Der sanfte Putsch im Samtgewand der Fürsorge

Ein Handbuch für den fortgeschrittenen Frosch im langsam erhitzten Topf

Autoritäre Systeme, so lehrt uns die Geschichte, marschieren selten mit schweren Stiefeln durch das Hauptportal. Viel eleganter schleichen sie sich durch die Hintertür, getarnt als Retter, Beschützer, Experten. Der moderne Despot hat keinen Schnurrbart mehr, sondern ein fehlerfreies LinkedIn-Profil, ein empathisches Lächeln und ein Abonnement für Nachhaltigkeitsmagazine. Er verspricht nicht Blut und Boden, sondern Sicherheit und Verantwortung. Doch die Muster gleichen sich – wer genauer hinschaut, erkennt die immergleichen Zeichen. Und wer fünf oder mehr davon in seiner Umgebung entdeckt, sollte vielleicht einmal kräftig an seiner Freiheit riechen – sie könnte bereits muffig geworden sein.

1. Die Justiz als Gummiband der Macht

Der erste Griff in den Werkzeugkasten der sanften Tyrannei gilt der Justiz. Natürlich bleibt der Anstrich hübsch demokratisch – niemand wird offen verkünden: „Heute schalte ich das Rechtssystem ab.“ Das wäre unhöflich und würde schlecht auf Instagram aussehen. Stattdessen verpasst man den Gerichten einen dezenten Filter: ein bisschen Einfluss hier, eine strategisch platzierte Personalentscheidung dort, vielleicht noch ein rechtspolitischer Workshop zur „neuen Haltung“. So wird das Recht nicht mehr nach Buchstaben, sondern nach Gesinnung ausgelegt. Richter, die zu streng am Gesetz kleben, sind „zu formalistisch“. Die anderen sind „zukunftsgewandt“. Und irgendwann entscheidet man dann nicht mehr, was richtig ist, sondern wer.

2. Meinungsfreiheit – mit Maulkorb und Stoppuhr

Natürlich darf man noch alles sagen. Das betonen alle Beteiligten täglich, in Talkshows, Podcasts und auf Regierungskanälen mit Reichweiten, von denen Kim Jong-un nur träumen kann. Man darf alles sagen – man muss es nur aushalten können. Denn jede unerwünschte Meinung wird sofort mit einer Einordnung versehen: „problematisch“, „umstritten“, „gefährlich“. Das freie Wort lebt noch, aber es steht unter Kuratel. Es darf sich kurz aus dem Käfig strecken, bevor es zurückgescheucht wird. Früher hieß das Zensur, heute heißt es „Schutz vor Desinformation“. Und wer dagegen protestiert, ist natürlich sofort Teil des Problems. Willkommen im Zeitalter der präventiven Selbstzensur – man weiß ja nie, ob der nächste Satz schon die Karriere kostet.

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3. Der Faktencheck als Wächter der einzig gültigen Wahrheit

Früher haben Fakten gesprochen. Heute werden sie „gecheckt“. Das klingt harmlos, fast fürsorglich. Wer könnte schon gegen eine Welt ohne Fehler sein? Doch siehe da: Der moderne Faktenchecker ist kein neutraler Buchhalter der Wirklichkeit, sondern der Zeremonienmeister des offiziellen Narrativs. Er bewertet nicht nur Zahlen, sondern gleich auch die Moral dahinter. Was nicht in den Korridor der akzeptierten Weltdeutung passt, wird mit dem Stempel „falsch“ versehen – selbst wenn es morgen vielleicht schon wahr ist. Das nennt man dann Vorsorge.

4. Kritiker? Nein, das sind „Delegitimierer“!

Ein gesunder Diskurs lebt vom Widerspruch. Ein autoritärer Diskurs lebt von der Auslöschung des Widerspruchs. Aber auch hier geht es sanft zu: Niemand wird heute mehr auf den Marktplatz gezerrt. Stattdessen verwandelt man Kritiker in Pariahs, indem man ihnen Etiketten anklebt. Wer eine Regierung kritisiert, „delegitimiert den Staat“. Wer hinterfragt, „untergräbt das Vertrauen“. Und wer es wagt, öffentlich Zweifel zu äußern, steht mit einem Bein bereits beim Verfassungsschutz im Fokus. Früher war das die Inquisition, heute ist es Demokratiehygiene.

5. Die Medien als Beifahrer der Macht

Die Vierte Gewalt ist tot, es lebe der Pressesprecher. Die Medienlandschaft, einst zersplittert in kontroverse Stimmen, hat sich zur choreografierten Einheitsfront gewandelt. Selbstverständlich unabhängig, betonen die Redaktionen. Natürlich frei, versichern die Moderatoren. Doch der Gleichklang der Kommentare ist unüberhörbar, die Auswahl der Themen frappierend homogen. Wer aus der Reihe tanzt, wird nicht mehr verboten – er wird einfach ignoriert, diffamiert oder demonetarisiert. Das spart den Zensor, man outsourct die Arbeit an den Werbekunden.

6. Diskursverengung – das Buffet schrumpft

Früher durfte man noch über alles reden. Heute darf man über alles reden, sofern es nichts Relevantes ist. Gendersternchen? Ja bitte! Die Zukunft der Mettwurst? Unbedingt! Aber wehe, jemand stellt die Frage, ob es klug ist, sämtliche Grundrechte in einen Dauerlockdown zu schicken oder Sicherheitsgesetze als Dauerzustand zu etablieren. Dann ist Schluss mit lustig. Der Diskurs wird nicht offiziell verboten – er wird so schmal gemacht, dass er nur noch in Turnschuhen durchpasst.

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7. Wer anders denkt, steht draußen

Die moderne Form der Ausgrenzung ist subtil. Man lädt die Abweichler nicht mehr zum Gespräch ein, sondern zum Schweigen. Man erinnert sie daran, dass gewisse Meinungen „toxisch“ sind. Wer sie dennoch äußert, bekommt keinen Platz mehr auf den Bühnen der Gesellschaft – weder medial noch akademisch noch kulturell. So wird der Konsens nicht durch Argumente geschaffen, sondern durch Selektion.

8. Melden macht frei – die Renaissance des Denunzianten

Der autoritäre Staat liebt den kleinen Denunzianten von nebenan. Früher hieß das Blockwart, heute heißt es „Meldestelle gegen Hass“. Ein großartiges Konzept: Wer unliebsame Meinungen hört, kann sie direkt beim Amt petzen – anonym, versteht sich. Das schafft Vertrauen! Und sorgt für das schöne Gefühl, zur Volksgesundheit beizutragen. Wer würde da noch Nachbarn treffen, wenn er auch Behörden treffen kann?

9. Konformität als Tugend

Früher war Mut gefragt, heute ist Anpassung die neue Tapferkeit. Wer stromlinienförmig durchs Leben gleitet, wird gelobt. Wer mit den Wölfen heult, wird befördert. Der Konformitätsdruck wird nicht von oben diktiert – er sickert durch die Zwischenräume der Gesellschaft. Von den Redaktionen bis zur Kantine, von der Hochschule bis zum Yoga-Kurs: Wer abweicht, verliert. Wer mitmacht, gewinnt. Zumindest bis zum nächsten Meinungsumschwung.

10. Einschüchterung mit samtweichem Schlagstock

Man könnte meinen, in einem demokratischen Rechtsstaat sei Einschüchterung unmöglich. Aber man muss nur genau hinschauen: Wer den falschen Tweet liked, wird vom Arbeitgeber zum Gespräch gebeten. Wer ein Buch schreibt, das nicht ins Raster passt, verliert seine Lesung. Wer sich öffentlich zu unpassenden Themen äußert, bekommt Drohbriefe – nicht von der Regierung, aber von den moralischen Stellvertretern, die längst die Lufthoheit über den Anstand übernommen haben.

11. Die freundliche Überwachung

Big Brother trägt heute ein T-Shirt mit Regenbogenaufdruck. Er möchte ja nur helfen. Und deshalb weiß er auch, wo du warst, was du gekauft hast, was du gesagt hast und wem du gefolgt bist. Die Kameras am Bahnhof sind für deine Sicherheit. Die Chat-Überwachung ist für den Kampf gegen das Böse. Und die Vorratsdatenspeicherung? Nur eine kleine Rückversicherung für den Ernstfall. Vertrau doch einfach.

TIP:  Die Demokratie muss liefern ...

Fazit:

Wenn Sie den Eindruck haben, fünf oder mehr dieser Punkte mit einem beherzten „Ja“ beantworten zu können – dann haben wir ein echtes Problem.

Aber keine Sorge, es gibt eine gute Nachricht:
Noch dürfen Sie darüber lachen. Noch.

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