
Von Visionen, die die Realität höflich ignorieren
Es gibt Dinge, die wiederholen sich so zuverlässig wie der Sonnenaufgang über dem Äquator. Dazu gehört der Zyklus aus Hoffnung, Hybris und hilflosem Schulterzucken, der die Berichterstattung über Afrikas Wirtschaftsaussichten prägt. Alle paar Jahre wird Afrika der „Wachstumsmarkt der Zukunft“ genannt, als wäre dieser Satz ein Mantra, das allein durch Wiederholung die Realwirtschaft stimuliert.
2013 erfand die Afrikanische Union die „Agenda 2063“. Ein Masterplan, der sich liest wie das Menü eines Fünf-Sterne-Restaurants in einem Land, das weder einen Herd noch Teller besitzt. Armut beseitigen, den Anteil am Welthandel verzehnfachen, Frieden stiften, Demokratie verbreiten, Bildung, Infrastruktur, Industrialisierung, Digitalisierung – kurz: den Kontinent neu erfinden. Es fehlte eigentlich nur noch das Versprechen, das Wetter ab 2063 auf „sonnig mit gelegentlichen Hoffnungsschauern“ einzustellen.
Doch Visionen sind in Afrika oft der eleganteste Weg, um die Wirklichkeit höflich zu umgehen. Man schreibt schöne Konzepte, gründet runde Tische, veranstaltet Gipfel mit PowerPoint-Folien, deren Ästhetik der Grafikabteilung der UNO Tränen der Rührung entlockt. Währenddessen kreisen die Geier weiterhin über den Rohstoffminen, und der korrupte Funktionär unterschreibt den nächsten Vertrag mit dem Kugelschreiber, den ihm ein chinesischer Investor beim Abendessen gereicht hat.
Die Freihandelszone: Ein Kontinent wird zur Baustelle
Das Paradepferd der wirtschaftlichen Integration heißt AfCFTA – Afrikanische Kontinentale Freihandelszone. Ein Traum von einem Binnenmarkt mit 1,5 Milliarden Menschen und einem BIP von 3,4 Billionen Dollar. Nur dumm, dass ein gemeinsamer Markt nicht allein durch diplomatische Unterschriften entsteht, sondern durch Straßen, Brücken, funktionierende Gerichte und die Abwesenheit von Bürgerkriegen.
Der innerafrikanische Handel dümpelt bei 15 Prozent des Handelsvolumens. In Europa sind es 69 Prozent. Warum? Weil es schwer ist, Tomaten aus Togo nach Benin zu verkaufen, wenn der Lastwagenfahrer zuerst drei Grenzbeamten, zwei Warlords und einem spleenigen Zollchef mit Guerilla-Vergangenheit Bakschisch zahlen muss. Und falls der LKW dann noch fährt, sind die Tomaten auf halber Strecke verrottet, weil jemand vergessen hat, den Asphalt unter der Straße zu installieren.
Doch man wäre ungerecht, nur zu spotten. Es gibt Lichtblicke. Die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC) zum Beispiel, die tatsächlich sowas wie funktionierende Institutionen aufbaut. Ein gemeinsamer Markt, sogar eine geplante Währungsunion. Ostafrika zeigt, dass Kooperation möglich ist, wenn sich nicht gerade der nächste General mit Sonnenbrille als Präsident auf Lebenszeit proklamiert.
Der Hochgeschwindigkeitszug – Geschwindigkeit auf afrikanisch
Ein besonders amüsantes Kapitel des afrikanischen Wirtschaftsepos ist der Plan für ein integriertes Hochgeschwindigkeitszugnetz, das alle Hauptstädte verbindet. Wer Afrika kennt, weiß: Schon das Wort „Zug“ ist vielerorts eine archäologische Referenz an die Kolonialzeit. Die Schienen existieren noch – als wuchernde Mahnmale aus der Zeit, als Europäer Schienen verlegten, um Elfenbein und Erze effizienter abzutransportieren.
Heute fährt da kaum noch was. Und wenn, dann mit der gemächlichen Geschwindigkeit eines Kamelkarawans. Der geplante panafrikanische Schnellzug ist also so realistisch wie ein Tesla-Supercharger in der Sahelzone. Doch die AU hat China ins Boot geholt. Wer auf Unabhängigkeit pocht, unterschreibt halt gerne neue Abhängigkeiten mit Peking. Mit etwas Glück entsteht bis 2063 zumindest der Bahnhofsvorplatz – mit einem Denkmal, das den Baubeginn feiert.
Von Rohstoffflüchen und Wertschöpfungsillusionen
Rohstoffe sind Afrikas Schatz und Afrikas Fluch. Vom Kobalt des Kongo bis zu den Diamanten Botswanas. Und während westliche NGOs auf Fair-Trade-Likör schwenken, kaufen sich chinesische Unternehmen in Minen ein, als gäbe es kein Morgen. In der Demokratischen Republik Kongo besitzen chinesische Firmen 15 der 19 Kobaltminen. Wer da noch von „Partnern auf Augenhöhe“ spricht, sollte dringend seinen Augenarzt konsultieren.
Botswana hingegen zeigt, wie es anders gehen kann: Der Staat verkauft inzwischen 15 Prozent der Diamanten selbst. Das nennt man in Afrika bereits Wirtschaftswunder, obwohl es in Europa als solide Haushaltspolitik durchginge. Namibia verbietet den Export von Rohstoffen in Rohform. Gabun plant das für Mangan. Der Kongo stoppt den Kobaltexport, weil der Preis im Keller ist – was wirtschaftlich ungefähr so ist, als würde ein Bäcker Brötchenverkäufe einstellen, weil die Kunden nicht genug zahlen.
BRICS, Blöcke und Blockaden
Inzwischen drängen neue Spieler auf den afrikanischen Markt. Die BRICS-Allianz – früher ein illustres Grüppchen aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – nutzt Afrika als Bühne für den globalen Systemwettbewerb. Der Westen spricht von „Partnerschaft“, Russland liefert Söldner, China investiert in Infrastruktur (mit Tilgungsklauseln, die man besser nicht zu genau liest).
Die Sahel-Staaten haben der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft den Rücken gekehrt und suchen ihre Zukunft bei Putin & Co. Wer die Wahl hat zwischen französischem Neokolonialismus und russischer Autokratie, wählt halt das kleinere Übel – oder das größere Chaos. Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht, aber immerhin gibt es regelmäßig neue Logos für neue Organisationen, die in Brüssel gedruckt werden. Auch das schafft Arbeitsplätze. In der Druckerei.
Agenda 2063 – Zwischen Absichtserklärung und Alibi-Politik
Die Agenda 2063 bleibt ein gigantisches „Work in Progress“. Der Kontinent mit der höchsten Geburtenrate hat bis heute keine industrielle Basis aufgebaut, die den Jobmarkt entlasten könnte. Der informelle Sektor blüht, während der formelle Arbeitsmarkt eine exotische Ausnahme bleibt – eine Art Einhorn der Ökonomie.
Die Regierenden lieben große Worte und kleine Taten. Sie verhandeln lieber mit Weltbank und IWF über neue Kredite als mit der eigenen Bevölkerung über politische Reformen. Demokratie ist dabei nicht unbedingt das bevorzugte Gesellschaftsmodell – es sei denn, man kann sie als Feigenblatt benutzen, um den nächsten Rohstoff-Deal durchzuwinken.
Migration nach Europa bleibt für viele der einzig greifbare Wirtschaftsplan. Währenddessen schickt der Westen Hilfsgelder, die oft den Weg in die Villenviertel der Hauptstädte finden. Dort entstehen dann Swimmingpools, während auf dem Land weiterhin Brunnen fehlen.
Schlussbetrachtung: Der Kontinent der großen Erwartungen
Afrika hat ohne Zweifel gewaltiges Potenzial. Aber das ist nichts Neues – Potenzial hatte der Kontinent auch 1960. Und 1980. Und 2000. Die Agenda 2063 ist in Wahrheit eine Agenda der politischen Selbsthypnose: Man setzt sich Ziele, die so weit entfernt sind, dass ihre Nichterreichung den aktuellen Verantwortlichen garantiert nicht mehr angelastet werden kann.
Doch wer weiß? Vielleicht schafft Afrika es tatsächlich, sich aus den Fesseln des Rohstofffluchs zu befreien, den Handel zu liberalisieren, die Korruption einzudämmen und den Wohlstand zu mehren. Vielleicht fliegt auch eines Tages ein Schwein über den Viktoriasee.
Bis dahin bleibt der Kontinent ein Ort der großen Widersprüche: Reich an Ressourcen, arm an Umsetzung. Voller Versprechen, voller Probleme. Ein Kontinent, der alles sein könnte – und oft das bleibt, was andere aus ihm machen.
„Die Zukunft Afrikas? Vielleicht besser, wenn wir sie nicht in Konferenzsälen erfinden, sondern vor Ort gestalten. Mit mehr Tat und weniger Tagung.“