
Ich hätte dieses Essay nicht schreiben sollen. Es wird nichts ändern. Es wird gelesen von jenen, die ohnehin schon ahnen, dass wir kollektiv auf einem sinkenden Narrenschiff tanzen, während der DJ lauter dreht und die Bullaugen sich langsam mit braunem Wasser füllen. Die anderen, die man erreichen müsste, werden diesen Text niemals lesen – entweder, weil er zu lang ist, zu polemisch, zu komplex oder schlicht: zu wenig TikTok-tauglich.
Aber wie sagte schon der alte Camus, kurz bevor er mit dem Auto in den Baum fuhr: „Der Kampf gegen das Absurde ist der einzige, der uns bleibt.“ Voilà.
Die Stunde der Rechten – Europa wählt Erinnerungslosigkeit
In mittlerweile sieben westeuropäischen Ländern sind Rechtsparteien in den Umfragen die stärkste Kraft. Lediglich in Deutschland, Schweden und Norwegen landen sie auf Platz zwei, in Spanien und Portugal auf dem dritten. Was früher als Warnsignal galt, gilt heute als normaler Bestandteil der politischen Landschaft: der demokratisch gewählte Autoritarismus im schicken Anzug mit markigen Sprüchen und der intellektuellen Tiefe eines Facebook-Kommentars.
Man könnte fragen: Wie konnte es so weit kommen? Man könnte aber auch sagen: Es war nie anders – wir haben nur nicht hingeschaut. Die Rechten haben nichts Neues erfunden, sie bedienen sich alter Ängste, kleiden sie in neue Sprache und verkaufen Rückschritt als Revolution. Und das Publikum? Applaudiert, weil es endlich wieder einfache Antworten gibt. Auf komplexe Fragen. In einer komplex überforderten Gesellschaft.
Die Medien – Mitgestalter, Mitläufer, Meute
Früher war Journalismus Aufklärung. Heute ist er Aufregung. Die Medien, so sehr sie sich auf ihre Unabhängigkeit berufen, sind längst Teil einer Struktur, die nicht mehr Wahrheit sucht, sondern Aufmerksamkeit. Der rechte Diskurs lebt von Empörung – und die Medien liefern sie frei Haus, täglich, im Liveticker, mit Bauchbinden und Panik-Infografik.
Talkshows inszenieren rechte Positionen als „Stimme des Volkes“, während sie gleichzeitig betroffen die Stirn runzeln. Man lädt den Wolf ein und fragt sich anschließend, warum die Schafe nervös sind. Wer skandalisiert, reproduziert. Und so wird jeder rechte Tabubruch zum Marktwert, jede Grenzüberschreitung zur Quote – und jede Schlagzeile ein weiterer Sargnagel für das, was einmal öffentliche Vernunft hieß.
Die Jugend radikalisiert sich – aber nicht so, wie man denkt
Radikalisierung ist heute ein stiller Prozess. Sie passiert nicht in Kellern, sondern auf Bildschirmen. Nicht durch Flugblätter, sondern durch Follower. Die neue Rechte ist jugendlich, medial kompetent und ironisch – eine Mischung aus toxischem Zynismus, digitaler Maskerade und realem Menschenhass mit Hashtag.
Die Rebellion der Jugend war einmal progressiv – heute ist sie regressiv, weil sie gelernt hat, dass Haltung nichts nützt, wenn sie nichts einbringt. Wer „woke“ ist, wird belächelt. Wer polemisiert, wird gepusht. Die Algorithmen haben den Anstand überstimmt. Und so entstehen junge Milieus, die nicht fragen Was ist gerecht?, sondern Was bringt Reichweite?
Digitaler Tribalismus – Willkommen in der Echokammerhölle
Das Netz war gedacht als Ort der Vielfalt – es wurde ein Spiegelkabinett der Bestätigung. Jeder Algorithmus ein digitaler Schamane, der uns sagt, was wir eh schon glauben. Diskurs wird ersetzt durch Disziplinierung, Zweifel durch Zugehörigkeit. Die Wahrheit ist nicht mehr objektiv, sondern tribal: Wahr ist, was meine Leute glauben.
Die Rechten verstehen das Prinzip perfekt. Ihre Narrative funktionieren wie Religionen: mit Märtyrern, Dogmen und Häresien. Wer widerspricht, gehört „den anderen“. Die Welt wird wieder zweigeteilt: Freund oder Feind. Grauwerte sind Schwäche, Ambivalenz ist Verrat. Willkommen in der Post-Aufklärung, wo Fakten stören und Gefühle wählen gehen.
Die Intellektuellen – Rhetorik im Elfenbeinturm
Es gibt sie noch, die klugen Köpfe. Sie schreiben Bücher, halten Vorträge, sprechen in Lehraufträgen und streiten auf Podien. Nur leider nicht dort, wo es brennt – sondern in wohltemperierten Sälen vor Gleichgesinnten. Die Intellektuellen haben sich abgesetzt – aus Furcht vor Missverständnissen, aus Angst vor Shitstorms oder schlicht: aus Trägheit.
Statt zu intervenieren, kommentieren sie. Statt zu agitieren, analysieren sie. Der Diskurs wird zur Selbstvergewisserung der Klugen, während draußen die Lauten marschieren. Die Rechte hat längst ihre Gegen-Intellektuellen etabliert – aggressive Monotone mit YouTube-Kanälen, die ihre dogmatische Einfalt als „Mut zur Wahrheit“ inszenieren. Und das wirkt, weil es einfach ist. Und einfach ist das neue Wahr.
Historische Amnesie – Europa vergisst, was Europa war
Der Faschismus kam nicht über Nacht. Er war das Resultat einer langen moralischen Erosion, einer Erschöpfung der Mitte und einer schleichenden Verachtung der Vernunft. Heute wiederholen sich diese Symptome – nur unter neuem Design. Der Nationalismus trägt jetzt Krawatte, der Rassismus nennt sich „Migrationskritik“, der Antisemitismus versteckt sich in „Israelkritik“.
Die Geschichte? Wird behandelt wie eine lästige Tante, die beim Familienfest von früher erzählt. Man nickt höflich, aber hört nicht hin. Der Holocaust? Ein Kapitel im Schulbuch. Die Weimarer Republik? Eine multiple-choice-Frage. Erinnerung ist nicht mehr Haltung, sondern Unterrichtseinheit. Und so tritt man wieder dieselben Fehler, mit frischem Anlauf.
Die Kirche – Moral mit Sprechpause
Man müsste meinen, dass in Zeiten der Spaltung, der Verrohung, der Ausgrenzung eine ethische Instanz wie die Kirche laut würde. Aber nein: Man duckt sich. Man mahnt vorsichtig. Man „lädt zum Dialog“. Christus hat den Tempel ausgeräumt – die Bischöfe heute schweigen höflich bei der Abendmahlsausgabe. Die Rechten danken es ihnen – durch religiöse Rhetorik bei gleichzeitiger Menschenverachtung.
Eine Kirche, die sich scheut, Farbe zu bekennen, wird zur Kulisse. Wer gegen Fremdenhass nicht predigt, sondern debattiert, verliert das Recht auf moralische Autorität. Jesus war kein Verwaltungsbeamter – das Christentum kein Ethikzirkel für Wohlfühltheologie.
Bildung – Der Verlust der Frage
Die Schulen Europas bringen immer noch Leistung – aber kaum mehr Orientierung. Wer mit 18 weiß, wie man eine Gedichtsanalyse schreibt, aber nicht, wie Demokratien sterben, ist kein gebildeter Mensch, sondern ein dressierter Prüfungsteilnehmer. Politische Bildung ist nachrangig, Rhetorik ein Wahlfach, Empathie ein nice-to-have.
So entstehen junge Menschen, die sich nicht für das interessieren, was ist, sondern nur für das, was sie betrifft. Bildung wurde entpolitisiert – und damit entmächtigt. Wer sich wundert, warum junge Menschen mit rechtem Gedankengut sympathisieren, sollte fragen, wer ihnen beigebracht hat, was Würde bedeutet. Und wer es versäumt hat.
Postskriptum aus der Zukunft – Ein apokalyptisches Schlusswort
Stellen Sie sich vor: Das Jahr 2045. Europa ist formal noch eine Union, real jedoch ein Mosaik autoritärer Kleinstaaten mit geschlossener Gesellschaft. Die Parlamente funktionieren wie Theater, die Presse berichtet angepasst, die Kirche segnet, was sie nicht mehr versteht. Und irgendwo, in einem Keller, sitzt ein alter Mann, schreibt mit zitternder Hand ein weiteres Essay und fragt: Wie konnte es so weit kommen?
Niemand liest ihn. Niemand hört ihn. Denn es ist längst zu laut geworden in dieser Welt.