
Vom Déjà-vu der deutschen Weltgeschichtsübungen
Es gibt Sätze, die klingen wie frisch aus der Gruft der europäischen Katastrophengeschichte heraufgekrochen. Einer davon fiel jüngst in die Mikrofone der Republik, als Bundeskanzler Friedrich Merz – im Takt seiner eigenen Hackenschläge, halb burschikos, halb wilhelminisch– erklärte, Deutschland müsse „die stärkste konventionelle Armee des Kontinents“ haben. Man möchte lachen, wenn nicht schon die historische Pointe dreimal gespielt worden wäre: 1914, 1939 und – mit feiner Ironie der Chronologie – 2025. Drei Daten wie drei Glockenschläge, die im europäischen Gedächtnis keine Melodie ergeben, sondern Sirenengeheul.
1914 – Der erste große Betriebsunfall
Damals, als Europa noch Kaiserkrone trug und die Generäle mit Landkarten spielten wie gelangweilte Internatsschüler mit Schachfiguren, begann das Experiment „größte Armee des Kontinents“ bereits einmal. Es endete bekanntlich nicht in Stolz und Glorie, sondern in Schützengräben, Gaswolken und einer Versehrtenrente, die ganze Generationen zu Hypothekensklaven machte. Wer sich heute noch die Bilder der marschierenden Kolonnen ansieht, mit pickelhaubiger Gravität und unverrückbarer „Pflichterfüllung“ im Blick, erkennt die alte Formel: Je lauter der Befehlston, desto größer die Ahnungslosigkeit über das Kommende.
1939 – Das Comeback der Marschmusik
Doch der Mensch lernt bekanntlich nicht aus Erfahrung, sondern höchstens aus Katastrophen – und auch nur dann, wenn sie frisch sind. 25 Jahre nach dem ersten „großen Spiel“ standen die Trommeln erneut parat, diesmal orchestriert von einem Mann, dessen Bart die Ironie der Weltgeschichte in sich trug: so klein, so grotesk, und doch so tödlich. Wieder die Rede von Stärke, wieder die Verheißung nationaler Größe, wieder die militärische Selbstaufplusterung, diesmal in industrieller Perfektion. Das Resultat: Trümmerhaufen, verbrannte Erde, ein moralisches Erbe, das uns Deutschen eigentlich für mindestens tausend Jahre jeden Militärton hätte verbieten sollen. Doch siehe da – die Halbwertszeit der Einsicht ist deutlich kürzer.
2025 – Die Wiederkehr des Verdrängten
Und so stehen wir nun in der Gegenwart, in der sich die politische Sprache ein Vokabular leiht, das man längst in die Quarantänestation der Geschichte gesperrt wähnte. „Stärkste konventionelle Armee Europas“ – das klingt nach den feuchten Träumen jener Think-Tank-Strategen, die in klimatisierten Konferenzräumen Schlachten auf PowerPoint-Karten verschieben, während draußen die Rentner ihre Butterpreise vergleichen. Der Kanzler spricht, die Medien notieren, das Volk horcht – und irgendwo in Moskau, Peking oder Washington klatscht ein Generälsstiefel im Takt.
Natürlich, der Kontext ist heute ein anderer: Putin als Schreckgespenst, NATO als Dauerchor, Ukraine als Stellvertreterfront. Doch die Semantik bleibt dieselbe: Größe, Stärke, Vorrang. Wer die stärkste Armee haben will, dem genügt Verteidigung nicht – er möchte auch auf dem Pausenhof Europa das größte Lineal in der Hosentasche haben.
Der deutsche Reflex
Warum also dieser Griff in die historische Waffenkammer der Worte? Vielleicht, weil Deutschland notorisch unter Identitätsmangel leidet: Als Wirtschaftsmacht beneidet, als Militärmacht misstraut, als Fußballmacht verspottet. Was bleibt da übrig? Rüstung natürlich, die große alte Droge, die schon Bismarck süchtig machte. Und wenn Merz nun seine Hacken zusammenschlägt, dann klingt darin die ganze Sehnsucht eines Landes, das endlich wieder etwas „Stolz“ in die Pose gießen will. Dass man damit ausgerechnet die Bühne betritt, auf der Deutschland schon zweimal grandios gestolpert ist, scheint Nebensache – oder Tradition.
Zwischen Tragödie und Farce
Marx sagte einmal, Geschichte wiederhole sich erst als Tragödie, dann als Farce. Die Deutschen allerdings scheinen eine dritte Kategorie zu erfunden zu haben: die peinliche Selbstparodie. Denn was wäre lächerlicher, als ausgerechnet im Jahr 2025 – wo die größten Schlachten digital, ökonomisch oder klimatisch geschlagen werden – noch immer auf Panzerstahl und Marschmusik zu setzen? Es ist, als wolle man gegen einen Hackerangriff mit einer Pickelhaube anstürmen. Oder gegen den Klimawandel mit einer Parade der Gebirgsjäger.
Epilog: Europa erschrickt
Und ja, Europa erschrickt – nicht, weil es die deutsche Armee fürchtet, sondern weil es die deutsche Amnesie bemerkt. Man hat sich an unser Bier, unsere Autos, sogar an unseren Fußball gewöhnt. Aber an unsere Militärträume? Das ist ungefähr so vertrauensbildend wie ein Pyromane, der die Feuerwehr übernehmen will.
So bleibt am Ende nur der ironische Trost: Vielleicht will Merz ja gar keine Armee, sondern nur ein Prestigeprojekt, eine Rüstungskathedralle, die er dereinst als Denkmal hinterlassen kann. Eine Kathedrale aus Stahl, Kanonenrohren und Etatposten, in der die Deutschen wieder „stolz“ durch die Gänge marschieren dürfen – bis Europa sich fragt:
„Sag mal, kennen wir das nicht schon?“