
oder: Wie Europa lernte, die UdSSR neu zu erfinden
Von der roten Fahne zum blauen Sternenbanner
Es gehört zu den reizvolleren Absurditäten der Gegenwart, dass der gemeine Europäer, im feinen Zwirn und mit dem immergleichen staatsmännischen Gesichtsausdruck versehen, felsenfest davon überzeugt ist, innerhalb eines demokratischen Rahmens zu leben, der dem griechischen Ideal von „demos“ und „kratos“ gerecht wird. Dass es sich dabei um eine jener Selbsttäuschungen handelt, die Menschen seit jeher pflegen – ähnlich der Überzeugung, dass glutenfreie Kekse sündlos seien oder Politiker aus Überzeugung handeln –, wird tunlichst übersehen.
Die Europäische Union hat, wenn man das Schaubild etwas genauer betrachtet, mehr mit der Sowjetunion gemein, als es den feingeistigen Bürokraten lieb sein dürfte. Nur dass der Brüsseler Apparat auf Hochglanz polierte PowerPoint-Präsentationen statt fünfjähriger Produktionspläne an die Wand wirft. Der Unterschied ist kosmetischer Natur, das Prinzip bleibt gleich: Von oben regiert es sich bequemer.
Die demokratische Attrappe
Die Sowjetunion behauptete dereinst, eine Demokratie zu sein. Sie hatte ein Parlament, den Obersten Sowjet. Ein gewähltes Organ – zumindest auf dem Papier, und das Papier war ja bekanntlich geduldig. Der Wähler durfte brav sein Kreuzchen setzen, allerdings nur zwischen Kandidaten der Einheitspartei, die alle das gleiche sagten, nur in leicht unterschiedlichen Tonlagen: mal bassig, mal schrill, mal mit Leninstirn, mal mit Breschnewbraue.
Der Witz dabei war, dass das Parlament selbst keinerlei legislative Macht hatte. Das echte Drehbuch wurde vom Politbüro geschrieben, einer kleinen, elitären Kadergruppe, die nie ein Wähler auch nur aus der Ferne zu Gesicht bekam. Wer dort saß, war nicht Ergebnis demokratischer Willensbildung, sondern das Resultat von Netzwerken, Seilschaften und inoffiziellen Absprachen hinter geschlossenen Türen. Wer regierte, war nicht gewählt – wer gewählt wurde, regierte nicht. Das war das sowjetische Perpetuum mobile der Macht.
Schwenk nach Brüssel: Die Europäische Union besitzt ein Parlament. Es heißt tatsächlich so: Europäisches Parlament. Es darf debattieren, manchmal auch wütend sein. Es darf sogar den Begriff „demokratische Werte“ in den Raum werfen – allerdings vorzugsweise dann, wenn es um Osteuropa geht, nicht um die EU selbst. Doch das Entscheidende ist: Das Parlament hat kein Initiativrecht. Gesetze schreibt nicht der Bürgervertreter, sondern die Europäische Kommission – ein Apparat aus Kommissaren, deren Namen der Durchschnittseuropäer ungefähr so häufig googelt wie die Bedienungsanleitung seines Routers.
Das Initiativmonopol der Kommission ist der Brüsseler Bruder des sowjetischen Politbüros. Auch hier gilt: Wer regiert, ist nicht gewählt. Und wer gewählt ist, darf an der Regierung freundlich vorbei winken.
Der Kommissar ist immer der Sieger
Das Wort „Kommissar“ war schon in der Sowjetunion kein harmloser Begriff. Der Volkskommissar war zuständig für Versorgung, Zensur oder Erschießung – je nachdem, in welchem Ressort er gerade diente. Heute heißen sie Agrarkommissar, Binnenmarktkommissarin oder Vizepräsident für Werte und Transparenz. Das klingt harmloser, ist es aber nicht unbedingt.
Denn wie in der Sowjetunion entscheiden auch die EU-Kommissare nicht aufgrund demokratischen Auftrags, sondern weil sie von ihren Regierungen nominiert werden – mit anderen Worten: Sie verdanken ihren Job keiner Volkswahl, sondern einem Hütchenspiel zwischen Nationalstaaten, bei dem politische Restposten verwertet werden. Wer zuhause gescheitert ist, wird nach Brüssel abgeschoben und darf dort auf Lebenszeit die transnationale Welt erklären.
Kommissare sind praktisch. Sie dürfen das tun, was in den nationalen Parlamenten zu unpopulär wäre: den Bürger umerziehen, das Thermostat runterregeln, die Gurkenkrümmung messen und neue Etiketten vorschreiben, auf denen dem Konsumenten mitgeteilt wird, dass Zucker dick macht. Dasselbe Prinzip wie früher, nur eben in Business-Englisch statt auf Russisch.
Die Akteure sind austauschbar – das System bleibt
Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Demokratie und demokratischer Rhetorik. Letztere wird inflationär gebraucht, wenn man ersteres ersetzen will. Die Sowjetunion war Weltmeister darin. Auch die EU kann sich in dieser Disziplin durchaus sehen lassen. Wo früher in Moskau von „sozialistischer Demokratie“ die Rede war, sprechen die Brüsseler Beamten heute vom „demokratischen Defizit“ – als wäre es ein kleiner Rechenfehler, der mit etwas Feinjustierung zu beheben sei. Dabei ist es System.
Der durchschnittliche Europäer ist zur politischen Staffage degradiert worden, zur Zuschauerfigur in einem Stück, dessen Drehbuch längst geschrieben ist. Die Wahlbeteiligungen sinken, die Verdrossenheit steigt – das ist kein Zufall, sondern Kollateralschaden einer Struktur, die Mitbestimmung vorspielt, um sie zu verhindern.
Es geht nicht darum, den Bürger zu fragen, sondern darum, ihn zu beschäftigen. Brot und Spiele. Nur dass die Spiele jetzt „Bürgerdialoge“ heißen und das Brot als nachhaltiges Quinoa-Baguette gereicht wird.
Vom Staatsversagen zur Planwirtschaft 2.0
Es ist bemerkenswert, dass die EU mit derselben Hybris operiert, die auch die sowjetische Führung ausgezeichnet hat. Immer neue Regulierungen, immer neue Standards, immer mehr Zentralisierung. Es wird geplant, gelenkt, gesteuert. Da wird der Energiemarkt neu erfunden, der Landwirt umerzogen, der Verbraucher normiert. Das alles mit einer glühenden Inbrunst, als habe man aus der Geschichte vor allem eines gelernt: nichts.
Die Sowjetunion wollte den „neuen Menschen“ schaffen, der sich selbstlos in den Dienst der sozialistischen Idee stellt. Die EU möchte den „klimaneutralen Bürger“, der sich freudig seiner Gasheizung entledigt, sein Steak durch Insekten ersetzt und beim Gendern ins Schwärmen gerät. Beides sind Versuche, mit der Brechstange die Gesellschaft umzubauen. Und beide blenden systematisch aus, dass Menschen nun mal Menschen bleiben – mit all ihren Schwächen, Widersprüchen und Eigenheiten. Der zentrale Unterschied? In der EU gibt es dafür Marketingagenturen und Beraterhonorare, in der UdSSR gab es den Gulag.
Fazit: Ein sozialistisches Europa mit Sternchen
Natürlich ist die EU keine Kopie der Sowjetunion. Sie schickt keine Dissidenten nach Sibirien, sondern in Talkshows. Ihre Bürokraten tragen keine KGB-Uniformen, sondern Slim-Fit-Anzüge von Hugo Boss. Doch die strukturellen Ähnlichkeiten sind frappierend: ein Parlament ohne Gesetzesinitiative, ein Kommissariat ohne demokratische Legitimation, ein System, das sich selbst als alternativlos erklärt.
Und während der Bürger noch brav zur Wahlurne trottet, wird der eigentliche Kurs längst in den Fluren der Kommission bestimmt, hinter Türen, auf die niemand ohne Hausausweis klopfen darf. So wird aus der Union der europäischen Völker eine Union der Kommissare – ein sanft lächelnder Verwaltungssozialismus mit freundlichem Gesicht und festgezurrtem Narrativ.
Vielleicht werden spätere Generationen einmal in den Geschichtsbüchern lesen:
Die Sowjetunion ist an ihren Dogmen gescheitert.
Die Europäische Union hat es besser gemacht. Sie scheitert mit Stil.