Kanzler der Geschichtsvergessenen

Wenn Politiker sich über Geopolitik äußern, dann darf man – historisch korrekt – selten Präzision, oft aber Pathos erwarten. So auch beim gegenwärtigen deutschen Regierungschef Friedrich Merz, der mit unbeirrbarer Seriosität das Mikrofon ergriff und einen jener Sätze sprach, die so schön sind, dass sie beinahe schon wieder in einem Kabarettprogramm Platz finden müssten: „Er möchte die alte Sowjetunion wiederherstellen. Und dazu gehört auch ein Teil meines Landes.“

Da muss man als Geschichtsfreund, Kartenleser oder schlicht als jemand, der die groben Umrisse Eurasiens zwischen 1945 und 1991 kennt, unwillkürlich fragen: Welcher Teil Deutschlands war denn gleich noch einmal Mitglied der Sowjetunion? Ich habe leider das Gefühl, dass ich in meinen Geschichtsbüchern, Atlanten und Museumstafeln etwas überblättert habe. Gab es da eine geheimnisvolle „Sozialistische Sowjetrepublik Sachsen-Anhalt“? Oder die „Baltische Bezirksregierung Mecklenburg-Vorpommerns“, stillschweigend in die UdSSR integriert, nur niemand hat es gemerkt?

Die DDR – aber bitte nicht verwechseln!

Natürlich, die naheliegende Erklärung, die Herrn Merz möglicherweise durch den Kopf gegeistert sein mag: die DDR. Jenes Experiment aus Plattenbau, Mangelwirtschaft und überwachtem Volkskörper, das ab 1949 die östliche Hälfte Deutschlands darstellte. Nur war diese DDR – und das ist nun einmal ein entscheidender Unterschied – kein Teil der Sowjetunion, sondern ein souveräner Satellit, ein Trabant im Orbit Moskaus. Ein Vasall, eine Pufferzone, ein Brückenkopf des Sozialismus, aber eben keine fünfzehnte Unionsrepublik.

Man stelle sich das Durcheinander vor, hätte die DDR tatsächlich zur Sowjetunion gehört: Eine sowjetische Republik mitten in Mitteleuropa, ohne Landverbindung, dafür mit Transitabkommen über die „BRD“. Ein logistischer Alptraum für jeden sowjetischen Planer, der ohnehin schon mit Bananen, Waschmaschinen und Trabi-Ersatzteilen überfordert war.

Kurzum: Nein, lieber Herr Bundeskanzler, die DDR gehörte nie zur Sowjetunion. Sie gehörte ihr so wenig wie die Bundesrepublik zur NATO „gehörte“. Sie war nur fest im Griff eines Bündnisses, das vor allem durch den Moskauer Zeigefinger zusammengehalten wurde.

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Der westdeutsche Traum vom großen Imperium

Doch warum sollte ein Mann wie Friedrich Merz so etwas sagen? Vielleicht, weil der Begriff „Sowjetunion“ für ihn eher eine atmosphärische Chiffre ist: Er meint alles, was östlich von Frankfurt (Oder) liegt. Eine Art mythisches Schattenreich, in dem Panzer rollen, Bären tanzen und böse Männer mit Akzenten Pläne schmieden, um die tapfere westliche Zivilisation heimzusuchen. Wer will da schon kleinlich zwischen Warschauer Pakt und Sowjetunion unterscheiden?

Für den großen dramaturgischen Effekt ist die historische Feinzeichnung ohnehin hinderlich. „Er möchte die alte Sowjetunion wiederherstellen“ klingt nach Weltgeschichte, nach Stahlgewittern, nach Game of Thrones mit Atomraketen. Würde man stattdessen sagen: „Er möchte die Einflusssphäre Moskaus ausweiten, so ähnlich wie früher im Warschauer Pakt“ – ja, da schläft die Talkshow-Runde gleich wieder ein.

Wenn die Geschichte zur Folklore wird

In der politischen Rhetorik ist die Geschichte ja weniger ein Wissensschatz als vielmehr ein Werkzeugkasten. Aus ihm greift man heraus, was gerade poltert, blinkt oder passt. Und wenn’s nicht so ganz stimmt, umso besser: Das Missverständnis weckt Emotionen.

Im besten Falle klopfen Historikerinnen und Historiker später resigniert auf ihren Pulten herum, um zu korrigieren. Im schlechtesten Falle glaubt eine Generation von Schülern, dass die Deutsche Demokratische Sowjetrepublik (DDSR) tatsächlich existiert habe, irgendwo zwischen Rostock und Woronesch, mit eigener Hymne und eigenem Eintrag im Geschichtsbuch.

Und nun, Herr Bundeskanzler?

Man könnte also zurückfragen: Herr Merz, wenn wirklich „ein Teil Ihres Landes“ zur Sowjetunion gehört habe – welcher Teil war es denn? War es das Saarland? (Das gehörte ja immerhin einmal zu Frankreich.) War es Bayern, das sich so gern als eigenes Königreich aufspielt? Oder vielleicht das Siegerland, weil es sich bei der nächsten Gelegenheit ohnehin lieber selbständig machen würde?

Die bittere Pointe: Mit solchen Sätzen schreibt man sich in die Tradition jener Politiker, die mit der Geschichte umgehen wie mit einem Ikea-Regal: Man hat eine vage Vorstellung, was am Ende dabei herauskommen soll, liest aber nicht die Anleitung. Und wenn die Schrauben nicht passen, sagt man: „Ach, das ist bestimmt nur anders gemeint.“

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Epilog: Die rhetorische Sowjetunion

Die alte Sowjetunion gibt es nicht mehr, sie ist seit über dreißig Jahren Geschichte. Was es jedoch immer noch gibt, ist ihre rhetorische Wiederauferstehung: als Schlagwort, als Schreckgespenst, als Joker für jede Talkshow. Und nun eben auch als imaginärer Teil Deutschlands.

Wenn Friedrich Merz also sagt, Putin wolle die Sowjetunion wiederherstellen, „und dazu gehört auch ein Teil meines Landes“, dann ist das weniger Geschichtsunterricht als Selbstinszenierung: Er, der tapfere Kanzler, steht schützend vor dem deutschen Boden, der angeblich einst sowjetisch war. In Wahrheit aber steht er vor einer rhetorischen Kulisse, die so echt ist wie ein Pappmaché-Panzer aus dem Karneval.

Welche Lehre bleibt uns? Nicht jeder, der die Sowjetunion erwähnt, kennt auch die Karte. Und nicht jeder, der die Geschichte bemüht, bemüht sich um die Geschichte.

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