Palantir oder: Der Blick, der zurückblickt

Die schöne neue Übersichtlichkeit – Überwachung als Service

In einer Epoche, in der die Daten schneller fließen als das Wasser aus einer Berliner Leitung (jener Stadt, in der selbst Digitalisierung gelegentlich noch als Schamanismus gilt), stellt sich die Welt auf ein neues Dogma ein: Wissen ist Macht, und absolute Macht ergibt sich aus absolutem Wissen. Willkommen im Zeitalter von Palantir – dem Start-up, das längst keines mehr ist, sondern die digitale Reinkarnation des allsehenden Auges von Sauron, jedoch mit Benutzeroberfläche, Support-Hotline und freundlichem Investorengesicht.

Palantir, benannt nach den Sehenden Steinen aus Tolkiens düsterer Mythologie – und wer das nicht sofort als Warnung versteht, hat entweder zu wenig Fantasie oder zu viel Vertrauen in Silicon Valley –, verkauft nicht Produkte, sondern Möglichkeiten: die Möglichkeit, alles mit allem zu verbinden, jede Bewegung, jede Entscheidung, jeden Atemzug eines Menschen in kausale Beziehung zu setzen mit dem großen Algorithmus-Weltgeist, den wir irrtümlich „Sicherheit“ nennen.

Transparenz ist die neue Privatsphäre – oder: Warum du keine Geheimnisse mehr brauchst, weil du ohnehin keine hast

Datenschutz, ein bürgerliches Luxusproblem der 1990er, überlebt in der Ära Palantir nur noch als museale Erinnerung in Grundgesetzkommentaren und alten Snowden-Memes. Wo früher Richtervorbehalte und richterliche Zurückhaltung herrschten, dominiert heute das Prinzip „Daten zuerst, Fragen später“. Palantir hilft Regierungen, Geheimdiensten und Polizeibehörden, ihre Bürger besser zu „verstehen“. Und wer würde sich nicht gerne verstanden fühlen? Besonders von einer Software, die mit Machine Learning erkennt, dass du deinen Cousin dritten Grades kennst, der in Wuppertal einmal mit jemandem telefoniert hat, der 2007 in einer Chatgruppe war, in der auch ein späterer Gefährder einen Katzensticker gepostet hat.

Die Logik ist bestechend in ihrer Monstrosität: Alles ist potenziell verdächtig – man muss es nur richtig miteinander verknüpfen. Und das kann Palantir: 10 Millionen Datenpunkte pro Minute? Kein Problem. Namen, Orte, Telefonnummern, Flugbewegungen, Finanztransaktionen, Facebook-Likes, WhatsApp-Metadaten und das letzte Tinder-Swipe – alles läuft zusammen im Palantir-Gehirn, das nie schläft, nie vergisst und nie die Menschlichkeit der Maschinen in Frage stellt, weil sie gar keine braucht.

Die Unschuldsvermutung stirbt im Dashboard

Der Clou: Palantir präsentiert seine Erkenntnisse nicht als trockenes Excel-Archiv, sondern als schick animierte Oberfläche – eine Art iTunes für Verdachtsmomente. Polizeibeamte und Analysten lieben das, denn endlich ist Überwachung sexy, intuitiv, gamifiziert. Jeder ist ein bisschen Sherlock Holmes, nur mit weniger Pfeife und mehr Filterfunktion. Die Unschuldsvermutung? Ein sentimentales Relikt. In einer Welt, in der Korrelation gern für Kausalität gehalten wird, ist der Verdacht die neue Wahrheit.

TIP:  Die perfekte Kombination

Wie bequem: Wenn der Verdacht auf Knopfdruck visualisiert wird, wird auch das Denken delegiert. Das System hat’s gesagt, also muss es stimmen. Verantwortung? Liegt beim Code. Und der ist natürlich „proprietär“, geheim, geschützt – ausgerechnet in einem System, das Transparenz von seinen Nutzern (alias Bürgern) fordert, aber selbst agiert wie eine Blackbox im Tarnkappenmodus.

Der Neoliberalismus trifft den Polizeistaat – Daten als Renditeobjekt

Palantir ist dabei nicht einmal originell böse. Es ist nicht Orwell, es ist Excel mit Ambitionen. Es ist nicht Dystopie im klassischen Sinne, sondern schlicht eine weitere Form von Plattformkapitalismus. Der Kunde ist König – sofern der König ein Ministerium ist, das möglichst viel Kontrolle will, möglichst wenig Verantwortung trägt und ein Budget hat, das sich nicht nach Wählerwünschen, sondern nach Bedrohungsszenarien richtet.

Die Ironie? Palantir verkauft seine Dienste oft in Demokratien, die sich als Bollwerke gegen totalitäre Systeme verstehen. Doch während man mit dem Zeigefinger auf China deutet, integriert man im Hintergrund genau jene Technologien, die man andernorts als Überwachungsstaat brandmarkt. Nur mit besserem Marketing. Der Sozialkredit ist halt einfach netter, wenn man ihn auf Englisch bekommt.

Und wo bleibt der Aufschrei?

Er bleibt aus. Denn wer gegen „Sicherheit“ argumentiert, klingt immer wie jemand, der etwas zu verbergen hat. Das ist der perfide Charme dieser neuen Kontrollarchitektur: Sie tarnt sich als Fortschritt, als Effizienz, als Schutz. Und die Bürger? Sie nicken. Sie haben ja „nichts zu verbergen“. Bis sie plötzlich etwas „falsch“ gemacht haben, ohne es zu wissen. Bis ein Algorithmus sie falsch verstanden hat. Und dann? Viel Glück beim Widerspruch gegen eine KI-gesteuerte Verdachtsmatrix.

Die Frage ist nicht mehr, ob wir in einer Überwachungsgesellschaft leben. Die Frage ist, wie viel Design und UX es braucht, bis wir es lieben, überwacht zu werden.

Epik der Ironie – und der ganz reale Wahnsinn

Palantir ist keine Fiktion. Es ist Realität mit Logo, Mitarbeiterhandbuch und Cloud-Zugang. Es ist ein Unternehmen, das mit Daten handelt, als wären es Waren. Es ist ein Werkzeug, das Demokratie in ein Planspiel verwandelt – und das mit einem einzigen Mausklick zur Tyrannei in Schönschrift werden kann.

Und wir? Wir scrollen weiter, stimmen AGBs zu, teilen Standortdaten, installieren Gesundheits-Apps, sprechen mit Sprachassistenten und wundern uns, wenn irgendwann die Polizei schon weiß, dass wir heute lieber Pizza statt Salat bestellt haben.

Nachsatz aus dem Spiegel der Vernunft

Der Palantír in Tolkiens Welt konnte vieles zeigen – aber nie die ganze Wahrheit. Er zeigte, was man sehen sollte, nicht, was war. Und wer zu lange hineinsah, verlor sich. Auch das: keine Metapher mehr, sondern Betriebsanleitung.

TIP:  Von Resignation und Kampf

Palantir: Aus dem CIA-Inkubator direkt ins Innenministerium

Palantir Technologies wurde 2003 gegründet – mit Startkapital von In-Q-Tel, dem Investmentarm der CIA. Der Auftrag war klar: Eine Plattform zur Auswertung massiver Datenmengen – aus Geheimdienstquellen, Überwachungssystemen, Polizeidatenbanken. Früh wurde klar: Wer dieses Werkzeug besitzt, kann Muster erkennen, wo der Mensch nur Datenmüll sieht – oder glaubt, noch Privatsphäre zu haben.

Peter Thiel, Mitgründer und radikaler Libertärer mit autoritären Neigungen, erklärte 2009 offen, dass „Demokratie und Freiheit nicht mehr vereinbar“ seien. Und er wusste: Der Weg zur Macht führt nicht mehr über Parlamente, sondern über Plattformen. Palantir war sein trojanisches Pferd.

Das Produkt: Totale Auswertung.

Palantirs Flagschiff-Software Gotham wird weltweit von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten genutzt. Die Software ist kein „klassisches Überwachungstool“, sondern eine Datenfusionsmaschine. Sie saugt strukturierte und unstrukturierte Daten aus:

  • Behördenakten (Strafverfolgung, Ausländerbehörden, Gesundheitsämter)
  • Mobilfunkmetadaten
  • Kreditkartenzahlungen
  • Open Source Intelligence (OSINT): Soziale Medien, Nachrichtenportale
  • Lizenzkennzeichenerkennungssysteme
  • Videoüberwachung
  • Gesundheitsdaten (z. B. in den USA im Zuge von COVID-19)

Was Gotham daraus macht, ist eine Art soziale Rasterfahndung in Echtzeit: Verknüpfungen, Aufenthaltsorte, Netzwerke, mutmaßliche „Gefährder“ – auf Knopfdruck.

Deutschland: Kein Widerstand. Nur Unterschriften.

2017: Das Bundeskriminalamt (BKA) testet Palantir für die Terrorismusabwehr.

2018: Das hessische Innenministerium unter Peter Beuth (CDU) führt Palantir unter dem Tarnnamen HessenDATA ein – ohne Ausschreibung, direkt, auf Zuruf. Der damalige Datenschutzbeauftragte schlägt Alarm. Ergebnis: Ein Gutachten wird erstellt, das dem BKA abrät. Die Polizei bleibt dabei.

2020: Nordrhein-Westfalen unter Innenminister Herbert Reul (CDU) führt Palantir ein. Name diesmal: NADIA. Kostenpunkt: Millionen Euro. Angeblich DSGVO-konform. Kritiker sprechen von einer „Rechtsstaatssimulation“.

2023: Der Bund plant ein eigenes „Datenanalysezentrum“. Und: Palantir ist als „Partner“ im Gespräch. Der Begriff polizeilicher Datenverbund wird zum Euphemismus für Überwachungskonzerne mit Außenstelle in Washington D.C.

Die Bilanz: Kein Terror verhindert, aber Grundrechte beschädigt

Erfolgsmeldungen? Keine. Weder in Hessen noch in NRW gibt es belastbare Hinweise, dass Palantir-Antiterrorsoftware je ein Anschlagsvorhaben vereitelt hätte. Stattdessen:

  • 2021: Die „Frankfurter Neue Presse“ deckt auf, dass Beamte in HessenDATA private Daten von Journalisten und Aktivisten abfragten – für „private Zwecke“.
  • 2022: Das Bundesverfassungsgericht urteilt: Teile der Hessendatennutzung sind verfassungswidrig. Der Staat hat seine Pflicht zum Schutz personenbezogener Daten verletzt.
  • 2023: Datenschutzbeauftragte monieren erneut: Die Trennung zwischen Analyse und operativen Daten wird systematisch verwischt. Der Zweckbindungsgrundsatz? Eine Formalität.
TIP:  Die Reinheitsprüfung

Die Polizei selbst? Begeistert. Das Tool sei „unverzichtbar“. Die Gewerkschaft der Polizei spricht von „Gamechanger“. Die Frage, ob ein rechtsstaatliches System auf ein intransparentes US-System angewiesen sein sollte, stellt keiner mehr laut.

Europa macht es nach – oder schlimmer

  • Frankreich: Palantir wird vom Militär eingesetzt – u. a. für Auslandseinsätze in Mali.
  • Niederlande: Die Steuerbehörde nutzt Palantir-ähnliche Systeme für Risikoanalysen – und diskriminierte damit systematisch Menschen mit Migrationshintergrund (Skandal: „Toeslagenaffaire“).
  • UK: Die NHS (National Health Service) vergibt einen Millionenauftrag an Palantir zur Analyse von Patientendaten – unter massivem Protest von Ärzten und Datenschützern.

Demokratische Institutionen, die früher Grundrechte garantierten, werden zu Auftraggebern eines Unternehmens, das sich von diesen Rechten nie hat beeindrucken lassen.

Wer kontrolliert die Kontrolleure? Niemand.

Die Verträge mit Palantir sind geheim. Die Öffentlichkeit erfährt Details oft nur durch Anfragen von Journalist:innen oder geleakte Dokumente. Kein Parlament prüft die Algorithmen. Kein öffentliches Audit offenbart, wie Fehlanalysen entstehen. Kein Bürger hat Einblick, ob er falsch verdächtigt wurde.

Der Staat outsourct nicht nur seine technische Infrastruktur – er externalisiert seine Verantwortung.

Palantir sagt: „Nur Daten, keine Entscheidungen.“
Doch Daten strukturieren Entscheidungen. Und sie tun es in einer Blackbox, die nicht verklagbar, nicht nachvollziehbar, nicht demokratisch legitimiert ist.

Realpolitik trifft Sicherheitsillusion: Die stille Umkehrung der Beweislast

Mit Palantir etabliert sich ein neuer Gesellschaftsvertrag: Du bist sicher – aber nur solange du keine Anomalie bist. Kein abweichender Aufenthaltsort, kein auffälliger Geldtransfer, kein „ungewöhnlicher Kontakt“.

Das Narrativ der Behörden: „Wir müssen mit den Daten arbeiten, die wir haben.“
Die Wahrheit: Sie sammeln die Daten, mit denen sie dich irgendwann zur Gefahr erklären können.

So entsteht der paradoxe Effekt, dass in der angeblich freiesten Gesellschaft der Welt der Verdacht zur Norm wird – und der Rechtsstaat zur Fassade.

Schlussakkord: Eine Demokratie auf Bewährung

Palantir ist kein Konzern der Zukunft. Es ist ein Unternehmen der Gegenwart – ein Unternehmen, das Demokratie als Datenproblem löst. Es baut nicht an der Dystopie – es ist die Dystopie, nur dass sie in den Farben von Ordnung, Effizienz und Prävention erscheint.

Die Frage ist nicht mehr, ob diese Entwicklung aufzuhalten ist. Die Frage ist, wann der Preis sichtbar wird. Und ob es dann zu spät ist.

Denn wer glaubt, er könne einer Regierung mit Vollzugriff auf Vergangenheit, Gegenwart und Prognosen seiner Bewegungen widersprechen – der hat weder Palantir noch Peter Thiel verstanden.

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