„Wir versprechen nichts, was wir nicht halten wollen“ (© Friedrich Merz)

Das ehrliche Missverständnis der Politik

Endlich ist es gesagt. Nicht von irgendeinem x-beliebigen Hinterbänkler, der nach zwei Bier zu viel im Festzelt seine Karriere in Echtzeit abfackelt, sondern vom Chef persönlich: Friedrich Merz, der ewige Hoffnungsträger der Christdemokratie, hat den Satz formuliert, der mehr über Politik verrät als sämtliche Dissertationen in Politikwissenschaft und sämtliche Lobbyistenhandbücher zusammengenommen. „Wir versprechen nichts, was wir nicht halten wollen.“ Ein Satz, so unscheinbar, so unschuldig, so banal in seiner Syntax – und doch ein entlarvendes Sittengemälde des parlamentarischen Betriebes. Denn was der CDU-Vorsitzende da ins Mikrofon haucht, ist nicht weniger als das Eingeständnis: Das Problem beginnt nicht beim Halten, sondern bereits beim Wollen.

Der Unterschied zwischen „nicht können“ und „nicht wollen“

Wer bisher geglaubt hat, Politiker hielten ihre Versprechen nicht, weil äußere Umstände, globale Krisen, böse Märkte oder die notorische FDP dazwischenfunken – der irrt. Merz erklärt, die Sache sei viel banaler: Es fehlt schlicht am Willen. Und Willen, das wissen wir seit Nietzsche, ist Macht, ist Tatkraft, ist das Pathos der Entschlossenheit. Wenn also selbst dieser Wille gar nicht erst vorhanden ist, dann kann das Halten so unmöglich werden wie der Bau eines Flughafens in Berlin, nur ohne dass man sich wenigstens noch am Beton abarbeiten darf.

Man stelle sich vor: Ein Arzt, der erklärt, er verschreibe nur Medikamente, die er verschreiben will – nicht etwa solche, die helfen. Oder ein Feuerwehrmann, der beteuert, er lösche nur Brände, die er auch löschen möchte. Ein Lehrer, der nur Noten gibt, die er geben will – alles andere wäre ja Zwang, Unfreiheit, bürokratische Willkür. Wir lachen, aber die Politik nennt genau diesen Zynismus „Ehrlichkeit“.

Die hohe Kunst des Nicht-Versprechens

Es ist ein wenig wie in einer schlechten Ehe: „Schatz, ich verspreche dir nichts, was ich nicht halten will.“ Der Partner weiß sofort, was gemeint ist: Hier kommt weder die Mülltonne runter, noch der Abwasch in den Schrank. Stattdessen eine brillante Ausrede: „Aber ich habe es dir doch nie versprochen!“ – und die Diskussion ist beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat.

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Die politische Semantik des Nicht-Versprechens ist eine hohe Kunst. Sie besteht darin, mit Worten eine Zukunft zu entwerfen, die man bereits im Moment des Aussprechens stillschweigend entsorgt. Das ist die Dialektik des politischen „Willens“: Man muss wollen, was man ohnehin nicht will, um dann im Rückblick sagen zu können, man habe nie etwas anderes gewollt, als das, was man dann doch nicht getan hat. Wer diesen Knoten entwirrt, verdient mindestens den Literaturnobelpreis für angewandte Sophisterei.

Die Wahrheit zwischen Kaffeekränzchen und Kanzleramt

Man könnte fast dankbar sein für diese sprachliche Offenbarung. Sie zeigt, dass Politik in Deutschland nicht an Überforderung oder Inkompetenz scheitert, sondern an schlichter Lustlosigkeit. Es ist nicht die Weltlage, nicht die Bürokratie, nicht der Föderalismus – es ist die pure Bequemlichkeit. Politik, so könnte man schließen, ist im Kern das institutionalisierte Nicht-Wollen.

Vielleicht erklärt das auch, warum Wahlprogramme in der Regel klingen wie Kaffeekränzchen-Menüs: Ein bisschen Steuererleichterung hier, eine Prise Klimaschutz da, ein Hauch von digitaler Zukunft. Alles hübsch angerichtet, dekoriert mit dem Basilikumblatt der sozialen Gerechtigkeit – doch sobald der Wähler nach der Speisekarte bestellt, erklärt der Ober: „Das wollen wir Ihnen heute leider nicht servieren. Aber Sie können sicher sein: Wir haben es Ihnen auch nie versprochen, wirklich servieren zu wollen.“

Der philosophische Tiefgang des Nicht-Wollens

Vielleicht, und hier lohnt ein Blick auf Kant, ist das eigentliche Problem gar nicht das Versprechen an sich, sondern die Kategorisierung des Willens. Wenn das Wollen selbst in Frage steht, wird das Versprechen zur Farce, die Moral zur Dekoration, die Demokratie zur Theateraufführung. „Sapere aude“ – wage es, zu wollen! Das wäre die wahre Aufklärung. Doch in Berlin scheint man sich eher am „Sedare nolle“ zu orientieren: Wage es, nichts zu wollen.

In dieser Logik ist Friedrich Merz vielleicht kein Politiker, sondern ein Existenzialist, ein unerkannter Philosoph, der uns die Absurdität des politischen Seins vor Augen führt. Camus hatte seinen Sisyphos, wir haben unseren Friedrich, der den Stein gar nicht erst den Berg hinaufrollen will.

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Fazit: Ein Versprechen ohne Versprechen

Man sollte Merz dankbar sein. Denn er hat uns in einem einzigen Satz erklärt, warum Politik so funktioniert, wie sie funktioniert: nicht, weil sie nicht kann, sondern weil sie nicht will. Alles andere ist Folklore, Show, Hintergrundmusik. Vielleicht sollten Parteien künftig ihre Wahlplakate ehrlicher gestalten: Statt „Für ein starkes Deutschland“ oder „Mehr Gerechtigkeit“ einfach nur: „Wir versprechen nichts, was wir nicht wollen.“

Das wäre endlich eine Wahrheit, die man glauben könnte. Und wahrscheinlich das einzige politische Versprechen, das wirklich zu halten wäre.

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