Wenn schon, denn schon!

Der glorreiche Aufstieg der neuen alten Ordnung

Es gibt Momente in der Geschichte, da brechen die großen Reden über die Menschheit herein wie eine meteorologische Front – wolkig im Kern, stürmisch im Ton und mit einer Wahrscheinlichkeit auf Aufheiterung gegen null. Einer dieser seltenen Momente war die jüngste Anhörung von Kaja Kallas, jener hochsympathischen politischen Erscheinung, die sich aus dem avantgardistischen Innovationslabor Estland nun als neue Chefin der EU-Außenpolitik anschickt, der sogenannten „freien Welt“ die Führung zu erklären. Welch ein Vorhaben! Welch eine Vision! Welch ein Schauspiel, in dem die Hauptdarstellerin mit festem Blick und unerschütterlicher Entschlossenheit durch die diplomatische Maschinerie Europas schreitet, als hätte sie im Handgepäck bereits den Masterplan zur Rettung der Zivilisation.

Der erste Akt dieses Dramas beginnt mit dem einzigen Wort, das in der gegenwärtigen europäischen Innenpolitik noch Konsensfähigkeit genießt: Sieg. Genauer: der Sieg der Ukraine – ein Versprechen, so strahlend wie die Hoffnung eines Lottospielers, der bereits die Yacht bestellt hat, bevor die Kugeln überhaupt gezogen wurden. Dass niemand so genau definieren kann, was ein solcher Sieg eigentlich bedeutet – territorial, militärisch, moralisch oder metaphysisch – ist dabei höchstens ein marginales Detail. Wichtig ist allein, dass Europa als Kollektiv mit derselben Hingabe in den Abgrund marschiert, mit der einst die Kinder zu Hameln den Flötentönen folgten.

In Treue fest: Die Heilige Dreifaltigkeit der Hilfe

Die rhetorische Konstruktion ist dabei so makellos wie ein Handbuch der Bürokratie: militärisch, finanziell, humanitär – drei Pfeiler der bedingungslosen Solidarität, die in ihrer Reihung fast schon liturgischen Charakter annehmen. Wie ein biblisches Mantra wird die Notwendigkeit der ewigen Unterstützung beschworen, ohne dass jemand sich die Frage zu stellen wagt, ob diese Trinität nicht längst zur unbezahlten Rechnung am Himmel Europas geworden ist. Denn während Panzer rollen, Milliarden strömen und Decken verteilt werden, steigt der Preis für diese Tugendhaftigkeit unaufhaltsam – allerdings nicht für jene, die sie predigen.

TIP:  Die Welt im Jahr 2035, nach den Empfehlungen aus Davos

Es ist die schönste Ironie unserer Zeit, dass der europäische Diskurs die eigene Erschöpfung längst zu einem moralischen Imperativ verklärt hat. Die Frage ist nicht mehr, wie lange wir die Ukraine unterstützen können, sondern wie lange wir es müssen, um nicht in den Verdacht moralischer Minderwertigkeit zu geraten. Kallas‘ Botschaft ist hier von betörender Klarheit: so lange, wie es nötig ist. Oder anders gesagt: für immer. Denn es gibt keine tragischere Pointe in dieser Geschichte als die, dass der Sieg, den sie proklamiert, vermutlich erst in jenem metaphysischen Jenseits errungen wird, in dem auch der Endsieg des Kommunismus und die glückliche Globalisierung auf ihre Verwirklichung warten.

Das Märchen vom klaren Weg

Doch wer glaubt, es gehe hier allein um Waffen und Geld, der unterschätzt den Größenwahn der europäischen Chefstrategen. Denn was wäre eine geopolitische Erlösungsvision ohne die Verheißung eines „klaren Weges“? Die Ukraine soll nicht nur siegen, sie soll auch endlich dorthin, wo sie immer hingehörte: in die Europäische Union. Dass das Land derzeit in einem Zustand ist, der dem Kriterium der Kopenhagener Verträge ungefähr so nahekommt wie ein Basar in Kabul dem TÜV Rheinland, spielt dabei keine Rolle. Wichtig ist die symbolische Geste – die Vorstellung, dass man sich die eigene Zukunft kaufen könne wie ein Ticket für die Schnellbahn ins Paradies.

Der klare Weg ist dabei vor allem eines: ein nebliger Trampelpfad, gesäumt von Ausnahmegenehmigungen, moralischen Sonderrabatten und jener westlichen Geduld, die bei der Türkei nach 60 Jahren gerade erschöpft ist, bei der Ukraine aber als unendliche Ressource ausgegeben wird. Ein Weg, der am Ende nicht nach Brüssel, sondern direkt in die Arme des Internationalen Währungsfonds führen wird – und zwar mit einer Schuldenquote, die die griechische Tragödie wie eine launige Sommerkomödie erscheinen lässt.

Wer hinterherläuft, führt am besten

Was Kaja Kallas in ihrer frischen Inbrunst vielleicht nicht ahnt – oder vielleicht doch, und das wäre die eigentliche Pointe – ist, dass sie mit ihrer Forderung nach einer neuen Führung der freien Welt exakt jenen europäischen Fetisch bedient, der seit Jahrzehnten den Fortschritt blockiert: den heimlichen Traum, endlich von den USA unabhängig zu werden, während man gleichzeitig alles daran setzt, sich noch abhängiger zu machen. Der wahre Führer der freien Welt ist heute jener, der am zuverlässigsten den amerikanischen Parolen hinterherläuft. Und in dieser Disziplin ist Kallas eine Idealbesetzung.

TIP:  Österreichs Weg in die Dritte Republik

Denn die größte Errungenschaft der europäischen Außenpolitik im 21. Jahrhundert ist es, jede eigene geopolitische Vision durch ein Mantra transatlantischer Gefolgschaft zu ersetzen. Washington sagt: Waffen liefern! Europa antwortet: Wie viel? Washington sagt: Sanktionen verschärfen! Europa fragt: Wie hart? Washington sagt: Der Sieg ist alternativlos! Europa applaudiert – und bezahlt. Die Führung liegt darin, sich möglichst kompetent zum Mitläufer zu degradieren.

Die Hohe Kunst des Daueroptimismus

So bleibt am Ende nur die bewundernswerte Fähigkeit, jede noch so absurde geopolitische Zielvorstellung mit stoischer Ernsthaftigkeit als unverhandelbar darzustellen. Kaja Kallas‘ Vision von einem Sieg der Ukraine, finanziert durch die geopolitische Selbstaufgabe Europas, ist dabei vielleicht das schönste Beispiel für jene intellektuelle Akrobatik, die den Kontinent zur wohl höflichsten Konkursmasse der Weltgeschichte gemacht hat.

Und dennoch: Wer wollte es ihr verdenken? Es gehört zur europäischen Tragik, dass wir uns unsere Illusionen wenigstens mit Stil leisten. Wenn schon Untergang, dann mit Sektglas in der Hand und moralisch erhobenem Zeigefinger. Wenn schon Führungsanspruch, dann als elegante Selbstparodie. Und wenn schon Sieg, dann bitte für immer – auch wenn wir ihn am Ende nur in den Fußnoten der Geschichte finden werden.

Please follow and like us:
Pin Share