
Wie man den wahren Kern der Rentenkrise ignoriert
Die Debatte um den sogenannten „Boomer-Soli“ hat sich in den vergangenen Wochen zu einem regelrechten Polit-Spektakel entwickelt, bei dem das übliche Spektrum an Schuldzuweisungen, hehren Versprechungen und grotesken Selbstinszenierungen in atemberaubender Geschwindigkeit durchgespielt wurde. Marcel Fratzscher, seines Zeichens DIW-Chef und ökonomischer Wohltäter wider Willen, hat sich mutig an die Rolle des modernen Robin Hood gewagt: Nimm den reichen Rentnern und gib den armen. Ein Konzept, so simpel wie populistisch – und genau deshalb so verführerisch für alle, die eine schnelle Lösung in der Handlungsunfähigkeit der Politik suchen.
Doch halt! Wer jetzt jubelt und sich auf den vermeintlichen Durchbruch in der Rentenpolitik freut, hat das Prinzip der Ablenkung nicht erkannt. Der „Boomer-Soli“ ist keine Antwort, sondern ein billiger Trick, eine Nebelkerze, um von den wahren Ursachen des Problems abzulenken. Eine populäre, ja, fast schon suggestive Verlagerung der Schuld – nämlich auf die „reichen Rentner“ als vermeintliche Profiteure eines Systems, das sie angeblich zu Unrecht ausbeuten. Dabei übersieht man eines: Das Problem liegt nicht im Verteilungszwist zwischen den Generationen, sondern in einem grundsätzlichen strukturellen Versagen eines Systems, das seit Jahrzehnten von politischen Flickschustereien und kurzsichtigen Interessen geprägt ist.
Warum das „Nehmen und Geben“ am Ende nur eine politische Marionette ist
Marcel Fratzscher, der behauptete, die Kritik an den Aussagen von Wirtschaftsminister Habeck zu Insolvenzen („Dann sind die nicht insolvent automatisch, aber sie hören vielleicht auf zu verkaufen“) sei unverständlich, ja, sogar kontraproduktiv. Er sehe in Habecks Aussagen eine nüchterne Beschreibung der Realität, eine analytische Klarheit, die vielen fehlt. Doch wer die Realität, im Gegensatz zu Fratzscher, nüchtern betrachtet, der erkennt auch, dass der „Boomer-Soli“ nur ein politisches Ablenkungsmanöver ist. Es geht nicht darum, den Armen wirklich zu helfen, sondern darum, den Druck von den eigentlichen Verursachern abzulenken – den Kapitalmärkten, den Banken, den politischen Entscheidungsträgern, die den Sozialstaat seit Jahrzehnten systematisch ausgehöhlt haben.
Die Idee, man könnte durch eine einfache Umverteilung von einer gesellschaftlichen Gruppe auf eine andere das Rentenproblem lösen, ist so naiv wie zynisch zugleich. Naiv, weil sie die komplexen demografischen und wirtschaftlichen Realitäten ignoriert: eine alternde Gesellschaft, schrumpfende Erwerbsbevölkerung, stagnierende Produktivität. Zynisch, weil sie den Eindruck erweckt, man könne die Lasten der sozialen Sicherung auf einzelne „Sündenböcke“ abwälzen, ohne das eigentliche System zu reformieren.
Die Rentenpolitik als Symptom eines größeren Versagens
Der „Boomer-Soli“ ist somit symptomatisch für eine Rentenpolitik, die sich in immer neuen taktischen Manövern verliert, anstatt sich den grundsätzlichen Fragen zu stellen. Wie finanzieren wir einen Sozialstaat, der allen Generationen gerecht wird? Wie schaffen wir es, eine Solidargemeinschaft aufrechtzuerhalten, wenn der soziale Zusammenhalt durch neoliberale Ideologien und ökonomische Zwänge zerbröselt? Wie verhindern wir, dass die Rentenpolitik zum Spielball kurzfristiger politischer Interessen wird, bei dem die Schwächsten am Ende immer verlieren?
Dass Fratzscher die Rolle des Robin Hood einnimmt, zeigt vor allem eines: Die Verzweiflung, in einem System Orientierung zu finden, das längst aus den Fugen geraten ist. Es ist ein Versuch, Hoffnung zu stiften, wo längst Resignation eingekehrt ist. Doch eine Lösung sieht anders aus. Sie beginnt mit Ehrlichkeit, mit dem Mut zur tiefgreifenden Reform und der Bereitschaft, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Der „Boomer-Soli“ hingegen ist eine billige Pointe in einem Theaterstück, das längst viel zu lange auf der Bühne steht – und dessen Ende längst überfällig ist.
Fazit: Mehr als ein „Boomer-Soli“ braucht es Mut zur Wahrheit und radikale Reform
Wer ernsthaft die Rentenkrise lösen will, darf sich nicht in populistischen Debatten um Schuldzuweisungen verlieren, die nur dazu dienen, von den strukturellen Defiziten abzulenken. Der „Boomer-Soli“ ist kein Befreiungsschlag, sondern ein billiges Ablenkungsmanöver, das uns weiter von der wahren Herausforderung entfernt. Es braucht keinen Robin Hood, der auf Kosten einer Generation zum Helden stilisiert wird, sondern eine ehrliche Debatte über die Finanzierungsgrundlagen, die gesellschaftliche Solidarität und die Zukunft unseres Sozialstaates.
Der wahre Kampf um die Rente beginnt nicht in der Umverteilung zwischen Alt und Jung, sondern in der Frage, wie wir als Gesellschaft gemeinsam und solidarisch eine lebenswerte Zukunft gestalten – ohne Illusionen, dafür mit einer gehörigen Portion bitterem Realismus und dem Mut, alte Denkweisen radikal zu hinterfragen. Denn nur so kann aus bitterer Satire wieder Hoffnung werden.