
Ein Birnenschicksal in sieben Zeitzonen
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem gemütlichen Sonntagmorgen vor einer dampfenden Schale Birnenkompott. Der Duft ist verführerisch süß, ein Hauch von Zimt liegt in der Luft, und die Konsistenz ist geradezu perfekt: nicht zu weich, nicht zu fest. Was Sie da löffeln, so glauben Sie, sei ein schlichter Genuss – saisonal, regional, vielleicht sogar mit einem romantisch-bäuerlichen Anflug von Nachhaltigkeit. Was Sie in Wahrheit löffeln, ist der Triumphzug einer absurden Weltordnung – das Ergebnis von über 50.000 Reisekilometern, vier verschiedenen Währungen, sieben Mindestlöhnen, zwölf CO₂-Zertifikaten und einer ökologischen Fußspur, die der Elefantenherde des Anthropozäns zur Ehre gereicht.
Denn diese Birne ist keine gewöhnliche Frucht. Sie ist ein kosmopolitisches Wunderwesen der neoliberalen Spätmoderne. Geboren im Schatten der Anden, aufgezogen in argentinischen Plantagen unter der Sonne Patagoniens, in Monokultur-Reihen, die mit Pestiziden begossen werden wie deutsche Schrebergärten mit Bier. Sie wurde geerntet von billigen Händen mit teuren Träumen – Arbeitsmigranten aus Paraguay, angelockt von Versprechungen, die nur das Freihandelsabkommen eingehalten hat.
Verpackungskunst in Südostasien – global effizient, lokal absurd
Doch die Reise beginnt erst. Frisch vom Baum wird das Obst in Plastik gewickelt, in Kühlcontainern verladen, mit Diesellärm über den Atlantik geschippert, durch den Panamakanal geschleust, vorbei an Küsten voller Mikroplastik, und schließlich in ein thailändisches Verpackungszentrum geliefert, das aussieht wie eine Mischung aus Ikea-Lager und Industriedystopie.
Warum Thailand? Aus demselben Grund, aus dem man in Bangladesch Baumwolle verwebt, die aus Texas stammt, um dann Jeans für Berlin zu produzieren: weil es geht. Weil dort die Hände billig, die Vorschriften dünn und die Gewerkschaften still sind. Der thailändische Verpackungsarbeiter, ein anonymes Zahnrad im Weltmarktgetriebe, bekommt pro Tag weniger als der Birne ihre Zollmarken kosten. Seine Aufgabe ist es, die weichgekochte Frucht in eine Plastikschale mit buntem Etikett zu drücken, das mit klimaneutralem Grün suggeriert, hier wäre Mutter Natur persönlich am Werk gewesen.
Ein Etikett übrigens, das aus chinesischem Zellstoff gefertigt und in der Ukraine bedruckt wurde, bevor es mit dem Flugzeug nach Bangkok gebracht wurde – aus Zeitgründen, versteht sich.
Einmal um den Globus – und ab ins Supermarktregal
Doch auch damit ist die Reise noch nicht zu Ende. Verpackt, etikettiert und mit einer Lebensgeschichte ausgestattet, die bei „Wer bin ich?“ jede Therapiesitzung sprengen würde, wird das Kompott per Containerfrachter über den Pazifik geschippert. Ziel: Los Angeles. Dort erwartet es ein Distributionszentrum in der Größe eines mittelgroßen Staates, in dem Gabelstapler zwischen Bergen von Avocados, Mangos und Frühstücksflocken navigieren wie Fluglotsen auf Ecstasy.
Hier wird sortiert, etikettiert, kodiert und zugeteilt – bis das Glas mit dem argentinisch-thailändisch-amerikanischen Birnenkompott schließlich in einem Walmart in Ohio landet. Dort kauft es ein übermüdeter Familienvater für 2,99 Dollar, ohne zu ahnen, dass er damit eine ökonomische Kettenreaktion ausgelöst hat, deren Komplexität selbst ein Quantenphysiker als „nicht intuitiv“ bezeichnen würde.
Die unsichtbare Dummheit der Effizienz
Die Globalisierung gilt gemeinhin als Ausdruck rationaler, effizienter, wachstumsorientierter Modernität. Ein Planet, der wie ein Uhrwerk funktioniert, geölt von Logistik, getaktet von Algorithmen, gesteuert von „Just-in-Time“-Lieferketten und optimiert durch künstliche Intelligenz.
In Wahrheit aber ist sie der teuerste Umweg der Geschichte. Ein System, das mehr Energie verbraucht, um Dinge möglichst weit weg zu holen, als es je aufbringen würde, sie in der Nähe sinnvoll zu erzeugen. Die Effizienz der Globalisierung ist die Effizienz des Wahnsinns: rechnerisch unschlagbar, realitätspraktisch grotesk.
Denn in dieser Logik ist es nicht sinnvoll, eine Birne dort zu pflücken, wo sie gegessen wird. Es ist billiger, sie um die Welt zu schicken. Der Planet als Förderband, die Frucht als Kettenprodukt, der Konsument als Endstation einer logistischen Totalkarambolage.
Nachhaltigkeit als Dekoration
Selbstverständlich klebt auf dem fertigen Produkt ein Bio-Siegel. Natürlich ist das Glas recycelbar. Und sicher ist der Versand „kompensiert“. Mit einem Klick auf der Website des Herstellers kann man sich einen virtuellen Baum in Madagaskar anschauen, der angeblich das CO₂ dieser globalen Fruchtneutralisierung neutralisiert.
Dabei ist längst klar: Kein Baum der Welt kann all das wiedergutmachen, was da täglich durch Container, Flugzeuge, Lieferwagen, Stromnetze, Barcode-Scanner und Steueroptimierungsschlupflöcher gejagt wird. Der Birnenkompottwahnsinn ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Er ist keine Panne, sondern das System.
Globalisierung, so wie sie heute betrieben wird, ist nicht die Lösung für die Welt – sie ist das Problem der Welt. Und ausgerechnet jene, die ihre Absurdität laut beklagen, tun es oft beim Bio-Birnenkompott aus Übersee, während sie mit dem Daumen am Smartphone durch Lieferdienste scrollen.
Der süße Geschmack des Unverstands
Die Pointe ist bitter. Oder süß, je nach Geschmack. Die Menschen kaufen Globalisierung, weil sie billig ist. Sie klagen über ihre Folgen, weil sie spürbar werden. Und sie wählen Politiker, die versprechen, all das zu ändern – aber bitte ohne das Angebot im Supermarkt zu verringern.
Der moderne Mensch will Nachhaltigkeit, ohne auf Bequemlichkeit zu verzichten. Er will Regionalität, aber mit tropischem Flair. Er will faire Löhne, aber keine teuren Produkte. Er will alles – und zwar sofort.
Die Globalisierung hat ihm diesen Wunsch erfüllt. Auf Kosten des Planeten, der Arbeitskräfte, der Logik. Und eben jener kleinen Birne, die einst still am Baum hing, bevor sie zur Weltbürgerin gemacht wurde, um in einem Glas zu enden, das niemand braucht, aber jeder kauft.
Epilog
Vielleicht brauchen wir gar keine neuen Gesetze, keine CO₂-Steuern und keine UN-Klimagipfel. Vielleicht bräuchte es nur eines: dass jeder einmal sein Kompott rückverfolgen muss. Nicht via Trackingnummer – sondern per Flugticket.
Und dann, vielleicht, schmeckt Regionalität wieder nach Vernunft.
Oder nach Birne. Einfach nur Birne.