Die Postkoloniale Theorie und ihre heiligen Kühe

Die Theorie, die kam, sah – und alles zu Kolonialismus erklärte

Es war einmal eine Theorie, die wie ein wiedergeborener Prophet aus dem akademischen Staub der westlichen Universitäten hervorkroch – durstig nach Gerechtigkeit, bewaffnet mit Adorno in der einen und Edward Said in der anderen Hand, brennend wie ein Fackelzug der moralischen Überlegenheit. Sie nannte sich „Postkoloniale Theorie“, doch ihre Anhänger sprachen bald nur noch in Zungen: „Dekolonisierung“, „Subalterne“, „Epistemische Gewalt“ – Begriffe, so schwer und bedeutungsschwanger, dass man sie nur noch im Rollkoffer durch die Seminare schieben konnte.

Diese Theorie hatte ein Ziel: die Welt vom Kolonialismus zu erlösen, und zwar rückwirkend, global und universal – eine Art Exorzismus mit Fußnoten. Und während es gewiss gerechtfertigt war, die historischen Greueltaten des Kolonialismus nicht dem Vergessen zu überantworten, wurde der Eifer ihrer Jünger bald zur Parodie ihrer selbst: Kolonialismus wurde zur Ursünde aller Gegenwart, zur Erklärung jedes Unglücks, zur ideologischen Mülltonne, in die man alles warf, was unangenehm roch – auch den Zionismus.

Von Palästina bis Paris – Der antisemitische Schatten im postkolonialen Diskurs

Es begann schleichend, wie so vieles, das später stinkt. Erst war es die Kritik an Israel, dann am Zionismus, dann an jüdischer „Komplizenschaft“ mit dem kolonialen Projekt – und ehe man „intersectionality“ sagen konnte, war man bei Thesen angelangt, die einen Goebbels wohl milde hätten lächeln lassen.

Denn siehe: In der Welt der postkolonialen Kritik ist Israel ein weißer, westlicher Kolonialstaat – trotz sefardischer, mizrachischer, äthiopischer Juden, trotz der Flucht aus Pogromen, Shoah, Exil und Diaspora. Der Umstand, dass Juden über Jahrhunderte in der islamischen Welt ebenso gedemütigt, entrechtet und ermordet wurden wie in Europa, fällt unter den Tisch wie ein schlecht geschriebener Fußnotenapparat.

In den endlosen Paneldiskussionen postkolonialer Akademiker wird die Shoah zwar erwähnt – als historische Klammer, als Pflichtschuldigkeit –, doch sie steht zunehmend wie ein ungebetener Gast im Raum, dessen Leid plötzlich relativiert wird, sobald das Stichwort „Nakba“ fällt. Da wird der Holocaust zur Fußnote imperialer Gewalt, Zionismus zum verlängerten Arm des weißen Mannes, und Juden – eine 3000 Jahre verfolgte Minderheit – werden als Agenten der Unterdrückung tituliert. Das alles unter dem Banner des „Dekolonisierens“.

Das heilige Opfer-Narrativ – Und wer darin keinen Platz hat

Die postkoloniale Theorie lebt von binären Codes: Opfer und Täter, Kolonisierte und Kolonisatoren, Marginalisierte und Mächtige. Wer nicht in diese dualistische Welt passt, hat ein Problem – vor allem, wenn er jüdisch ist. Denn Juden sind in diesem Modell nicht länger die entrechteten Flüchtlinge, sondern plötzlich Teil einer globalen „Weißheit“. Der Holocaust? Tragisch, aber passé. Jetzt regiert das Leid anderer – vorzugsweise antiwestlicher, antizionistischer, antikapitalistischer Natur.

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Dass Israel nicht mit der gleichen Schärfe kritisiert wird wie etwa China (Uiguren? Wer?), Russland (Tschetschenien? Nie gehört) oder der Iran (Frauenrechte? Dekoloniales Missverständnis!) – das stört niemanden. Man spricht von „Israelkritik“, meint aber jüdische Selbstbestimmung. Man spricht von „Solidarität mit Palästina“, meint aber: „Warum haben die Juden nach der Shoah nicht einfach in Polen weiter gewohnt?“

Das postkoloniale Buffet – Ein Fest für Moralisten, ein Albtraum für Juden

Wer sich die postkoloniale Theorie anschaut, erkennt ein ideologisches Buffet, bei dem sich jeder das nimmt, was ihm gerade schmeckt. Man kombiniert Foucault mit Frantz Fanon, streut etwas Judith Butler darüber und trinkt dazu einen BDS-gefilterten Chardonnay. Was nicht auf der Karte steht: jüdische Geschichte als eigene Geschichte, jüdische Emanzipation als Emanzipation, jüdische Angst als reale Angst.

Stattdessen wird sie zynisch umetikettiert: von „Sorge um das Existenzrecht Israels“ zu „imperialistische Lobbyarbeit“, von „Schutz jüdischen Lebens“ zu „Reproduktion kolonialer Machtstrukturen“. Wer aufbegehrt, wird als Zionist denunziert, als Reaktionär, als Komplize. Und wer wagt, den neuen Antisemitismus zu benennen, wird schnell zum „weißen Mann“, auch wenn er oder sie aus Aleppo geflohen ist.

Die Dekonstruktion der Vernunft – Wenn das Opfer spricht, aber niemand zuhört

Postkoloniale Theorie inszeniert sich als radikale Kritik an hegemonialem Denken – dabei errichtet sie längst ihr eigenes Dogma. Ihre Priester verkünden Wahrheiten ex cathedra: Wer weiß ist, hat zu schweigen. Wer kolonisiert wurde, hat recht. Wer Israel kritisiert, ist mutig. Wer Antisemitismus benennt, ist ein ideologischer Nestbeschmutzer. Das Denken selbst wird zum Kolonialverbrechen erklärt, solange es nicht der reinen Lehre folgt.

Und so schweigt man dort, wo man schreien müsste. Judenhass? Ein „Produkt des Zionismus“. Angriff auf Synagogen? „Verzweiflung der Unterdrückten“. Verschwörungstheorien über jüdische Macht? „Kritik am globalen Finanzkapital“. Die Dialektik der Aufklärung ist tot, es lebe die Dialektik der Diffamierung.

Schluss mit der Romantisierung des Ressentiments

Was bleibt also von einer Theorie, die sich dem Emanzipatorischen verschrieben hat, aber regelmäßig im Ressentiment versinkt? Die mehr über Kolonisatoren spricht als über Menschen, die heute Bomben auf Synagogen werfen? Die Auschwitz zwar zitiert, aber nicht versteht? Die Opferhierarchien zementiert, während sie vorgibt, sie zu sprengen?

Sie bleibt als trauriges Beispiel dafür, wie gute Absichten in ideologische Dogmen umkippen können. Als Warnung, wie leicht Kritik zur Karikatur wird, wenn sie blind ist für eigene Vorurteile. Und als Beweis, dass man selbst als Theoretiker postkolonialer Diskurse nie zu klug sein kann, um antisemitische Denkmuster zu reproduzieren – mit akademischer Eleganz, versteht sich.

Man darf, ja man soll den Kolonialismus kritisieren, seine Verbrechen benennen, seine Nachwirkungen erkennen. Aber wer im Namen der Gerechtigkeit beginnt, Juden zu entmenschlichen, Zionismus zu dämonisieren und den Holocaust zu relativieren, ist nicht Teil einer kritischen Avantgarde – sondern Teil eines uralten Problems in neuem Gewand.

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Denn Antisemitismus ist ein Chamäleon. Und in der postkolonialen Theorie hat er längst eine neue Farbe gefunden.

Edward Saids Erben – Zwischen Kulturkritik und kognitiver Dissonanz

Beginnen wir mit dem Kronzeugen: Edward Said, Ikone des postkolonialen Denkens, dessen Werk Orientalism (1978) zur Pflichtlektüre wurde – von Berkeley bis Berlin-Mitte. Said zeigte, wie der Westen den „Orient“ als exotisch-anders und minderwertig konstruierte, um seine eigene kulturelle Dominanz zu rechtfertigen. Das war klug, bahnbrechend, notwendig. Doch wie so oft bei Propheten, wurde sein Werk bald zur heiligen Schrift, und seine Schüler zu orthodoxen Kommentatoren, die aus jedem archäologischen Ausgrabungsbericht koloniale Dominanz lasen.

Problematisch wurde es, als diese Sichtweise nicht mehr als Erkenntnisinstrument, sondern als ideologische Brille benutzt wurde. Alles wurde „Orientalismus“: Israelische Sicherheitskontrollen? Orientalismus. Holocaustgedenken? Eurozentrismus. Juden in Machtpositionen? Postkoloniale „Komplizenschaft“.

Said selbst, Palästinenser, kluger Geist, leidenschaftlicher Kritiker Israels – kritisierte zionistische Politik scharf, ja. Doch er warnte auch vor Verkürzungen. In einem Interview mit Ari Shavit (1999) sagte er:

„I absolutely do not support the idea that anti-Zionism is necessarily antisemitic. But when it becomes a blanket rejection of Israel’s existence, it is.”

Diese Unterscheidung haben viele seiner Schüler nie verinnerlicht. Stattdessen folgt man einem simplen Code: Israel = Siedlerkolonialismus. Zionismus = Rassismus. Juden = Weiße. Die historische Realität – dass Zionismus aus Pogromen, Ghettos und KZs erwuchs – wird zur lästigen Fußnote.

Judith Butler, Achille Mbembe und die Geburt des Salon-Antizionismus

Wo akademische Theorie auf moralischen Exhibitionismus trifft, da wächst der neue Salon-Antizionismus. Paradebeispiel: Judith Butler, Philosophin, poststrukturalistische Virtuosin, gender-theoretisches Genie. Sie schrieb 2006:

„Understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important.“

Man fragt sich: Hat Butler je ein Hamas-Manifest gelesen? Den Satz „Die Stunde des Jihad ist gekommen“? Oder die Hamas-Charta, die von der „Weltherrschaft der Juden“ raunt?

Doch Butler ist kein Einzelfall. Achille Mbembe, afrikanischer Historiker und postkolonialer Superstar, verglich 2020 die israelische Politik mit dem südafrikanischen Apartheidsregime. In einem Text über Kolonialismus mischte er Shoah-Relativierungen mit Begriffen wie „Industrie des Holocaust-Gedenkens“ – ein Framing, das jede Gedenkkultur zur Lüge stempelt. Ein Sturm brach los, man warf ihm Antisemitismus vor – er verteidigte sich mit dem Hinweis, er sei Opfer der „jüdischen Lobby“.

Aha.

So schließt sich der Kreis: Wer Antisemitismus benennt, ist ein Sprachrohr Israels. Wer Israel dämonisiert, ein mutiger Intellektueller. Und wer beides differenziert? Ein Nestbeschmutzer ohne Lehrstuhl.

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Der BDS-Komplex – Dekolonisieren, Boykottieren, Dämonisieren

Die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) ist der aktivistische Arm jener Theorie, die Israel als letztes koloniales Relikt stilisiert. Ihre Forderungen: ökonomischer, kultureller, politischer Boykott. Ihre Methoden: Delegitimierung, Dämonisierung, doppelte Standards.

In den Worten der Gründerorganisation PACBI:

„Colonialism and apartheid are not metaphors for Israel’s occupation – they are accurate descriptors.“

Was dabei ignoriert wird: Juden lebten bereits im 19. Jahrhundert in Palästina, bevor es überhaupt britische Kolonialherren gab. Und sie lebten nicht als Siedler, sondern als Einheimische – in Jerusalem, Hebron, Tiberias. Die jüdische Verbindung zum Land ist keine Erfindung von Herzl, sondern tief in Geschichte, Religion und Kultur verwurzelt.

Doch für BDS gilt: Die Shoah erklärt nicht Israels Existenzrecht, sondern sei eine „europäische Schuld“, für die „Palästinenser nun bezahlen“. Hier spricht keine „Israelkritik“, sondern die alte antisemitische Formel mit neuem Lippenstift: „Warum seid ihr überhaupt hier?“

Intersectional Ignorance – Wenn Wokeness blind für Antisemitismus ist

In der Welt der „woken“ Akademie ist Solidarität alles – solange man die richtigen Opfer wählt. Wer aber jüdisch ist und nicht ins weiße Täterprofil passt, stört die Schönheit des Opfer-Narrativs. Das Ergebnis: Juden sind plötzlich „weiß“, „privilegiert“, „nicht rassifizierbar“. Ihre Diskriminierung zählt nicht, weil sie zu erfolgreich sind.

So twitterte die antikoloniale Aktivistin Ruwaida Omar (UK, 2021):

„Zionism is racism. Antizionism is anticolonialism.“

Kurze Nachfrage: Ist Antizionismus auch dann antikolonial, wenn er in Form von Brandsätzen auf Synagogen auftritt? Schweigen. Denn der Postkolonialismus hat kein Konzept für jüdische Emanzipation. Er kennt nur das Opfer, das sich opfert – nicht das, das sich verteidigt.

Fazit: Dekolonisiert die postkoloniale Theorie

Es ist Zeit, die postkoloniale Theorie selbst zu dekolonisieren – von ihren Dogmen, blinden Flecken, moralisierenden Haltungen und ja: von ihrem Antisemitismus. Der Holocaust war keine „weiße Tragödie“, sondern ein zivilisatorischer Abgrund. Israel ist kein Apartheidstaat, sondern ein realpolitisches Paradox in einer feindseligen Region. Zionismus ist keine Kolonialideologie, sondern eine Antwort auf das größte Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts.

Postkoloniale Theorie muss sich fragen: Warum wird Israel härter verurteilt als China, Syrien, Sudan, Russland? Warum ist jüdische Selbstbestimmung weniger legitim als kurdische oder palästinensische? Und warum marschieren in deutschen Universitäten Menschen mit „Free Palestine“-Schildern, während ihre jüdischen Kommilitonen sich nicht mehr in der Mensa zeigen?

Weil der neue Antisemitismus einen akademischen Doktorhut trägt. Und weil er sich hinter Worten wie „Dekolonialisierung“ versteckt, während er alte Mythen neu verpackt: vom „jüdischen Einfluss“, der „zionistischen Lobby“, der „Opferkonkurrenz“.

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