Zwischen Prinzip und Praxis

Warum Artikel 16a Absatz 2 im Schatten steht

Es ist wie ein gut einstudiertes Theaterstück, bei dem der Regisseur beschlossen hat, den zweiten Akt aus dem Programm zu nehmen – aus Gründen, die ebenso nebulös wie verdächtig erscheinen. Wir sprechen oft und lautstark über Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes: jenes Leuchtfeuer der humanitären Rechtsstaatlichkeit, das politisch Verfolgten Asyl gewährt. Doch sobald jemand – und das ist selten – wagt, Absatz 2 desselben Artikels ins Gespräch zu bringen, breitet sich eine Stille aus, die fast ohrenbetäubend ist.

Hier haben wir den rechtlichen Pragmatismus in seiner reinsten Form, ein klares Statement, das besagt: Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, kann sich auf das Asylrecht nicht berufen. Es ist ein Paragraf, der so klar ist, dass er in seiner Einfachheit geradezu schockiert. Und dennoch: Warum ignorieren wir ihn? Warum scheint die gesamte Debatte um Migration und Asyl in Deutschland in einem Paralleluniversum stattzufinden, in dem dieser Absatz einfach nicht existiert?

Vielleicht liegt es daran, dass der politische Diskurs in Deutschland zunehmend von moralischen Imperativen statt von rechtlichen Realitäten bestimmt wird. Es ist einfacher, sich auf den emotionalen Glanz des ersten Absatzes zu stützen, als sich mit der nüchternen Härte des zweiten auseinanderzusetzen. Es ist bequemer, eine Debatte über Prinzipien zu führen, als unangenehme Fakten zu konfrontieren.

Von der Flüchtlingspolitik zur Gesinnungsethik

Die moralische Erzählung, die die Asyldebatte prägt, ist längst kein Debattengegenstand mehr, sondern ein Dogma. Wer es wagt, auch nur leise darauf hinzuweisen, dass das Grundgesetz selbst klare Grenzen setzt – nicht nur geografische, sondern auch rechtliche – wird sogleich in die Schmuddelecke verbannt. Das ist kein Zufall, sondern System.

Die Frage, ob Deutschland tatsächlich verpflichtet ist, jedem, der an seine Grenze klopft, Einlass zu gewähren, ist längst von einer anderen ersetzt worden: Bist du ein guter Mensch? Und wer würde schon den Mut haben, diese Frage zu verneinen? Die Diskussion hat sich von der Sachlichkeit zur Selbstinszenierung verschoben. Dabei dient Absatz 2 gerade dazu, die praktische Umsetzung von Absatz 1 zu regeln – und zwar nicht, um „Kälte“ oder „Unmenschlichkeit“ zu legitimieren, sondern um die Funktionsfähigkeit eines Rechtsstaats zu gewährleisten.

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Doch das ist in der öffentlichen Wahrnehmung offenbar ein Skandal. Rechtsstaatlichkeit, so scheint es, ist nur dann akzeptabel, wenn sie sich mit einer glitzernden Maske der universalen Barmherzigkeit schmückt.

Sicherer Drittstaat oder sichere Empörung

Die Konstruktion des sicheren Drittstaats ist eine Meisterleistung juristischer Eleganz und Pragmatik. Sie sagt nichts anderes, als dass Deutschland nicht die einzige Rettungsinsel in einem Meer der Not sein kann. Und doch wird der Begriff in der politischen Debatte behandelt, als wäre er ein perfider Trick, um Flüchtlinge in die Arme des Unheils zurückzutreiben.

Der „sichere Drittstaat“ – ein Konzept, das von der Genfer Flüchtlingskonvention bis zur EU-Asylpolitik getragen wird – wird in der öffentlichen Diskussion zu einem Buhmann stilisiert, einem Synonym für Abschottung und Kälte. Dabei geht es hier nicht um Kälte, sondern um Vernunft. Denn wie sollte ein Staat in der Lage sein, alle aufzunehmen, wenn es keine Kriterien gibt, die diesen Prozess lenken? Und warum sollte das überhaupt nötig sein, wenn es andere Staaten gibt, die ebenfalls als sicher gelten?

Die Antwort auf diese Fragen bleibt regelmäßig aus, ersetzt durch emotionale Appelle und moralische Vorwürfe.

Das Spiel mit der Wirklichkeit

Hier, liebe Leser, sind wir am Kern des Problems angekommen: Die Debatte über Migration ist längst keine Debatte mehr, sondern ein Spektakel. Es ist ein Festival der Hypermoral, bei dem die Realität auf dem Altar der moralischen Selbstgefälligkeit geopfert wird. Artikel 16a Absatz 2 wird nicht erwähnt, weil er unbequem ist, weil er Grenzen setzt, wo Grenzen doch längst verpönt sind.

Die politische Elite hat sich darauf spezialisiert, Probleme nicht zu lösen, sondern zu verwalten. Die Tatsache, dass die Zahl der irregulären Einreisen steigt, wird entweder ignoriert oder schöngefärbt. Gleichzeitig wird jeder Versuch, auf die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten hinzuweisen, als Zeichen von Engstirnigkeit oder gar Fremdenfeindlichkeit diffamiert. Es ist ein System, das sich von seiner eigenen Ideologie gefangen nehmen lässt.

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Ein Augenzwinkern der Resignation

Vielleicht ist es am Ende ja auch einfacher, über Artikel 16a Absatz 1 zu sprechen, weil er so schön klingt. Absatz 2 hingegen ist die bittere Pille, die niemand schlucken will. Aber wie lange kann ein Land es sich leisten, den zweiten Akt seines Theaterstücks auszulassen?

Die Antwort darauf wird die Zeit zeigen. Bis dahin bleibt uns nur, in den absurden Abgründen dieser Debatte ein wenig schwarzen Humor zu finden. Denn manchmal ist das Lachen über die Absurdität der Welt die einzige Waffe, die uns bleibt.

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