Die Wahrheit in Trümmern – Medien, Moral und Mohammed

Die Diktatur der Optik: Wenn ein Bild mehr sagt als die Wahrheit

Es war einmal ein Kind. Ausgemergelt, winzig, leblos in den Armen seiner Mutter. Das Bild ging um die Welt wie ein in Flammen stehender Bote – nicht der Wahrheit, sondern der Empörung. Und wie es mit heiligen Ikonen so ist: Wer sie hinterfragt, begeht Blasphemie. Der kleine Mohammed – das neue Sinnbild für das Leiden Gazas, das kollektive Schluchzen der Weltöffentlichkeit, das knochige „Wehret den Anfängen“ in Millionen Wohnzimmern. So wirkt es zumindest auf den ersten Blick.

Doch der zweite Blick, wie so oft, ist ein unbequemer Gast. Er räumt auf mit der Komfortzone der Empörung. Mohammed ist nicht Opfer eines gezielten Aushungerns. Er ist krank. Seit Geburt. Zerebralparese. Sechs statt neun Kilo – ja. Aber kein Hungerstreik gegen Israel. Sondern ein Körper, den die Natur selbst sabotierte. Doch was nützt die Wahrheit, wenn sich das Bild schon in die Retina der Welt eingebrannt hat wie ein Heiligenschein in der Sixtinischen Kapelle? Wahrheit, das langweilige Grauschattierte, kann der Wucht eines ikonischen Bildes selten das Wasser reichen.

Von der Pflicht zur Prüfung zur Lust an der Pose

Man hätte fragen können. Hätte prüfen, recherchieren, nachhaken können. Doch Recherche ist anstrengend. Emotionen hingegen – leicht entflammbar. Und wenn ein Bild wie Mohammeds erst einmal brennt, dann zündet es gleich ein ganzes Narrativ mit an. Hunger. Israel. Schuld. Schwarz. Weiß. Die BBC wusste von physiotherapeutischer Behandlung. Die New York Times fabulierte einen toten Vater „auf Nahrungssuche“. Die Wahrheit? Ein Gefecht. Ein Terroristenversteck. Aber wer will schon von Kriegszonen hören, wenn das Kind in der Mutterbrust ruht wie ein moderner Pietà-Jesus?

„Neue Informationen“ – so beschönigt die Times ihr Versagen. Und bringt die Korrektur nicht etwa auf die große Bühne der eigenen Plattform, sondern auf ein PR-Kammerl mit 90.000 Followern. Das wäre in etwa so, als würde man einem Großbrand mit einer Pipette begegnen. Die alte Redewendung vom Baum im Wald, der fällt, wenn niemand hinhört – sie lebt weiter, nur digital: Ein Rückzug im Flüsterton, nachdem man zuvor mit Megafon angeschrien hat.

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Mohammed, Osama, Metapher: Die Kinder des Zorns als Projektionsfläche

Und Mohammed ist nicht allein. Osama al-Raqab, ebenfalls abgemagert, ebenfalls zum Symbol des Aushungerns erklärt – ist Mukoviszidose-Patient. Auch er: kein Opfer einer politischen Blockade, sondern genetischer Tragik. Evakuiert durch Kooperation mit Israel, behandelt in Mailand, Fortschritte sichtbar. Die Story wäre eigentlich ein Hoffnungsnarrativ. Doch Hoffnung verkauft sich schlecht, wenn der Zorn bereits Klickzahlen verspricht. Und so wandelt sich das leidende Kind zur Metapher: Nicht mehr Mensch, sondern Munition im Informationskrieg.

Das Kind wird zur Waffe. Ein stiller Vorwurf mit großen Augen. Und wer es nicht als Waffe nutzen will, wird selbst verdächtig. Das Bild wird zum Argument, das sich gegen Widerspruch immunisiert. Was bleibt, ist die bequeme Moral: „Man sieht doch, was passiert!“ Nein – man sieht, was man sehen will. Und man zeigt, was man zeigen will.

Medien als Komplizen: Der Empörungs-Journalismus und seine Alibi-Moral

In einer Welt, in der Moral längst zum Geschäftsmodell wurde, sind Medien keine Wächter der Wahrheit mehr, sondern Zulieferer fürs Gefühlskonto. Wo früher Aufklärung war, ist heute Einfühlung. Recherche wird ersetzt durch Resonanz. Klicks vor Kontext. Schlagzeile vor Substanz. Und wehe, jemand ruft „Halt, das stimmt so nicht!“ – er wird niedergetrampelt vom Chor der Empörung, der längst nicht mehr hören, sondern nur noch schreien will.

Ob es Ignoranz war oder Absicht, ist fast egal. Die Wirkung bleibt dieselbe: Das Bild wurde zur Waffe. Es erschießt keine Menschen, aber es tötet Diskurs. Und es bedient genau das, was Propagandisten wie die Hamas lieben: das Opfer-Narrativ, das Schuldparadigma, das Rauschen der Entrüstung, das Denken ersetzt.

Das stille Sterben der Differenzierung

Differenzierung? Ein Relikt. Wie Faxgeräte oder Vernunft. In der Ära der visuellen Schlagkraft hat sie ausgedient. Der Kontext stirbt den Tod durch Redaktionsschluss. Die Wahrheit wird beerdigt unter Schlagzeilen wie „So sieht Hunger aus“. Die Mutter weint. Die Medien drucken. Die Moral applaudiert. Und irgendwo stirbt die Aufrichtigkeit – nicht spektakulär, sondern still, wie eine Fußnote, die niemand mehr liest.

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Es ist bequem, Mohammed zum Symbol zu machen. Es ist unbequem, ihn als das zu sehen, was er ist: ein tragisches, kränkliches Kind, das unsere Anteilnahme verdient – aber nicht unsere ideologische Vereinnahmung. Ein Kind, keine These. Ein Leben, kein Leitartikel.

Die Wahrheit als Kriegsopfer – wieder einmal

Vielleicht ist das die eigentliche Tragik in all dem: Nicht nur Mohammed wurde instrumentalisiert. Nicht nur Osama. Sondern wir alle. Die Wahrheit, wenn sie denn noch irgendwo atmet, wird zur letzten Unbeteiligten im großen Spiel der Meinungen, Narrative und Moralimitationen.

Es ist nicht neu, dass in Kriegen zuerst die Wahrheit stirbt. Aber selten hat sie so viele Zuschauer dabei gehabt. Und noch seltener hat sie so wenig interessiert.

ANMERKUNG; am 31. Juli 2025 noch online

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