Von Zwergen, Filzläusen und geistiger Umweltverschmutzung

Warum alle, die heute über den Ton im Parlament weinen, dringend mal wieder Strauß und Wehner hören sollten

Es gibt Dinge, die sind in Deutschland immer gleich. Der Fußball wird entweder schlecht oder zu defensiv gespielt, die Bahn kommt entweder gar nicht oder mit Ansage zu spät, und der politische Diskurs ist entweder „verroht“ oder „besorgniserregend im Ton“. Letzteres wird derzeit wieder in epischer Breite beklagt. Kaum wird im Bundestag ein Satz mit erhobener Stimme gesprochen, schon ruft irgendein medialer Schwanengesang den demokratischen Sittenverfall aus. Die Republik, so scheint es, wird von Wortgewaltigen belagert. Der politische Anstand sei in Gefahr, die Debattenkultur kurz vor dem Exodus.

Man fragt sich, ob diese Kommentatoren ihre Erinnerungen irgendwo im Weichspülgang der Geschichte verloren haben. Oder ob sie tatsächlich glauben, dass der Parlamentarismus in den 1970ern ein Kamingespräch unter Klosterschwestern gewesen sei.

Der Bayerische Orkan – Franz Josef Strauß im Originalton

Franz Josef Strauß war kein Freund der leisen Töne. Strauß war die menschgewordene Gegenwart des Orkans im Parlamentarismus. Wenn er sprach, dann zitterte nicht nur das Rednerpult, sondern mitunter auch das Raum-Zeit-Kontinuum. Seine Angriffe? Episch. Seine Wortwahl? Jenseits jeder Pressesprecher-Syntax. Heute würde man nach jedem dritten Satz den Presserat anrufen.

Ein paar Kostproben gefällig?

Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.

Das ist nicht nur ein Aphorismus, das ist eine rhetorische Betonplatte, die bis heute über der politischen Romantik lastet. Hätte Strauß im Bundestag sanft gegrummelt, wäre er heute vergessen. Stattdessen donnerte er:

Die Opposition benimmt sich wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen!

Und wenn ihm die politische Konkurrenz allzu sehr auf den Wecker fiel, erklärte er sie kurzerhand für intellektuell minderbemittelt:

Die geistige Umweltverschmutzung, die von Ihnen ausgeht, ist unerträglich!

Man stelle sich vor, ein heutiger Abgeordneter würde so etwas ins Mikro brüllen – man müsste wahrscheinlich einen Trauma-Notdienst für Social-Media-Redakteure einrichten.

TIP:  Natürlich darf es keine Waffenruhe geben!

Strauß war kein Politiker im heutigen Sinne – er war ein rhetorischer Bulldozer. Wer ihn stoppen wollte, hätte mindestens eine Schneise in den Bundestag fräsen müssen. Aber die Leute damals wussten: Das ist Demokratie im Schichtbetrieb. Da wird auch mal Dreck gemacht.

Der eiserne Sensenmann der Rhetorik – Herbert Wehner

Doch wer glaubt, der bayerische Donnerschlag wäre damals allein auf weiter Flur gewesen, der hat Herbert Wehner vergessen. Wehner war kein Lautsprecher wie Strauß – er war schlimmer. Wehner war der Meister der gezielten Demontage. Wo Strauß donnerte, sägte Wehner. Präzise. Kaltschnäuzig. Wenn Wehner sprach, spürte man förmlich, wie im Plenarsaal der Sauerstoff knapp wurde. Nicht weil er schrie – sondern weil er jeden Gegner mit chirurgischem Sarkasmus zerlegte.

Eines seiner berühmtesten Zitate:

Sie sind doch eine Filzlaus am Parlamentarismus!

Stellen Sie sich das mal vor, heute. „Filzlaus“! Man müsste das Wort erstmal wieder in den Sprachgebrauch einführen, bevor man es verwenden könnte. Wehner aber schleuderte es ins Plenum wie ein gepflegtes Florett mit Stacheldraht.

Oder sein Kommentar an die Union:

Ihr Gewäsch ist die Verwesung der Politik.

Das ist nicht der Tonfall einer Sonntagsmatinee, sondern verbale Kriegsführung. Aber Wehner wusste: Demokratie braucht Reibung. Und Reibung erzeugt Hitze – nicht Konsensplüsch.

Sein wohl bösester Satz? Gerichtet an einen FDP-Abgeordneten:

Sie sind ein ungezogener Lümmel, und wenn Sie das Wort nicht richtig verstehen, dann können Sie’s ja mal nachschlagen!

Heute würde das den Ethikrat auf den Plan rufen. Damals war es Alltag.

Der Wandel vom Boxring zur Yogastunde

Was ist passiert, dass aus dem einstigen rhetorischen Boxring namens Bundestag eine Mischung aus Meditationszentrum und moralischem Feuilleton geworden ist? Damals wurden politische Gegner nicht zum Kakao eingeladen, sondern mit dem intellektuellen Knüppel bearbeitet. Es ging nicht darum, ob jemand sich „angegriffen fühlte“. Es ging darum, ob jemand Substanz hatte. Wer sich verletzt zeigte, wurde nicht getröstet – er wurde ausgelacht. Demokratie bedeutete Debatte, nicht Dialogpädagogik.

TIP:  Ostfront 2.0

Heute hingegen wird aus jedem verbalen Rempler ein Fall für den Diskurs-Notstand erklärt. Ein bisschen Polemik – und sofort steht der Chor der Mikroaggressions-Detektoren bereit. Die Grenze zwischen Beleidigung und Meinungsäußerung wird so eng gezogen, dass kaum noch ein Gedanke hindurchpasst.

Politik ist kein Streichelzoo

Strauß und Wehner wussten, dass Demokratie auch Kampf ist. Natürlich kein Kampf mit Fäusten, sondern mit Worten, Konzepten, Ideen – und ja, auch mit Beleidigungen. Warum? Weil das Wesen des Parlamentarismus nicht darin besteht, auf Kuschelkissen gemeinsame Erklärungen zu stricken, sondern in der Auseinandersetzung. Man muss sich die Wahrheit schon gegenseitig ins Gesicht sagen – und manchmal wird dabei gespuckt, statt gesäuselt.

Oder um es mit Strauß zu sagen:

Wenn man sich in der Politik nicht ab und zu die Hände schmutzig macht, dann hat man keine Politik gemacht.

Und Wehner ergänzte sinngemäß:

Wer mit Wattebäuschen wirft, darf sich nicht wundern, wenn er übersehen wird.

Fazit: Mehr Zwergenschläge, weniger Zwergenaufstand

Also, liebe Hyperventilierenden des 21. Jahrhunderts: Spart euch das Mimimi über den angeblich „rohen Ton“. Ihr habt Strauß und Wehner nicht überlebt – ihr habt sie gar nicht erlebt! Das, was ihr heute beklagt, ist im Vergleich zur Vergangenheit ein freundliches Kratzen an der Tür.

Die Demokratie verrottet nicht am Streit. Sie verrottet am Stillstand. An Konsenslethargie. An Leuten, die glauben, politische Debatten müssten wie ein Wellness-Wochenende ablaufen.

Wenn ihr also das nächste Mal einen Abgeordneten hört, der im Bundestag Klartext spricht, dann schnappt euch einen Kamillentee – aber bitte schweigt dabei. Oder lest ein paar Reden aus den 70ern. Dann werdet ihr feststellen: Die Demokratie war schon immer laut. Und das ist auch gut so.

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