
Ein Prozess als Spiegel der Geschichte
Es gibt Momente, in denen die Geschichte mit brutaler Klarheit offenbart, was aus kleinen Gifttröpfchen in den Adern einer Gesellschaft werden kann. Nürnberg, 1946: Vor den Schranken der Justiz behauptet Julius Streicher, der eifrige Architekt antisemitischer Hetze, etwas, das sowohl absurd als auch verstörend plausibel klingt: „Wenn Martin Luther heute lebte, dann säße er hier an meiner Stelle.“ Das Publikum im Saal mag den Atem angehalten haben, ob der Frechheit oder ob der schmerzlich spürbaren Wahrheit. Denn Streicher hatte nicht nur einen dunklen Lehrmeister heraufbeschworen, sondern einen, den man aus den heiligen Hallen der protestantischen Kirche lieber vergessen machen wollte: Martin Luther, das reformatorische Genie mit dem tief verwurzelten Hass.
Aber ist es nicht grotesk, einen Mann, der Bibeln übersetzte und dem Ablasshandel den Krieg erklärte, zum Paten moderner Barbarei zu erklären? Oder ist es schlicht notwendig? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick auf den theologischen Sprengsatz zu werfen, den Luther hinterließ – und dessen Zündmechanismus 400 Jahre später von anderen so brillant beherrscht wurde.
Der Prophet und sein wütendes Erbe
Luther, das muss man zugeben, hatte eine Gabe für Polemik. Heute würde man ihn einen „Meister der Hassrede“ nennen, einen Influencer mit toxischem Feed. Besonders berüchtigt ist seine letzte „Judenschrift“ aus dem Jahr 1543: „Von den Juden und ihren Lügen.“ Der Titel klingt wie der eines mittelalterlichen Bestsellers, und tatsächlich war es eine Art geistiger Vorläufer jener pseudowissenschaftlichen Schriften, mit denen die Nazis später ihre Todesfabriken rechtfertigten.
In dieser Schrift zieht Luther alle Register des Hasses: Synagogen anzünden, Häuser zerstören, Rabbinern das Wort verbieten, Juden zur Zwangsarbeit verdammen. Klingt bekannt? Natürlich. Die Parallelen sind so frappierend, dass selbst hartgesottene Lutherverehrer ins Schwitzen kommen. Und doch gibt es Stimmen, die Luthers Ausfälle in den Kontext seiner Zeit stellen wollen: Ach, sagen sie, das waren halt die üblichen Vorurteile der frühen Neuzeit! Dasselbe könnte man wohl auch über mittelalterliche Hexenverbrennungen oder den guten alten Pranger sagen – Tradition rechtfertigt offenbar alles, solange man bereit ist, die Flammen zu romantisieren.
Eine Theologie der Exklusion
Luthers Antijudaismus ist nicht bloß ein Nebenschauplatz seines Schaffens, keine dunkle Laune eines alternden Mannes. Vielmehr zieht sich die Verwerfung des Judentums wie ein roter Faden durch seine Theologie. Die Juden, so Luther, seien verworfen, ein „Gotteslästerndes Volk“, das blind für die Wahrheit sei. Jesus? Ein Prophet, den sie angeblich lächerlich machten. Die Bibel? Ein Buch, das sie ihrer eigenen Tradition entreißen müssten. Es ist ein theologischer Imperialismus, der seine „Wahrheit“ mit Gewalt behauptet. Und wenn die Argumente nicht mehr reichen, dann halt mit dem Feuer.
Zwischen Reformation und Radikalismus
Was dabei besonders perfide ist, ist die doppelte Rhetorik. Luther begann mit „freundlicher“ Missionierung, mit einer fast charmanten Einladung: „Kommt zu uns, erkennt die Wahrheit!“ Als jedoch die Juden sich weigerten, Luthers Christus als ihren Messias zu akzeptieren, schlug seine Enttäuschung in Hass um. Es war eine Bekehrung mit Pistole auf der Brust. Man mag sich vorstellen, wie sich ein mittelalterlicher Jude bei solchen „Einladungen“ gefühlt haben muss. Dankbar? Wohl kaum.
Und so ist es kein Zufall, dass Luther in späteren Jahren seine eigene Enttäuschung zu einer kollektiven Schuldzuweisung umdeutete: Die Juden waren nicht einfach anders, sie waren böse. Sie waren „Teufel in Menschengestalt.“ Und damit öffnete er die Tür für die schlimmsten Exzesse der Moderne.
Luthers Schatten über Deutschland
Am 10. November 1938, dem Geburtstag Martin Luthers, brennen in Deutschland die Synagogen. Zufall? Sicher nicht. Die Nazis wussten genau, was sie taten, als sie Luther als Kronzeugen für ihren eliminatorischen Antisemitismus anführten. Ein „Gottesmann“, der solche Dinge geschrieben hatte, legitimierte ihre Taten vor einem Volk, das sich gerne auf große Traditionen berief. Und so fand sich Luther, der unsterbliche Reformator, als Posterboy einer Bewegung wieder, die alle christlichen Prinzipien verriet – mit seiner eigenen Theologie als Rückendeckung.
Der schwierige Reformator
Wie also umgehen mit diesem Erbe? Manche Protestanten sprechen heute von Luthers „schwerem Erbe“. Das ist eine höfliche Untertreibung, wie sie nur aus kirchlichen Gremien stammen kann. Luthers Schriften sind kein „schwieriges Erbe“ – sie sind eine Zeitbombe, deren letzte Explosion uns vor weniger als einem Jahrhundert zerriss.
Man könnte meinen, dass der Schock von Auschwitz ausreichen müsste, um eine klare Abgrenzung zu ziehen. Doch wie schwer es der evangelischen Kirche fällt, zeigt ein Zitat von Landesbischof Martin Sasse aus dem Jahr 1938, der Luther zum größten „Antisemiten seiner Zeit“ erklärte – mit offensichtlicher Bewunderung. Und hier liegt das Problem: Zwischen historischer Aufarbeitung und theologischer Loyalität klafft eine schmerzhafte Lücke.
Was bleibt
Luther ist und bleibt eine ambivalente Figur, ein Mann, dessen Worte Befreiung und Unterdrückung, Hoffnung und Hass zugleich inspirierten. Doch wer Luther feiert, ohne seine Schattenseiten anzuerkennen, macht sich mitschuldig an den Konsequenzen. Die Reformation mag eine Befreiung von kirchlicher Bevormundung gewesen sein, doch sie war auch der Beginn eines neuen Zeitalters der Intoleranz. Und wer weiß, vielleicht hätte Julius Streicher wirklich recht gehabt – zumindest in einer Hinsicht: Luther hätte eine exzellente Verteidigungsstrategie geliefert. Ob die Geschichte ihn freigesprochen hätte, steht auf einem anderen Blatt.
Tatsache ist, es wurden schon Straßen, Plätze und Schulen wegen weniger umbenannt.
Quellen und weiterführende Literatur
- Kaufmann, Thomas: „Luthers Judenschriften“. Göttingen, 2017.
- Schilling, Heinz: „Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs“. München, 2012.
- Stegemann, Ekkehard: „Luther und die Juden: Eine theologische Herausforderung“. Basel, 2015.