
Es gehört zu den zuverlässigsten Konstanten französischer Politik, dass das Volk irgendwann kollektiv beschließt, das Land müsse stillstehen, und zwar restlos, kompromisslos, bis zur letzten Métro-Linie. Wer glaubt, Generalstreiks seien nur ein museales Relikt der 1970er, wird in Frankreich zuverlässig eines Besseren belehrt: Hier ist der Stillstand ein Hochleistungssport, und zwar einer mit olympischer Disziplin. Am 10. September soll es also wieder so weit sein: Ein Land von 67 Millionen soll kollektiv die Arme verschränken – als ob die Grande Nation sich ein verlängertes Wellness-Wochenende verordnete. Der Unterschied: Während im Spa ätherische Öle dampfen, riecht es in Paris nach Tränengas.
Das Motto diesmal: „Bloquons tout!“ – Blockieren wir alles. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen. Kein halbherziges „Vielleicht streiken wir“, kein deutsches „Warnstreik von 10 bis 11 Uhr“, sondern der große französische Rundumschlag: nichts geht mehr. Nicht arbeiten, nicht fahren, nicht kaufen – ja, nicht einmal der Fernseher darf laufen, was im Mutterland der grande culture télévisuelle einem Akt des Hochverrats gleichkommt.
Die große Koalition der Unzufriedenen
Besonders hübsch an der aktuellen Lage ist, dass sich sowohl ganz links als auch ganz rechts die seltene Gelegenheit bieten, im Gleichklang zu schimpfen. Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon, ansonsten ideologische Erzfeinde, wirken plötzlich wie ein altes Ehepaar, das nach Jahrzehnten ständiger Streitereien beschließt, sich doch wenigstens gemeinsam über die Nachbarn aufzuregen. Was verbindet sie? Natürlich der Hass auf Macron – jenes Chamäleon im Designeranzug, das mit 21 Prozent Zustimmung gerade einmal knapp über der Fehlertoleranz liegt.
Mélenchon versucht, den Protesten ein revolutionäres Sahnehäubchen aufzusetzen: Generalstreik! Ganz Frankreich soll wieder einmal den Geist von 1789 beschwören. Le Pen dagegen reibt sich die Hände: Jeder Tag, an dem Macron schwächer wirkt, ist ein Tag, an dem sie in den Élysée-Palast einziehen könnte – vorzugsweise, ohne auch nur ein Pflastersteinchen selber geworfen zu haben.
Es ist das seltene Schauspiel einer Querfront, die nicht einmal eine gemeinsame Ideologie braucht, sondern nur den gemeinsamen Gegner. Und dieser Gegner ist ein Präsident, der verzweifelt so tut, als hätte er die Zügel noch in der Hand, während das Pferd längst durchgeht.
Bayrous frommer Sparhaushalt – und der Zorn des Osterhasen
Man muss François Bayrou fast Mitleid zollen. Mit 74 Jahren hat der Premier nichts Besseres im Sinn, als den Gürtel enger zu schnallen – nur eben nicht seinen eigenen, sondern den von 67 Millionen Franzosen. Gespart werden soll an Gesundheit, Pensionen und Beamtenstellen. Das klingt technokratisch, ist aber in Frankreich politischer Selbstmord, denn hier ist der öffentliche Dienst nicht einfach ein Arbeitgeber, sondern eine Zivilreligion.
Besonders grotesk wirkt die Idee, zwei Feiertage zu streichen – Ostermontag und den 8. Mai. Der Osterhase soll also in Frührente, und der Sieg über Nazi-Deutschland wird mit einem Achselzucken aus dem Kalender radiert. Es verwundert nicht, dass 84 Prozent der Franzosen diese Idee ablehnen. Wahrscheinlich sind die restlichen 16 Prozent einfach in der Umfrage eingeschlafen.
Die Botschaft ist klar: Wer an den Feiertagen sägt, sägt am Herzen der Nation. In Deutschland könnte man vielleicht den Buß- und Bettag opfern, ohne dass es jemand merkt. In Frankreich jedoch löst schon die Idee, am Ostermontag zu arbeiten, eine Stimmung aus, als hätte man den Eiffelturm bei eBay versteigert.
Die Vertrauensfrage als Himmelfahrtskommando
Macron und Bayrou, in der Rolle des Feuerwehrmanns und Brandstifters zugleich, wollen der drohenden Volkswut mit einem taktischen Manöver begegnen: Am 8. September, zwei Tage vor dem großen Stillstand, soll Bayrou im Parlament die Vertrauensfrage stellen. Man erkennt das Kalkül: Vielleicht halten die Abgeordneten angesichts der Aussicht auf Straßenschlachten noch einmal ihre schützende Hand über die Regierung.
Doch Frankreich wäre nicht Frankreich, wenn diese Rechnung aufginge. Rechts wie links haben bereits angekündigt, die Regierung im Regen stehen zu lassen. Le Pen schielt auf Neuwahlen, die Linke träumt vom Umsturz, und die Sozialisten – deren politisches Überleben schon länger an der Intensivstation hängt – wittern endlich ein Sauerstoffgerät in Reichweite.
Macron selbst steht damit vor einem Dilemma: Zieht Bayrou die Reißleine und stürzt, dann fällt unweigerlich auch der Präsident. Es wäre das klassische Beispiel einer politischen Symbiose – nur dass hier beide Partner gleichzeitig im Sumpf ertrinken.
Die Tragikomödie der Macht
Man könnte die Situation auch als brillante Satire begreifen, wenn sie nicht blutiger Ernst wäre: ein alter Premier, der Feiertage abschafft, um Geld zu sparen; ein Präsident, der sich selbst für Jupiter hält, inzwischen aber kaum noch als Pluto wahrgenommen wird; eine Rechte, die plötzlich das Volk umarmt; und eine Linke, die den Generalstreik als Netflix-Serie verkauft.
Frankreich inszeniert sich einmal mehr als Theaterstaat, in dem die große Bühne wichtiger ist als das Drehbuch. Und während die Akteure sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, steht das Publikum – das Volk – bereit, die Vorstellung mit Böllern und Barrikaden zu garnieren.
Es ist ein Schauspiel, das nur in Frankreich möglich ist: ein Land, das mit gleicher Leidenschaft Revolutionen anzettelt und Baguettes bäckt. Am 10. September soll es stillstehen. Stillstehen? Nein – donnern, krachen, poltern. Der Stillstand wird in Frankreich niemals ein Schweigen sein, sondern stets ein ohrenbetäubender Aufschrei.