
Es ist eine alte, traurige Binsenweisheit, dass eine Kugel immer mehr trifft als nur Fleisch und Knochen. Sie durchbohrt Gespräche, Freundschaften, Meinungen, sie zerfetzt das feine Gewebe öffentlicher Debatte, bis nicht mehr der Schuss, sondern das widerhallende Raunen den eigentlichen Schaden anrichtet. Als also ein gewisser Charlie Rick – ein Name wie aus einer Karikatur gezogen, halb Cartoon-Cowboy, halb Nachbar von nebenan – sich den Luxus leistete, mit anderen Meinungen zu diskutieren, und dafür den finalen Preis in Form eines bleiernen Projektils entrichtete, stellte sich sogleich jene Frage, die in Zeiten der moralischen Hochkonjunktur immer wie von selbst auf den Tisch springt: Wer vergiftet eigentlich mehr? Der Mann, der redet, oder die Meute, die nach seinem Tod Beifall klatscht? Der Provokateur, der austeilt, oder die Tugendbataillone, die sich am blutigen Ende laben wie an einem besonders würzigen Aperitif?
Natürlich ist diese Frage nicht neu. Neu ist nur, dass sie in den sozialen Arenen, die wir einst „Netzwerke“ nannten, heute mit der Eleganz einer Kneipenschlägerei diskutiert wird. Charlie Rick mag tot sein, aber sein digitales Nachleben lebt von Retweets, wüsten Memes und dieser eigentümlichen Mischung aus moralischer Entrüstung und hämischer Freude, die man früher nur von mittelalterlichen Marktplätzen kannte, wenn man wieder einmal jemanden öffentlich an den Pranger band, um sich anschließend über die Rohheit der Menge zu beklagen.
Der Märtyrer wider Willen
Charlie Rick – oder wie man ihn in den algorithmischen Katakomben auch nennen mag – war kein Heiliger, kein klassischer „Guter“. Er war, nach allem was man hört, ein notorischer Diskutant, ein Störenfried, ein Freund der steilen These. Jemand, der sich die selten gewordene Freiheit nahm, nicht jedem moralischen Wetterbericht zu folgen. Einer, der auch dann noch widersprach, wenn sich die Mehrheit längst mit der Bequemlichkeit des Konsenses eingerollt hatte. Kurz: ein Mensch, und damit in unserer Epoche der hyperventilierenden Empfindlichkeiten schon fast ein Anachronismus.
Das Paradoxe an solchen Figuren ist, dass sie erst durch ihr gewaltsames Ende in jene strahlende Sphäre gelangen, in der sie zum Symbol werden können. Vorher sind sie lästig, danach sind sie wahlweise Helden oder Hassobjekte – manchmal beides zugleich. Die Kugel, die Charlie Rick traf, war deshalb weniger eine Tatwaffe als ein Brandbeschleuniger. Sie verwandelte einen Diskutanten in einen Märtyrer wider Willen und eröffnete den moralischen Jahrmarkt, auf dem sich nun alle tummeln: die Trauernden, die Hasser, die Trittbrettfahrer, die Zyniker.
Die fröhliche Empörungsgesellschaft
Besonders pikant ist das Schauspiel der freudigen Reaktionen. Kaum war die Nachricht von Ricks Tod publik, da rauschten die Kanäle über mit jener galligen Mischung aus Schadenfreude und moralischer Selbstvergewisserung, die unsere Gegenwart so unverwechselbar macht. Man klatscht, aber man klatscht natürlich „aus Prinzip“. Man spuckt auf das Grab, doch man versieht den Post mit einem Zwinkersmiley, damit niemand behaupten kann, man sei herzlos. Die neue Grausamkeit tarnt sich als Satire, der Zynismus als notwendige Konsequenz.
Ist das noch freie Meinungsäußerung oder bereits eine Art seelischer Leichenschändung? Wer in diesen digitalen Fegefeuern unterwegs ist, merkt schnell, wie dünn die Trennlinie verläuft. Die gleiche Gesellschaft, die jeden Fauxpas mit moralischem Furor geißelt, gönnt sich plötzlich einen kollektiven Amoklauf der Gefühle, sobald der Gegner am Boden liegt. Man ruft nach „Anstand“ und „Respekt“ – aber nur solange, bis die richtige Leiche geliefert wird. Dann knallen die Sektkorken der Schadenfreude.
Wer vergiftet wen?
Und hier kehrt die Ausgangsfrage wie ein Bumerang zurück: Wer spaltet mehr – derjenige, der streitbar war, oder die Menge, die auf seinen Tod reagiert?
Charlie Rick hat gestritten, provoziert, polarisiert – gewiss. Aber er hat immerhin gesprochen. Worte, so ungeschliffen sie auch sein mögen, lassen sich entkräften, diskutieren, ignorieren. Eine Kugel hingegen ist das Ende aller Debatte. Und die hämischen Jubelrufe danach sind nichts anderes als geistige Folgeschüsse, die noch lange hallen, nachdem der Körper bereits kalt ist.
Vielleicht liegt die größere Vergiftung nicht im Streit, sondern in der selbstgerechten Euphorie, mit der man glaubt, das Problem „ein für alle Mal“ gelöst zu haben. Wer den Tod eines Gegners feiert, erklärt nicht nur dessen Argumente für null und nichtig, sondern entwertet auch die eigene Moral. Das Gift, das hier verteilt wird, sickert langsam in den Boden der Gesellschaft – und irgendwann wächst daraus nur noch Misstrauen, Zynismus und das wohlig-faule Gefühl, dass Gewalt eben doch eine Form von „Antwort“ sein kann.
Epilog: Ein Toast auf den Zweifel
Vielleicht ist die einzig ehrliche Haltung in diesem ganzen Trauerspiel die des zweifelnden Beobachters. Jener Figur, die nicht in den Chor der moralischen Sieger einstimmt, sondern sich die unbequeme Frage stellt, warum wir überhaupt so süchtig nach den Dramen der anderen geworden sind. Vielleicht ist der wahre Skandal nicht, dass ein Mann wegen seiner Worte starb, sondern dass wir im Tod anderer immer nur den Anlass für unser eigenes moralisches Entertainment sehen.
Charlie Rick ist tot. Seine Gegner klatschen, seine Anhänger trauern, die Welt scrollt weiter. Und irgendwo dazwischen, in dieser giftigen Melange aus Hass und Heiterkeit, sitzt der Zweifel und nippt an einem Glas abgestandener Vernunft. Vielleicht sollten wir ihm zuprosten – nicht aus Freude, sondern aus der leisen Hoffnung, dass er uns noch ein Weilchen erhalten bleibt.