Ein abendländisches Requiem

Vom Untergang der eigenen Wertschätzung – Oswald Spengler, der Selbsthass und der moralische Narzissmus der Schuld

Es gibt Bücher, die man nur noch mit Samthandschuhen aus dem Regal nimmt, weil sie Staubschichten aus Jahrhunderten angesetzt haben – metaphorisch wie real. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes ist so eines. Es wird oft genannt, selten gelesen und fast nie verstanden. Die Kulturpessimisten lieben ihn, weil er ihnen eine Weltuntergangs-Prognose schenkt, die sich wie ein warmer Mantel anfühlt: „Seht her, ich habe es immer schon gewusst.“ Die Linksliberalen wiederum zitieren ihn gelegentlich als abschreckendes Beispiel, ohne es nötig zu finden, auch nur den Klappentext zu überfliegen. Und die restliche Gesellschaft? Sie hat Wichtigeres zu tun: Selfies, Gender-Debatten, Nachhaltigkeits-Workshops mit Alpro-Sojamilch-Cappuccino.

Spengler sah den Abendstern des Westens schon leuchten, als Europa noch in Pickelhauben steckte. Sein Befund war klar: Hochkulturen haben biologische Lebenszyklen. Sie werden geboren, sie blühen, sie degenerieren, sie verfaulen – und dann kommt die nächste. Das Leben einer Zivilisation ist wie ein überzüchteter Dackel: erst süß, dann neurotisch, dann tot. Daran ist nichts besonders originell, das wusste schon Polybios. Doch Spengler gab dem ganzen eine barocke Wucht, ein Pathos, das heute kaum noch erträglich scheint, weil unsere Gegenwart alles liebt – außer Pathos.

Und genau darin liegt der Kern unserer Misere: Wir haben nicht nur den Glauben an unsere eigene kulturelle Tragfähigkeit verloren, wir haben uns angewöhnt, daran auch noch Wohlgefallen zu finden. Der Westen, das ist heute nicht mehr das römische Recht, nicht mehr die gotische Kathedrale, nicht mehr Goethe, Kant oder Beethoven – der Westen, das sind TED-Talks über Diversity, unironische LinkedIn-Posts mit Hashtag #Purpose, die Selbstbezichtigung in endlosen Büßerritualen und das Abfeiern der eigenen Dekadenz als Fortschritt.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Westen nicht stirbt, sondern Selbstmord begeht – aus einer Mischung aus schlechtem Gewissen, Hypermoral und intellektuellem Masochismus.

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Die Lust an der eigenen Verdammung

„Wir sind schuld.“ Das ist der Kernsatz unserer Zeit. Schuld am Kolonialismus, Schuld an den Weltkriegen, Schuld am Kapitalismus, Schuld an CO₂, Schuld an der Geschichte an sich. Die Selbstanklage ist der neue Katechismus der spätabendländischen Wohlstandsgesellschaft. Wer etwas auf sich hält, geißelt die eigene Herkunft, das eigene Geschlecht, die eigene Zivilisation. Man entschuldigt sich für das Abendland, als hätte man es persönlich in die Knechtschaft geführt.

Es ist ein seltsamer Kult: Ein säkularisiertes Christentum ohne Gott, aber mit umso mehr Sünde. Der Bußfertige schleppt heute keine Geißel mehr durch die Straßen von Perugia, sondern postet auf Instagram über Privilegien-Check und postkoloniale Theorie. Er verzichtet nicht auf Fleisch wegen des Leibes, sondern wegen der CO₂-Bilanz. Er fastet nicht für das Seelenheil, sondern für die Fridays-for-Future-Ästhetik. Es ist ein neuer Ablasshandel entstanden, diesmal mit Bio-Siegel.

Spengler hätte das nicht überrascht. Er sah den Zivilisationsmenschen als saturierten Dekadenzbürger, der sich für seinen eigenen Erfolg schämt, weil er keine metaphysische Legitimation mehr findet. Der moderne Mensch glaubt nicht mehr an Gott, aber umso inbrünstiger an den Klimawandel. Er lacht über den Ablasshandel des Mittelalters, während er im selben Atemzug CO₂-Kompensationen bucht, als würde ihn das von allen Reisen ins All-Inclusive-Hotel moralisch freisprechen.

Der Selbsthass wird zum Distinktionsmerkmal der gebildeten Schicht. Wer heute noch stolz auf seine Kultur ist, steht unter Faschismusverdacht – es sei denn, es handelt sich um eine fremde Kultur, die darf selbstverständlich bewundert, gehuldigt und folkloristisch gefeiert werden. Nur die eigene nicht. Denn wer die eigene Geschichte anerkennt, muss sich auch mit deren Schatten beschäftigen. Und weil man dazu weder Mut noch Maß hat, geht man lieber gleich ganz in den Keller und zieht sich den Sack über den Kopf.

Der Schuldkult als Klassenzeichen

Man muss es klar sagen: Der neue Schuldkult ist nicht Ausdruck von Verantwortung, sondern von Dekadenz. Wer sich die ewige Selbstanklage leisten kann, gehört zu den Gewinnern des Systems. Es ist ein luxuriöses Hobby der saturierten Mittelschicht, sich für die Weltlage zu schämen. Der Selbsthass ist der Champagner der Besserverdiener. Wer in der Plattenbausiedlung aufwächst, hat andere Sorgen, als sich im Feuilleton über postkoloniale Gerechtigkeit zu ereifern.

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Oswald Spengler schrieb von der „Zivilisation“ als Spätform der Kultur: steril, technokratisch, bürokratisch, sittlich erschöpft, geistig orientierungslos. Der heutige Westen ist diese Zivilisation in Reinform. Aber statt nüchtern den Verfall zu registrieren, verwandeln wir ihn in eine Religion der Reue. Die Moralindustrie hat Konjunktur. Jeder tweetet sich rein in die große Kollektivbeichte, alle halten sich für schuldig, und wer sich nicht an diesem Selbstgeißelungsritual beteiligt, wird gecancelt.

Der neue Puritanismus ist nicht prüde, sondern hypermoralisch. Früher fragte man: „Ist es wahr?“ Heute lautet die Frage: „Ist es moralisch anschlussfähig?“ Wer widerspricht, ist rechts, rückständig oder – noch schlimmer – nicht empathisch. Dabei übersieht man geflissentlich, dass der moralische Narzissmus selbst eine Form der Selbstvergöttlichung ist: Ich bin so sensibel, dass ich mich selbst hasse – was für ein Held!

Zwischen Hybris und Hysterie

Vielleicht liegt das alles in der Logik der Geschichte. Spengler sagte: Am Ende jeder Kultur steht der Zynismus der überreifen Intelligenz. Und genau das erleben wir. Der Westen ist nicht mehr schöpferisch, sondern reflexiv. Er produziert keine Kathedralen mehr, sondern Diskurse. Kein Epos, sondern Ironie. Kein Fortschritt, sondern Dekonstruktion. Wir reden uns zu Tode, während die Welt weiterzieht.

Der Aufstieg der anderen Kulturen – Asien, Afrika, der globale Süden – ist nicht unbedingt ein Zeichen ihres Triumphs, sondern unseres Rückzugs. Wir haben aufgehört, zu wollen. Wir wollen nur noch verstanden werden. Wir sind die ersten Menschen der Geschichte, die glauben, durch Selbstkritik das Rad der Geschichte anhalten zu können. Das ist entweder genial oder wahnsinnig – vermutlich beides.

Spengler war kein Demokrat, kein Liberaler, kein Menschenfreund. Er war ein melancholischer Prophet des Verfalls. Seine Diagnose war hart, aber vielleicht realistischer, als wir es heute wahrhaben wollen. Der Westen stirbt nicht, weil ihn andere besiegen, sondern weil er selbst beschlossen hat, sich aufzulösen – aus einer Mischung aus moralischer Überdehnung, kultureller Erschöpfung und einer fast schon liebevollen Hingabe an den eigenen Niedergang.

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Das bittere Fazit mit einem Augenzwinkern

Was also tun? Nichts. Der Gang der Geschichte ist nicht aufzuhalten, das wusste schon Spengler. Wer aber heute noch den Humor hat, sich das alles anzuschauen – die Hypermoral, den Schuldkult, den Selbsthass und das ironisch gebrochene Pathos der westlichen Gesellschaft –, der kann immerhin aufrecht den Niedergang beobachten. Vielleicht mit einem Glas Wein in der Hand, während draußen die Klimakatastrophe tobt, die postkoloniale Theorie zitiert wird und der nächste Twitter-Shitstorm gegen irgendwen entfacht wird, der es gewagt hat, Kant zu lesen, ohne sich dafür zu entschuldigen.

Vielleicht ist das der wahre Widerstand heute: nicht mitmachen beim kollektiven Selbstzerstörungsprogramm – und trotzdem freundlich bleiben. Denn wer zynisch lächelt, lebt länger.

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