
Alle Jahre wieder: Die Lichterketten sind längst abgehängt, die Glühweinflecken auf den Marktplätzen getrocknet, da bereitet sich die Stadt auf ein anderes Ritual vor. Der 13. Februar. Die stillste Nacht des Jahres, sagen die einen, eine Nacht der Trauer, des Gedenkens. Die lauteste Nacht des Jahres, sagen die anderen, eine Nacht der Parolen, der kalkulierten Empörung. Wie immer im Februar schwillt die Erregungskurve in den Feuilletons an, und das Wort „Opfer“ durchläuft eine ideologische Generalinspektion: Wer darf es beanspruchen? Wer missbraucht es? Wem gehört das Leid? Wer relativiert? Wer instrumentalisiert? Die Diskussionsfronten sind so starr wie die Gedenkminuten im offiziellen Protokoll. Und irgendwo zwischen all dem steht die Stadt selbst – ruühmlich bemüht, um ihr Bild zu ringen.
Der Mythos der makellosen Stadt
Dresden, das „Elbflorenz“, die unschuldige Perle, das barocke Wunder, das urplötzlich und ohne Zutun seiner Bewohner zur Zielscheibe geworden sei. So hört man es bis heute in zahllosen Variationen. Die Geschichte der Stadt wird erzählt wie ein Grimmsches Märchen: Alles war schön, alles war friedlich, und dann kamen die Bösen aus der Luft. Dass Dresden ein integraler Bestandteil des NS-Systems war, dass hier Waffen produziert, Kriegsstrategien geschmiedet, Deportationen organisiert wurden – all das liegt oft wie ein lästiger Nebensatz in den Archiven. Denn das Narrativ der „unschuldigen Stadt“ braucht ein Maximum an Opfertum und ein Minimum an Kontext. Und jedes Jahr, wenn sich die Lichter der Menschenkette in der Altstadt spiegeln, flackert diese Legende wieder auf. Ein Kerzenmeer gegen das Vergessen? Oder gegen das Erinnern an unbequeme Wahrheiten?
III. Der Tanz um die Zahlen
25.000 Tote, sagt die Forschung. Hunderttausende, ruft die revisionistische Folklore. Zahlen, mal hochgeschraubt, mal gedrückt, je nach Bedarf. Zahlen als Argumente, Zahlen als Moralkeulen, Zahlen als politische Währung. Und jedes Jahr aufs Neue das absurde Spektakel: Historiker ringen um wissenschaftliche Nüchternheit, während am Rande der Gedenkveranstaltungen skandierende Gestalten „Bombenholocaust“ schreien. Man fragt sich: Was wäre, wenn es nicht um Dresden ginge? Wären die gleichen Menschen so eifrig dabei, Opferzahlen zu relativieren oder zu überhöhen? Ist es Empathie oder Selektion?
Wer trauert da eigentlich?
Die Stadt ist gespalten, aber nicht entlang politischer Linien, sondern entlang eines tieferen Grabens: der Differenz zwischen echter Trauer und performativem Gedenken. Zwischen jenen, die schweigen, weil es ihnen den Atem nimmt, und jenen, die schweigen, weil es Teil der Inszenierung ist. Zwischen jenen, die ehrlich um ihre Vorfahren trauern, und jenen, die in martialischer Ernsthaftigkeit ihre Vergangenheit mit einer Opferrolle ausstatten wollen, die ihnen nie zugestanden hat. Und inmitten dieser Spaltung steht die Stadtverwaltung, das politische Establishment, die Kirchenvertreter – alle eifrig darum bemüht, der Veranstaltung eine würdige, eine „ausgewogene“ Note zu geben. Gedenken ja, aber ohne Missbrauch. Mahnung ja, aber ohne Schuldzuweisung. So wächst die Veranstaltung Jahr um Jahr zu einer Choreografie, die niemand so richtig hinterfragt, weil das Erschütternde an Rituale ist: Sie erscheinen irgendwann normal.
Das Problem mit dem Erinnern
2025 jährt sich das Kriegsende zum 80. Mal. Es wird neue Gedenkveranstaltungen geben, neue Reden, neue Kränzchen, neue Schlagzeilen. Und erneut wird man sich fragen: Was genau wird da erinnert? Wer definiert die Form des Gedenkens? Wo endet das Andenken an die Vergangenheit und wo beginnt das Manövrieren in der Gegenwart? Vielleicht ist das eigentliche Problem nicht das Gedenken an sich, sondern die Tatsache, dass es sich immer mehr von dem löst, was es ursprünglich bedeuten sollte. Erinnern heißt nicht nur, eine Geschichte zu erzählen – es heißt auch, die richtigen Fragen zu stellen. Doch solange das Erinnern zur ritualisierten Veranstaltung wird, bleibt das Denken in Stein gemeißelt. So wie die Mahnmale, an denen jedes Jahr die Blumen niedergelegt werden, ohne dass sie jemand wirklich ansieht.