Der Kulturkampf ist tot – es lebe der Kulturkampf!

Über die plötzliche Friedenssehnsucht derjenigen, die jahrzehntelang die Peitsche geschwungen haben

Es ist ein bemerkenswerter Moment, wenn die einstigen Hohepriester der moralischen Lufthoheit plötzlich zur Mäßigung aufrufen. Auf einmal, nach Jahren der kultivierten Verachtung gegenüber dem sogenannten Pöbel, nach Jahrzehnten der Verordnung gesellschaftlicher Transformationspflichten von oben herab, heißt es: „Lasst uns den Kulturkampf doch bitte beenden.“
Wieso gerade jetzt?
Ach, wie rührend. Man solle, so die neuen Friedensapostel, „vom Baum steigen“ – der Baum sei wohl der der Aufklärung, des Fortschritts, der Vernunft, den sich die intellektuelle Klasse stets als ihr exklusives Eigentum vorbehielt. Jetzt, wo die Äste knacken und der Boden der Realität näher rückt, soll es plötzlich ein Miteinander geben.

Der Anlass für diese plötzliche Friedenssehnsucht? Eine Personalie. Oder präziser: die Besetzung eines Richterpostens am Bundesverfassungsgericht. Der Vorschlag der Regierung soll einfach so durchgewunken werden, bitte ohne lästige Debatten, ohne Kulturkampfgeheul, ohne populistisches Gezeter. „Wählt doch einfach, was wir euch vorgeben, dann hört das ganze Theater auf.“
Man könnte es auch einfacher ausdrücken: Kapitulation gefällig?

Moralische Abrüstung als letzter taktischer Trick

Wer den Diskurs kontrolliert, darf bestimmen, wann Schluss ist – nur dumm, wenn der Diskurs plötzlich entgleitet

Natürlich wollen die intellektuellen Eliten den Kulturkampf beenden – jetzt, da sie ihn zu verlieren drohen.
Das ist wie ein Schachspieler, der seit zwanzig Zügen grinsend die Dame auf dem Brett spazieren ließ, sich dann aber plötzlich in der Defensive wiederfindet und ruft: „Lass uns doch bitte Remis machen, das wäre fair.“
Nur: Es war nie ein Spiel auf Augenhöhe. Es war immer ein Krieg von oben nach unten. Eine asymmetrische Auseinandersetzung, in der einer predigt und der andere gefälligst zu parieren hat.

Diejenigen, die heute versöhnlich raunen, haben über Jahre hinweg Meinungen pathologisiert, Debatten moralisiert, Andersdenkende marginalisiert. Sie haben Gender-Sternchen zu Glaubensfragen gemacht, jeden Zweifel an Migrationspolitik mit dem Etikett „rechts“ beklebt und dabei jeden Widerspruch mit einem süffisanten Lächeln abgetan – als sei es der naive Furor des Hinterwäldlers, der die Komplexität der Welt nicht versteht.
Doch siehe da: Der Hinterwäldler hat inzwischen Internet, Plattformen, eigene Medienkanäle. Und schlimmer noch: Er wählt. Und zwar manchmal das Falsche. Oder – aus Sicht der Hoheitsverwalter der guten Moral – das absolut Undenkbare.

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Wer die Gesellschaft umerzieht, muss mit Rückwirkung rechnen

Ein Nachruf auf den pädagogischen Furor der letzten Jahrzehnte

Seit den 90ern läuft das große Umerziehungsprogramm, hübsch verpackt als Wertewandel. Alles wird „sensibilisiert“, „diversifiziert“, „dekolonialisiert“ – bis auf den gesunden Menschenverstand, der wurde systematisch amputiert.
Der Bürger sollte nicht mehr Bürger sein, sondern Transformationsobjekt. Es gibt kein Tabu, das nicht gebrochen wurde, außer dem, das alles infrage zu stellen. Die eine große Wahrheit wurde gepredigt, vom Klima über den Feminismus bis zum Postnationalismus. Wer nicht spurte, war entweder „nicht mehr ganz auf der Höhe“ – oder gleich ein Feind der offenen Gesellschaft.

Nur: Der gemeine Mensch, der da draußen noch Brötchen holt und nicht in Thinktanks konferiert, hat ein längeres Gedächtnis als vermutet. Er erinnert sich daran, wer ihn jahrelang belehrte, beschimpfte, umerzog. Und plötzlich soll er all das vergessen, weil die Karten gerade schlecht liegen?
Da wird ein Friedensangebot gemacht, das keines ist. Es ist ein Aufruf zur Unterwerfung: „Hört auf, euch zu wehren – dann hört der Krieg auf.“

Der Machtverlust als psychologisches Trauma

Warum die intellektuelle Elite den Populismus nicht versteht – und auch nicht verstehen will

Für die akademische Oberklasse ist es unerträglich, dass der politische Raum wieder streitbar wird – nicht im Sinne gepflegter Debatten bei Rotwein in Berliner Altbauwohnungen, sondern als rauer, widerborstiger Diskurs. Es wird geschimpft, es wird widersprochen, es wird nicht mehr brav mitgespielt. Das gilt als Affront.
Der Populist – das war immer der andere. Der mit dem schlechten Geschmack, dem lauten Ton, dem verdächtigen Dialekt. Dass der Populismus eine direkte Folge des pädagogischen Dirigismus der letzten Jahrzehnte ist, das will man nicht hören. Wer Wind sät, darf sich nicht über Stürme wundern, aber genau das passiert gerade: Man ist beleidigt, dass der Pöbel das Megafon gefunden hat.

Jetzt also die Rolle rückwärts: Der Kulturkampf soll bitte zu Ende sein. Nicht weil man zur Einsicht gekommen wäre, sondern weil man die Kontrolle verliert. Es ist kein Ruf nach Verständigung, sondern der Wunsch nach restaurativer Ordnung:
„Lassen wir das doch alles hinter uns und machen weiter wie bisher. Nur eben ohne diese lästigen Widerworte.“

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Von der Hybris zur Panik

Der Moment, in dem der Sieger merkt, dass er selbst am Abgrund steht

Es gibt einen Punkt in jeder Geschichte, an dem der Sieger zu spät merkt, dass der Boden unter seinen Füßen bröckelt. Dieser Punkt ist jetzt. Der jahrzehntelange Feldzug gegen den angeblich rückständigen Teil der Gesellschaft hat eine Gegenbewegung erzeugt, die nicht mehr wegzudiskutieren ist.
Man kann nicht ewig paternalistisch auf Menschen herabblicken, ohne dass sie irgendwann den Blick erwidern – und zwar mit hochgezogenen Augenbrauen und der Faust in der Tasche.

Der Ruf nach Beendigung des Kulturkampfes ist daher kein Friedensangebot, sondern ein Schwanengesang der Deutungshoheit. Man weiß, dass das nächste Kapitel nicht mehr exklusiv geschrieben wird – nicht mehr nur in den Redaktionsräumen der Qualitätszeitungen, nicht mehr in den Talkshows der immer gleichen Gesichter.
Der Kulturkampf wird nicht enden, weil ihn plötzlich alle doof finden. Er wird weitergehen, härter, vielstimmiger, anarchischer. Vielleicht ungerecht, vielleicht schmutzig. Sicher unbequem. Aber: endlich auf Augenhöhe.

Und das ist vielleicht das Bitterste für diejenigen, die jetzt den Frieden beschwören: Dass der Widerstand gegen ihre Kulturrevolution nicht mehr höflich, nicht mehr brav, nicht mehr rückfragend um Erlaubnis bittet.

Er kommt einfach.
Und bleibt.

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