Alles ist Rassismus – auch das Gegenteil

Es war einmal ein Wort. Es war groß, schwer, dunkel und ernst. Man sprach es nicht leichtfertig aus. Es war ein Begriff, der zählte, weil er zählte, was nicht hätte sein dürfen: die systematische Verachtung des Anderen, des Fremden, des Nicht-Passenden. Rassismus – das war mehr als ein Vorwurf, das war ein Urteil, ein Stigma, ein gesellschaftlicher Bannspruch. Heute? Heute wird das Wort herumgereicht wie ein Gratis-Desinfektionsspray in der Fußgängerzone: Jeder hat’s, jeder benutzt’s, keiner weiß mehr, was drin ist. Der Rassismusbegriff, einst der symbolische Notruf in einer tatsächlich gefährlichen Welt, ist inzwischen das Schweizer Taschenmesser moralischer Erregung. Wer ihn zückt, braucht keine Argumente mehr. Es reicht, dass jemand „dunkel“ sagt – zack: Alltagsrassismus! Und wehe, jemand lacht an der falschen Stelle, sagt ein „falsches“ Wort oder zitiert ein Kinderbuch, das vor 1980 gedruckt wurde: Die Empörung lässt nicht lange auf sich warten, sie kommt in Großbuchstaben, Hashtags und mit ironiefreier Entschlossenheit.

Dabei ist der neue Rassismusvorwurf nicht etwa ein scharfes Schwert gegen Unrecht, sondern eine schiefe Brille, durch die alles zur Diskriminierung verschwimmt. Nicht mehr die Tat zählt, nicht die Absicht, nicht der Kontext – sondern das empfindungstechnische Echo im moralisch geschulten Bauch der Selbstgerechten. Die inflationäre Anwendung dieses Wortes hat aus einem klaren moralischen Maßstab eine trübe moralistische Brühe gemacht. Wer alles Rassismus nennt, der verharmlost ihn nicht nur, er erzeugt auch künstlich Feindbilder, wo vielleicht nur Missverständnisse, Unbeholfenheit oder schlicht: menschliche Imperfektion existieren.

Vom Falschkompliment zum Feindbild: Wenn sogar Nettigkeit verdächtig wird

Man stelle sich vor: Ein Mensch, nennen wir ihn Thomas, macht in der Bahn einer Mitreisenden ein Kompliment über ihre Sprache: „Sie sprechen aber ein sehr schönes Deutsch.“ Die Reaktion? Nicht etwa Dank – sondern die sofortige Einordnung als „Mikroaggression“. Denn – so lautet das neue Glaubensbekenntnis – das Implizite sei das Gefährliche. Hinter dem Lob verberge sich ein Subtext: „Sie sehen nicht so aus, als könnten Sie Deutsch sprechen.“ Thomas, der keine böse Absicht hatte, wird zur Symbolfigur eines strukturellen Problems erklärt – und das mit der Inbrunst einer Inquisition, die sich nicht mehr um das Feuerholz kümmern muss, weil sie längst die Zündschnur der Empörungsindustrie gelegt hat.

TIP:  Berlin und Bukarest

Der moralische Fortschritt – das war einmal die Fähigkeit, differenziert zu urteilen. Heute ist es die Kunst, alles in die gleiche braune Soße zu tunken. Der Falschkomplimente-Rassismus, der Namen-richtig-aussprech-Rassismus, der „Ich-sehe-keine-Farbe“-Rassismus: Alles wird unter dem Mantel der Betroffenheit zur strukturellen Gewalt hochstilisiert. Die hehre Idee der Gleichheit verkommt zur Denunziationsmaschinerie, in der selbst die positivsten Absichten unter Generalverdacht geraten. Wer keine Rassistin sein will, darf eigentlich gar nichts mehr sagen. Oder besser: nur das, was von der aktuellen Sprachfibel des progressiven Empörungsetats abgesegnet wurde. Leider aktualisiert sich diese Fibel schneller als jedes iPhone-Update.

Schwarzfahren, Schwarzsehen, Schwarzbrot – linguistische Säuberungen im Sinne des Guten

Es beginnt mit einem Wort. Es ist immer ein Wort. Und das reicht inzwischen. „Schwarzfahren“ zum Beispiel – eine Vokabel aus dem Reich der Verkehrsbetriebe, über Jahrzehnte hinweg zuverlässig, nüchtern, technisch. Doch nun soll das „Schwarz“ eine rassistische Konnotation tragen. Man wittert dahinter die kulturelle Stigmatisierung von Hautfarbe – ein semantischer Gedankenspagat, der selbst für eingefleischte Germanistikstudenten sportlich ist. Wo Sprache früher Klarheit schuf, wird sie heute zur Mine, über die man leicht stolpert – ob man will oder nicht.

Die neue Sprachmoral ist dabei kein Plädoyer für Rücksicht, sondern eine militante Umcodierung aller Begriffe. Wörter sollen nicht mehr benennen, sondern bekennen. Und wenn ein Wort in einem völlig anderen Zusammenhang verwendet wird – sei es „Schwarzmarkt“, „Schwarzarbeit“ oder „Schwarzmalerei“ – dann reicht das schon, um es zu ächten. Die Sprache wird nicht mehr gepflegt, sie wird gereinigt. Mit Hochdruck. Mit Gesinnungsschaum. Mit moralischer Lauge. Es ist die gute alte Zensur, aber in neuem Gewand – diesmal kommt sie nicht von oben, sondern aus der Mitte der hyperwachsamen Zivilgesellschaft. Sprachreinigung als Volkssport.

Wenn alles Rassismus ist, ist nichts mehr ernst – und niemand mehr sicher

Das Tragische – und darin liegt die bittere Ironie – ist die Verharmlosung des echten Rassismus durch diese semantische Hybris. Wenn der, der ein unbedachtes Wort sagt, in einem Atemzug mit dem genannt wird, der Menschen aufgrund ihrer Herkunft Gewalt antut – dann verschwimmen die Kategorien. Dann wird aus dem Neonazi im Fußballstadion und der Deutschlehrerin, die „Mohrenkopf“ sagt, ein und dieselbe Figur. Und das ist keine Übertreibung – das ist die gelebte Realität in den Kommentarspalten, in akademischen Diskursen, in Öffentlich-Rechtlichen Debattenrunden mit Ausgewogenheitsquoten.

TIP:  JETZT GEHT’S LOS!

Was dabei untergeht? Der tatsächliche Kampf gegen Diskriminierung, Ausgrenzung, Hass. Denn dieser Kampf ist schwer. Lang. Und unbequem. Aber wozu sich mit realen Missständen beschäftigen, wenn man sich stattdessen im Wohlfühl-Feuilleton über „exkludierende Sprache“ empören kann? Der neue Moralismus hat aus dem politischen Handeln eine Gefühlsästhetik gemacht, in der sich Betroffenheit als Tatersatz tarnt. Der Kampf gegen echten Rassismus wird durch diese Empörungssimulation nicht unterstützt, sondern sabotiert. Man verwechselt das Hashtag mit Heldentum – und das Mitgefühl mit Selbstinszenierung.

Resümee: Zwischen Hygiene und Hysterie

So stehen wir also da, im Deutschland der Wohlmeinenden, der Gutformulierten, der sprachlich Geläuterten – und merken nicht, wie wir in unserer Empörungsfreude die Ernsthaftigkeit verlieren. Wie wir aus einem Kampf für Menschenwürde eine Karikatur machen. Und aus der Erinnerung an echte Verbrechen einen PR-Text mit Genderstern. Wir haben die moralische Sprache professionalisiert – aber das moralische Denken infantilisiert. Wir haben Begriffe vergrößert – und damit entleert.

Was bleibt? Ein Begriff, der früher Gewicht hatte – und heute wie ein schlecht kopierter Protestbutton klingt: „Rassismus“. Man pinnt ihn sich schnell an, ruft ihn aus, twittert ihn weiter. Aber er ist porös geworden. Er schützt nicht mehr. Er verklärt. Er blendet.

Und das ist nicht nur ärgerlich. Es ist gefährlich.

Willkommen im Wörterbuch der empörungsverdächtigen Begriffe

3. Auflage, vollständig moralisiert, mit Triggerwarnungen.

Hier findet sich eine Liste ehemals harmloser Alltagswörter, die inzwischen unter schwerem Verdacht stehen. Ihre Verwendung kann je nach Kontext, Tonfall, Hautfarbe des Sprechers oder Tageszeit zwischen „grenzwertig“ und „faschistoid“ schwanken. Achtung: Ironie wird nicht als mildernder Umstand anerkannt.


1. Schwarzfahren (Substantiv, höchst verdächtig)

Früher: Beförderungserschleichung im ÖPNV
Heute: Linguistische Vorverurteilung pigmentierter Menschen
Alternativvorschläge:

  • „Ticketfreies Mobilitätsverhalten“
  • „Dunkeltarifliches Fortbewegungsmodell“
  • „Beteiligungskritisches Bahnengagement“

2. Schwarz auf Weiß (Redewendung, Racially Questionable)

Früher: Ausdruck für klare Beweise
Heute: Farbdualismus mit kolonialem Beigeschmack
Vorschlag:

  • „Kontrastbasierte Faktendarstellung“
  • „Pigmentäquivalente Beweiskraft“

3. Mohrenstraße (Ortsbezeichnung, heute: Kriegsgebiet)

Früher: Historischer Straßenname, keiner wusste warum
Heute: Offenes Sprachdelikt mit Rücktrittspotenzial
Empfohlen:

  • „Straße des postkolonialen Unbehagens“
  • „Menschenfarbenunabhängige Verkehrsachse“
TIP:  Die Sabotage der Aufklärung

4. Zigeunerschnitzel (Kulinarisches Kriegsverbrechen)

Früher: Tomaten-Paprika-Soße mit Fleisch
Heute: Rassistische Diffamierung durch Soßenbezeichnung
Alternativen:

  • „Schnitzel mit soziokulturell neutraler Würzmasse“
  • „Paprika-spezifisch sozialisierte Fleischscheibe“

5. Dunkelhäutig (Adjektiv, einst beschreibend, heute: Nest der Mikroaggression)

Früher: Versuchte sachliche Beschreibung
Heute: Reduktion auf Hautfarbe mit struktureller Komponente
Alternative Formulierung:

  • „Melaninreiche Mitmenschlichkeit“
  • „Person of Tanned Expression“

6. Weißbrot (Substantiv, zutiefst eurozentristisch)

Früher: Backware, eher trocken
Heute: Symbol für kulturelle Überheblichkeit, Kolonialgluten
Empfohlene Umschreibung:

  • „Pigmentfreies Hefeprodukt“
  • „Diversitätsdefizitäres Gebäck“

7. Indian Summer (poetisch, jetzt: appropriiert)

Früher: Bezeichnung für einen goldenen Herbst
Heute: Romantisierte Verharmlosung indigener Leiden
Alternativvorschlag:

  • „Herbstlicher Temperaturwiderstand mit kultureller Sensibilität“
  • „Spätsommerliche Dekolonialisierungsphase“

8. Schwarzsehen (Pessimismus, pigmentverdächtig)

Früher: Düstere Zukunftsprognose
Heute: Suggestive Gleichsetzung von Dunkelheit und Negativität
Empfohlene Neudeutung:

  • „Optimismusferne Farbwahrnehmung“
  • „Hoffnungskritisches Farberlebnis“

9. Weiße Weste (Redewendung, heute: Exklusion durch Textilien)

Früher: Ausdruck für Unschuld
Heute: Symbol für Reinheitsfantasie westlicher Prägung
Alternative:

  • „Nicht kontaminierte Ethikbekleidung“
  • „Transparenzsignalisiertes Oberbekleidungsversprechen“

10. Farbfernsehen (veraltet, aber gefährlich)

Früher: Technologischer Fortschritt
Heute: Subtile Hierarchisierung visueller Reize
Vorsicht: Kann als „visuelle Kolonialisierung der Wahrnehmung“ interpretiert werden
Empfohlen:

  • „Pigmentdiverses Signalempfangsgerät“

Hinweis an den Benutzer

Die Verwendung dieser Begriffe kann zu erhöhter Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken, akademischen Diskursen und unter 23-Jährigen führen.
Empörung ist jederzeit ohne Vorwarnung möglich.
Ironie, Sarkasmus und gesunder Menschenverstand wurden im Zusammenhang mit diesem Lexikon vorsorglich außer Betrieb genommen.

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