisten nicht automatisch zu Schuldscheinen werden

Man stelle sich eine Theaterbühne vor, auf der Blut in großen Mengen fließt und die Zuschauer mit Fackeln winken. Die Bilder sind dramatisch, die Headlines sind schnell gedrucket, die Empörung hat Händedruck-Aushänge: „Nie wieder!“ steht dort, als handle es sich um ein Rezept gegen schlechten Kuchen. Und doch: Demographie ist ein Kaltblüter. Sie läuft ihre eigenen Kurven, widersteht Pathos und hält dem moralischen Sturm stand wie ein Statistikbüro mit Nerven aus Stahl. Aus 1,2 Millionen werden 14 Millionen, und plötzlich ist der rhetorische Vorwurf „Völkermord“ so zart wie Seifenblase in einem Orkan. Das ist keine Relativierung des Leids — Gott bewahre —, das ist nur die pedantische Feststellung: Massaker sind möglich, Genozid ist ein juristisches Kunststück, das eine Absicht braucht, eine systematische Zielrichtung, eine Strategie der Auslöschung. Wer das nicht begreift, verwechselt Empörung mit Beweis.

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III. Schriftstücke als Indikatoren — wenn Worte zu Waffen werden

Nun könnte man verzweifelt in den Archiven der Weltöffentlichkeit nach einer klaren Signatur suchen: „Hier steht es schwarz auf weiß, also ist es so.“ Schriftstücke haben diese verführerische Klarheit — sie träumen davon, die Welt in Paragraphen zu zwängen. Und in manchen Dokumenten, das will ich nicht leugnen, finden sich Passagen, die sich mit der Grausamkeit des plakativen Bekenntnisses kaum noch hinter religiösen oder ideologischen Ausflüchten verstecken. Wenn die Charta, wenn Programme und Bekenntnisse eine Politik beschreiben, die von der Vernichtung oder Auslöschung des Anderen als legitimes Ziel sprechen, dann ist das nicht nur ein rhetorischer Firlefanz. Solche Texte sind keine bloße Dekoration; sie sind Anleitung, sie sind Versprechen, sie sind die poetische Vorbereitung auf die Tat. Auch hier gilt: Nicht jeder, der eine Feder führt, führt zugleich die Mörderhand — aber wenn die Feder Strategie und Ziel verfasst, dann darf man die Handschrift ernst nehmen. Satire mag übertreiben, aber wenn die Übertreibung die wörtliche Lesart des Originals bestätigt, wird sie plötzlich zur nüchternen Lesebrille.

IV. Parolen, Euphemismen, und die Kunst des Verbalen Tarnanstrichs

„From the river to the sea…“ — wenige Wortgruppen sind so praktisch wie diese: gleichsam ein Joker im politischen Kartenspiel, ein Zuckerguss, mit dem man die bittere Pillenphilosophie überziehen kann. Auf Demonstrationen wirkt die Parole wie ein Lagerfeuerlied: singbar, solidarisch, schnell trending. In der juristischen Betrachtung verwandelt sie sich jedoch, je nach Kontext, in eine Ansammlung von Implikationen. Es ist die große Kunst der Zeitgenossen, die implizite Auslöschung in den Mantel der Utopie zu wickeln: „Freiheit für alle“, „Gleichheit“, „demokratisches Zusammenleben“ — schön gesagt, wie ein Mantra, das jede kritische Nachfrage in den Schlaf wiegt. Doch wer systematisch die Institutionen eines Staates hinterfragt, wer die Existenzberechtigung eines Volkes als solche in Zweifel zieht, der muss sich fragen lassen, ob nicht hinter der Rhetorik ein Ziel lauert, das mit ‚Freiheit‘ nur die Verpackung teilt.

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V. Die heitere Komödie der Neutralen — oder: Wie sich Staaten und Behörden in Aktenverlust üben

Österreichische Politiken betreiben mitunter eine erstaunliche Aufführung: Sie proklamieren „Null Toleranz“ gegen Radikalismus, während in Buchhandlungen jene Schriften feilgeboten werden, die das Gift erst mischen. Man könnte dieses Verhalten pathologisch nennen — oder als ein wohlorganisiertes Theater der Doppeldeutigkeit deuten. Die Behörden in der Logik eines Verwaltungsromans: stark in Pressemitteilungen, weich in Durchgriffsbereitschaft. Der Bürger klatscht, weil er das Gefühl hat, dass etwas getan wird; der Beamte tippt, weil er einen Dienstweg einhalten muss; der Extremist verkauft, weil er einen Markt für seine Ware hat. Ein absurdes Stück, in dem die moralische Entrüstung als Bühnenbild dient, während die tatsächlichen Mechanismen der Verbreitung ungehindert weiterlaufen.

VI. Medien, Moral und die Profitlogik der Empörung

Die vierte Gewalt? Eher die vierte Dimension der Betroffenheitsökonomie: Empörung als Konjunkturprogramm. Schlagzeilen verkaufen Zeitungen, Skandale füttern Klicks, dramatische Bilder züchten Abonnenten. Der Moralsprecher profitiert: je lauter der Ruf „Völkermord!“, desto größer sein Echo in den Social-Media-Amphitheatern. Und doch — seltsam — sinkt hinter dem Lärm oft die Geduld, einen Fall wirklich juristisch auseinanderzunehmen. Die mediale Ökonomie hat eine eigene Ethik: schnell, oberflächlich, final. Jeder Aufruf, jede Behauptung wird zur Währung, und die Nachfrage nach Empörung macht Anbieter kreativ. Satire darf darüber lachen; die Ethik des Richterstuhls darf es nicht.

VII. Der rhetorische Haken: Wenn Empörung ersetzt, was Urteil sein sollte

Am Ende dieser pathetischen Wanderung steht die Frage, ob die moralische Entrüstung bereit ist, die Arbeit eines Gerichts zu ersetzen. Es ist die zynische Versuchung des öffentlichen Diskurses: zu urteilen, bevor das Urteil gesprochen wird; zu verurteilen, bevor die Beweise erhoben sind; zu brandmarken, bevor die Intentionen klar untersucht wurden. Wer „Völkermörder!“ schreit, entlässt sich selbst aus dem Prozess der Überprüfung und setzt seine Stimme als Richtereinsetzung ein. Das ist bequem, befriedigend, moralisch aufpoliert — aber gefährlich. Denn wenn Sprache zur Strafe wird, dann ist der Weg von der Empörung zur Justiz gepflastert mit Fehlurteilen, die sich später bitter rächen.

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VIII. Schluss: Ein Augenzwinkern, das wachhalten will

Also: Wer ist Völkermörder? Die Antwort ist unspektakulär und unbequem zugleich: Die Bestimmung dieses Titels verlangt mehr als Empörung, mehr als Haltung, mehr als mediale Gerechtigkeit. Sie verlangt sorgfältige, unpopuläre, gelegentlich kaltherzige Arbeit — die Arbeit, dolus specialis zu beweisen. In der Zwischenzeit bleibt uns die Satire als Ventil: sie erlaubt uns zu lächeln, während wir die Abgründe anschauen; sie erlaubt uns zu spotten, ohne das Leid zu verharmlosen. Und ja, es schadet nicht, die Finger beim nächsten moralischen Brandruf an die eigene Stirn zu legen und zu fragen: „Hast du die Absicht bewiesen — oder hast du nur sehr laut gerufen?“ Das Augenzwinkern ist kein Zeichen der Gleichgültigkeit; es ist die letzte höfliche Geste der Vernunft, die sagt: Wollen wir die Welt richten oder sie verstehen?

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