Jüdische Künstler gerne, aber bitte keine Lebenden

Man könnte fast glauben, wir hätten es hier mit einem neuen Genre der europäischen Festivalpolitik zu tun: ein Genre, das sich irgendwo zwischen kafkaesker Bürokratie, absurdem Theater und der wohlmeinenden Moralfalle bewegt, die sich geradewegs in die Hosentasche unserer aufgeklärten Gesellschaft geschlichen hat. Denn was sonst sollte man von der plötzlichen Absage eines hochkarätigen Orchesters erwarten, wenn der Grund darin besteht, dass der Dirigent, dieser lebendige, atmende Jude namens Lahav Shani, ein paar Tonleitern zu oft in Tel Aviv geübt hat? Das Flanders Festival Gent hat hier, im Geiste postmoderner Tugend, eine neue, bislang ungekannte Form des kulturellen Antisemitismus erfunden: jenen, der nicht auf Hakenkreuze und Verbote setzt, sondern auf subtile, ironische Distanzierung – „Jüdische Künstler ja, aber bitte keine Lebenden“.

Hier wird auf beeindruckende Weise demonstriert, dass moralische Überlegenheit keine Frage des Denkvermögens ist, sondern der Fähigkeit, Widersprüche zu produzieren, die so tief sind, dass sie in jedem gut gefüllten Festivalprospekt glänzen. Einerseits liebt man die Werke jüdischer Künstler – Mendelssohn, Mahler, Bernstein –, solange sie in der Vergangenheit liegen, gerne auch auf Vinyl, idealerweise tot, denn Tote sind loyal, kompromisslos und machen keine unangebrachten Statements zu aktuellen politischen Konflikten. Lebendige Juden hingegen, so scheint es, sind höchst verdächtig: Sie könnten womöglich, gottbewahre, eine Meinung haben, die den eigenen Tugendkodex irritiert.

Virtuose Moral, frei Haus geliefert

Man könnte sagen, dass dies ein Triumph der virtuosen Moral ist, jener Fähigkeit, komplexe ethische Ansprüche zu erheben, ohne den geringsten Hauch von Verantwortung für deren Konsequenzen zu übernehmen. Lahav Shani, Jahrgang 1989, Dirigent von Weltklasse, ist also nun zum Inbegriff des moralischen Problems geworden, und weil er zufällig in Tel Aviv geboren wurde. Wäre er in Prag geboren, in Paris oder in Peking, hätte niemand Notiz von ihm genommen – der wahre Feind ist offenbar nicht die Politik, sondern die Existenz selbst: jüdisch, lebendig, virtuos.

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Hier öffnet sich das große Kabinett der Heuchelei: Man fordert Klarheit über eine „Haltung gegenüber dem genozidalen Regime“, eine Formulierung, die so großspurig, so geschmackvoll polemisch ist, dass sie als literarisches Zitat durchaus Bestand haben könnte. Dabei vergisst man nur ein kleines Detail: Man kann nicht gleichzeitig fordern, dass Künstler moralische Verantwortung übernehmen, und sie gleichzeitig nach Herkunft und Geburt sortieren. Das ist, als würde man von einem Apfelbaum verlangen, dass er nur Äpfel ohne Kerne liefert, während man gleichzeitig die Blätter kritisiert.

Die Ironie der Boykottkultur

Und so sind wir in einer Welt angekommen, in der Boykott nicht mehr als politisches Instrument, sondern als Lifestyle-Accessoire fungiert. Auf Biennalen, in Hollywood, auf Festivals – überall wird das Urteil gefällt, dass bestimmte Künstler nicht eingeladen werden, weil sie die falsche nationale Herkunft haben oder die falsche Meinung haben könnten. Hunderte Schauspieler fordern den Boykott israelischer Filminstitutionen, als handele es sich um eine Modekampagne gegen schicke Schuhe, während man selbst den neuesten moralischen Egotrip auf Instagram postet. Man könnte fast Mitleid mit diesen moralisch Aufgeladenen haben, wenn ihre Ironie nicht so absolut tödlich wäre: Sie boykottieren nicht nur Musik, sie boykottieren die Realität, die Vielfalt, ja im Grunde genommen das Leben selbst.

Ein Toast auf die Toten

Vielleicht ist die Lösung dieses Dilemmas so einfach wie makaber: Wir müssen einfach nur warten, bis alle genialen jüdischen Künstler tot sind. Dann können wir sie bedenkenlos bewundern, in Konzerthäusern feiern, auf Poster drucken und ihre Werke analysieren – ganz ohne die peinliche Unbequemlichkeit, dass sie vielleicht eine politische Meinung vertreten, die uns stört. Tote Juden sind loyal. Tote Juden sind konfliktfrei. Tote Juden passen in jede moralische Schublade. Und solange wir das akzeptieren, kann das Festival seine ethische Reinheit bewahren, während die Philharmoniker verzweifelt versuchen, eine Einladung zu bekommen, die immer wieder verweigert wird – nicht wegen ihres Könnens, sondern wegen der Geburt eines Dirigenten.

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Epilog der Absurdität

So stehen wir nun also da, zwischen Kant und Kafka, zwischen Moral und Absurdität, applaudieren der Kunst der Toten und ignorieren die Realität der Lebenden. Die Botschaft ist klar, die Ironie schneidend, und der Humor, wenn man ihn als solchen erkennen mag, bitter-süß: In einer Welt, die ständig vorgibt, für Gerechtigkeit zu kämpfen, wird die größte Ungerechtigkeit manchmal von jenen begangen, die am lautesten moralisch empört sind. Jüdische Künstler – ja, aber bitte nur, wenn sie nicht sprechen, nicht spielen, nicht leben.

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