Die feuchten Augen der Macht

Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, das wir da beobachten dürfen, ein Stück aus dem Theater der Republik, bei dem der Kanzler – eine Figur, die zugleich das Land repräsentiert und sich selbst parodiert – in der Synagoge die große Kunst des staatstragenden Tränenpressens demonstriert. Mit einem Blick, der irgendwo zwischen Beileid, Betroffenheit und „Wer hat den Teleprompter verstellt?“ oszilliert, vergießt er jene sorgsam dosierten Tropfen, die in der Abendpresse zu feierlichen Feuilletonperlen gerinnen. Und wie perfekt getaktet ist doch dieses Ritual: ein Kerzenlicht hier, ein „Nie wieder!“ dort, ein leises Zittern in der Stimme – alles präzise choreographiert, damit auch der letzte Zuschauer auf der Couch versteht, dass Deutschland wieder einmal zu sich selbst gefunden hat.
Doch während drinnen der Kanzler das moralische Ballett tanzt, tropft draußen die Wirklichkeit an den Mauern entlang wie alter Regen: Schmierereien auf den Gehwegen, Beschimpfungen in der U-Bahn, feixende Gesichter, die ihren Hass mit jener Selbstverständlichkeit aussprechen, als hätten sie die Menschenrechte höchstpersönlich auf dem Flohmarkt verhökert. Man könnte fast meinen, die Tränen des Kanzlers seien so flüchtig wie das Papier, auf dem seine Regierungserklärungen gedruckt werden – glänzend im Licht, aber sofort wieder trocken, wenn man sie berührt.

Die große deutsche Staatsräson – ein Wort wie ein Zinnsoldat

„Staatsräson“ – welch schweres, bleiernes Wort, das sich gerne mit der Gravitas vergangener Jahrhunderte schmückt. Man hört es und denkt an Bismarck, an die eiserne Vernunft der Diplomatie, an jene machtpolitischen Schachzüge, die ganze Kontinente in Bewegung setzten. Heute aber, in der Ära der weichgespülten Sonntagsreden, hat sich die Staatsräson in eine Art PR-Schablone verwandelt: Man legt sie über jede beliebige Rede, färbt sie in den Trendfarben der Empörung und verkauft sie als moralische Dauerwährung.
Unsere Staatsräson ist inzwischen wie ein Mehrwegbecher: immer wieder in Gebrauch, egal, ob er gerade passt oder nicht. Mal dient sie als edle Pflicht zur Verteidigung Israels, mal als feierliche Formel für das „Nie wieder“, mal als plakativer Schlagstock gegen die eigene Bevölkerung, wenn diese es wagt, nach Kohlepreisen oder Nahostpolitik zu fragen. Doch im Alltag – dort, wo Antisemitismus nicht in den Glanz der Kameras fällt, sondern in der Dunkelheit der Hinterhöfe gedeiht – da wird aus der großen Staatsräson ein müdes Schulterzucken. „Man kann ja nicht überall sein“, seufzt der Verwaltungsapparat, während er noch die nächste Pressemitteilung über die historische Verantwortung tippt.

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Betroffenheit als politische Währung

Betroffenheit ist die letzte unerschöpfliche Ressource der Berliner Republik. Sie kostet nichts, lässt sich beliebig dosieren und hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie stets moralisch unanfechtbar daherkommt. Man kann betroffen sein, ohne etwas zu tun; man kann betroffen bleiben, während man untätig bleibt; und man kann Betroffenheit sogar steigern, wenn die Realität lästig wird.
Unser Kanzler beherrscht diese Kunst in einer Weise, die selbst geübte Theaterkritiker bewundern müssten. Ein leichtes Senken des Kopfes hier, ein entschlossenes Nicken dort, das obligatorische „Wir stehen an Ihrer Seite“ – und schon ist der moralische Haushalt saniert. Dabei wäre es ja durchaus möglich, Antisemitismus auf der Straße nicht nur zu beklagen, sondern zu bekämpfen: mit Personal, mit Gesetzen, mit der unangenehmen Bereitschaft, auch unbequeme Tätergruppen klar zu benennen. Doch warum handeln, wenn man stattdessen in der Synagoge ein Tränchen ins Scheinwerferlicht setzen kann, das sich dann auf allen Titelseiten spiegelt?

Die stille Komplizenschaft der Bequemlichkeit

Man könnte es fast für eine bittere Pointe halten, dass ausgerechnet ein Land, das sich so unablässig seiner historischen Verantwortung rühmt, beim alltäglichen Schutz jüdischen Lebens in eine Art höfliche Lethargie verfällt. Es ist die Bequemlichkeit, die sich zwischen den Paragrafen und den Polizeistatistiken einnistet: Man will ja nicht „stigmatisieren“, nicht „spalten“, nicht „pauschalisieren“. Und so wird jeder antisemitische Übergriff zur bürokratischen Fußnote, jeder Angriff zu einem „Einzelfall“, jeder Hetzruf zu einem „Missverständnis“.
Diese stille Komplizenschaft ist vielleicht gefährlicher als jede offene Feindschaft, weil sie das Gift in Watte packt. Sie erlaubt dem Kanzler, weiter von Staatsräson zu sprechen, als wäre es eine naturgegebene Konstante, während die Realität längst eine andere Sprache spricht. Die Tränen in der Synagoge mögen echt sein – aber was nützen sie, wenn sie auf den Straßen verdunsten, auf denen jüdische Kinder lernen müssen, ihre Schulwege zu verschweigen?

Die neue deutsche Souveränität: Moral ohne Konsequenz

Vielleicht ist das alles auch nur der logische Endpunkt einer Gesellschaft, die sich im Spiegel ihrer eigenen Moral verliebt hat. Wir haben gelernt, dass Worte wichtiger sind als Taten, dass Gesten größer sind als Gesetze, dass Betroffenheit politisches Kapital ist. Der Kanzler weint, die Presse applaudiert, das Publikum seufzt – und am nächsten Tag geht alles weiter wie zuvor.
So entsteht jene neue deutsche Souveränität, die man vielleicht am treffendsten so beschreiben könnte: Wir sind Weltmeister im Erinnern, aber Amateure im Handeln. Wir feiern unsere historische Verantwortung wie andere Länder ihre Fußballtitel – laut, pathetisch und immer ein bisschen selbstverliebt. Dass sich die Geschichte nicht von Kerzenlicht beeindrucken lässt, bleibt dabei eine Fußnote, die man besser nicht zu laut liest.

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Schlussakkord: Ein Land zwischen Pathos und Paralyse

Und so stehen wir da, ein Land mit glänzenden Reden und trüben Straßen, mit moralischer Rhetorik und schäbiger Praxis. Ein Kanzler, der in der Synagoge Tränen herauspresst, während draußen die Realität ungerührt weiterläuft – das ist nicht nur ein Bild der Gegenwart, sondern vielleicht die treffendste Karikatur unserer Zeit.
Man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Oder weinen, wenn es nicht so grotesk wäre. Am Ende bleibt uns nur das satirische Schulterzucken, dieses typisch deutsche „Ja, so sind wir eben“ – und die bittere Erkenntnis, dass Staatsräson hierzulande weniger eine Frage der Verantwortung ist als eine Inszenierung, die man Abend für Abend wiederholen kann.
Und vielleicht, ganz vielleicht, ist genau das die neue deutsche Tragikomödie: ein Land, das gelernt hat, die Vergangenheit zu beweinen, aber nicht die Gegenwart zu verteidigen.

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